Materialien 1960

Wende nach links

Der Untertitel „Vom parteikonformen Studentenverband zum Repräsentanten der Neuen Linken“ umschreibt präzis die Geschichte des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, die Willy Albrecht, Mitarbeiter des Historischen Forschungszentrums der Friedrich-Ebert- Stiftung in Bonn, aufgezeichnet hat.

Die ersten Ansätze zu einer Neugründung nach dem Zweiten Weltkrieg sind um die Jahreswende 1945/46 in Hamburg zu verzeichnen. Im September 1946 fand hier der Gründungskongress des SDS statt; Delegierte aus allen drei westlichen Besatzungszonen nahmen daran teil. Zwei gleichberechtigte Vorsitzende wurden gewählt: Alfred Hooge aus Frankfurt und Heinz-Joachim Heydorn aus Hamburg. Hooge erlangte sein Abitur auf dem zweiten Bildungsweg, war in der KPD und dann in der linkssozialistischen SAP aktiv, kam nach 1933 ins Gefängnis, wurde Soldat. In der Kriegsgefangenschaft wurde für ihn die Demokratie in den USA zum prägenden Erlebnis.

Ganz anders verlief die Biographie von Heinz-Joachim Heydorn. Er entstammte einer linksliberalen Akademikerfamilie, hatte in der NS-Zeit Gelegenheit zu Auslandsaufenthalten. Im Krieg desertierte er und wurde in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Diese unterschiedliche familiäre Herkunft ist nicht untypisch auch für spätere Funktionäre des SDS, bei denen sowohl Proletarierkinder wie Bürgersprösslinge eine führende Rolle spielten. Die Töchter blieben ziemlich im Hintergrund.

Auch im SDS erfolgte bald eine Trennung von den Kommunisten. Auf der Delegiertenkonferenz im August 1947 in Bielefeld wurden sie aus dem SDS ausgeschlossen, mit dreißig gegen zwölf Stimmen bei neun Enthaltungen; allzugroß war die Mehrheit also nicht.

Zu Nachfolgern von Heydorn und Hooge wurden Helmut Schmidt aus Hamburg und Karl Wittrock aus Frankfurt gewählt. Eine ideologische Verschiebung fand nicht statt; beide waren vom Marxismus mindestens genausoweit entfernt wie ihre Vorgänger. Heinz-Joachim Heydorn hatte einen ethischen Sozialismus propagiert, beeinflusst von der Theorie des in der Weimarer Zeit von dem Göttinger Philosophieprofessor Leonard Nelson gegründeten „Internationalen Sozialistischen Kampfbundes“ (ISK). Hinzu kamen bei Heydorn auch Einflüsse der „Bekennenden Kirche“. Beide Elemente, das ethische und das religiöse, bestimmten in den ersten Nachkriegsjahren die theoretische Diskussion auch in der SPD.

Bis zum Ende der fünfziger Jahre gab es zwischen der Spitze der SPD und dem SDS nur gelegentliche Geplänkel, aber noch keine prinzipiellen Differenzen; das galt selbst für die heißumstrittene Frage einer deutschen Wiederbewaffnung. In einer ganzen Reihe von Forderungen nahm der SDS vor allem in der Ostpolitik Positionen vorweg, welche die SPD erst in den sechziger Jahren aufzugreifen begann. Demgegenüber entwickelte der SDS damals keine wirklich neuen Initiativen auf hochschulpolitischem Feld, so dass ihm sogar eine „Flucht in die Außenpolitik“ vorgeworfen wurde.

Wie konnte es dann dazu kommen, dass aus einem im ganzen parteikonformen Studentenverband, in dem der Marxismus nur eine Randrolle spielte, ein revolutionärer Kampfbund mit den Göttern Marx, Mao und Ho-Tschi-Minh wurde?

Albrechts Buch gibt darauf keine befriedigende Antwort, weil die Geschichte des SDS nach seinem Ausschluss aus der SPD 1960 nur noch in einem Überblick geschildert wird. Doch auch so erstickt man fast in der Fülle der Personen, Briefe und Konferenzen. Das Organisationssoziologische herrscht vor; Mentalitätsgeschichte wird vernachlässigt. Die oral history, die hier und dort zu genaueren Ergebnissen hätte führen können, kommt zu kurz, auch wenn der Autor in seinem Vorwort auf „zahlreiche Gespräche mit früheren Aktivisten des SDS“ verweist. Allerdings wird der Ablauf der Trennung des SDS von der SPD recht genau dokumentiert.

