Materialien 1961

Ostermarsch

Das Kuratorium für den diesjährigen Ostermarsch hat mich gebeten, die süddeutsche Marschgrup-
pe und die übrige Versammlung hier in München zu begrüßen, und ich habe ohne Zögern zugesagt. Mit schlechtem Gewissen nur insofern, als ich mich, wie ich weiß und Sie bald gemerkt haben wer-
den, zum Versammlungsredner nicht eigne. Doch wenigstens in einem Punkte möchte ich hinter versierten Rednern nicht zurückstehen: Ich werde mit einem Goethe-Zitat beginnen, und zwar mit dem Zwiegespräch zweier selbstzufriedner Bürger in jener Szene aus dem „Faust“, die gemeinhin „Der Osterspaziergang“ genannt wird. Da sagt der eine Bürger: „Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen / Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, / Wenn hinten, weit, in der Türkei, / Die Völker aufeinanderschlagen. / Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus / Und sieht den Fluss hinab die bunten Schiffe gleiten; / Dann kehrt man abends froh nach Haus / Und segnet Fried und Friedenszeiten.“ Und der andre Bürger, dem das aus der Seele gesprochen ist, antwortet: „Herr Nachbar, ja! so lass ichs auch geschehn; / Sie mögen sich die Köpfe spalten, / Mag alles durcheinandergehn; / Doch nur zu Hause bleibs beim alten!“

Der Unterschied zwischen Osterspaziergängen, so beliebt sie noch immer sind, und den neumodi-
schen Ostermärschen in England, in Dänemark, bei uns und anderswo mag groß sein. Doch der Unterschied zwischen dem gemütlichen Köpfespalten „hinten, weit, in der Türkei“ und der Kern-
spaltung ist noch ein bisschen größer. Warum marschieren denn Sie, die das Marschieren verab-
scheuen? Warum wohl setzt sich Bertrand Russell1, der Mathematiker, Nobelpreisträger und Phi-
losoph, achtundachtzig Jahre alt, im Schneidersitz demonstrativ vors englische Verteidigungsmini-
sterium? Weil ihm und Ihnen und uns allen keine hübschere Art der „Freizeitgestaltung“ einfiele? Wir bedienen uns der Demonstration als eines demokratischen Mittels, die Regierungen und Par-
lamente an ihre Pflicht zu erinnern. Was werfen wir den Wichtigtuern und Tüchtigtuern demon-
strativ vor? Lassen wir die großen Vokabeln getrost aus dem Spiel! Reden wir nicht von „Verrat am Christentum“ und ähnlich massiven Gegenständen. Wir sind ja keine pathetische Sekte, sondern nüchterne Leute. Deshalb werfen wir ihnen zweierlei vor: Mangel an Phantasie und Mangel an ge-
sundem Menschenverstand. Ihr Mut und ihre Vorstellungen stammen aus Großmutters Hand-
körbchen. Ost und West spielen einen Dauerskat mit Zahlenreizen, als ginge es um die Achtel. Aber es geht ums Ganze!

Ich versage es mir, mich über die zwei Mangelkrankheiten zu verbreiten, woran die einen leiden und an denen alle anderen sterben könnten. Ich möchte Ihnen statt dessen vorlesen