Zum ersten schärferen Konflikt kam es Ende der fünfziger Jahre. Der SDS hatte sich an der zunächst auch von der SPD unterstützten Kampagne „Kampf gegen den Atomtod“ aktiv beteiligt. Als aber die SPD ihre Beteiligung zurückzog, mochte der SDS diese Wende aus verständlichen Gründen nicht mitvollziehen. Die Partei hatte eingesehen, dass ihr diese Kampagne politisch wenig einbrachte. Sie war schon auf dem Weg nach Godesberg, in dem die Spitze des SDS ein Abgleiten nach „rechts“ erblickte.

Der Anstoß für eine Trennung der SPD vom SDS ging allerdings nicht vom Parteivorstand aus, sondern von „rechten“ Hochschulgruppen des SDS. Sie gründeten im Mai 1960 einen „Sozialdemokratischen Hochschulbund“ (SHB) als Konkurrenzorganisation zum SDS. Zwei Monate später setzte sich auch der Parteivorstand der SPD offiziell vom SDS ab und stellte jede Beziehung zu ihm ein. Die Furcht vor der Konstituierung einer „Neuen Linken“ am Rande oder gar neben der SPD mag das Hauptmotiv dafür gewesen sein. Durch den Erfolg bei den Bundestagswahlen im September 1961 konnte sich die Parteiführung bestätigt fühlen. Die absolute Mehrheit der CDU ging verloren; die SPD steigerte ihren Stimmenanteil auf 36,2 Prozent. Der Weg der SPD führte 1966 zur Großen Koalition mit der CDU/CSU und zur gemeinsamen Verabschiedung der vom SDS ebenfalls erbittert bekämpften Notstandsgesetze.

Am 2. Juni 1967 wurde bei einer Protestdemonstration anlässlich des Schah-Besuches in West-Berlin Student Benno Ohnesorg von einem Polizeibeamten erschossen; ein Dreivierteljahr später kam es zum Attentat auf Rudi Dutschke, einem der Führer des SDS, der schwer verletzt wurde. Inzwischen hatte sich auch der SHB von der SPD getrennt und einen ähnlichen Weg wie der SDS eingeschlagen. SPD und linke Studenten standen sich unversöhnlich gegenüber.

Die Bildung der sozialliberalen Koalition 1969 und deren Hochschulpolitik leitete eine Änderung ein. Hatte doch der Protest gegen die hierarchische Struktur der Hochschulen im Mittelpunkt der studentischen Forderungen gestanden. Jetzt eröffnete die enorme Vermehrung von Professorenstellen wiederum Chancen für Karrieren, diesmal nicht so sehr im politischen als im akademischen Bereich.

Hatte sich der Kreis der linken Studentenbewegung damit geschlossen? Für viele einzelne Studenten gewiss, aber das Engagement der Linken war mehr als ein Protest gegen überalterte Strukturen in Hochschule und Gesellschaft. Dahinter stand der im Marxismus wurzelnde Glaube an eine neue, gerechtere Gesellschaft, ausgehend von den Metropolen der westlichen und den Ländern der Dritten Welt.

Doch der revolutionäre Impetus des SDS verflüchtigte sich schon bald. Im März 1970 löste sich der Verband aufgrund innerer Zwistigkeiten auf. War er nur eine Sekte gewesen, ein „Überbauphänomen“ wie die „Erweckungsbewegung“ im deutschen Protestantismus, nun ins Säkulare gewendet? Das eigentliche Motiv für den Rückgriff auf einen revolutionär verstandenen Marxismus muss erst noch gefunden und ein Buch darüber, mit dem SDS als ideologischem Hauptträger, geschrieben werden.

Christian Gneuss

Willy Albrecht: Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS). Vom parteikonformen Studentenverband zum Repräsentanten der Neuen Linken; Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 1994; 540 S., 48,- DM.


Die Zeit 47 vom 18. November 1994.

Überraschung

Jahr: 1960
Bereich: SPD

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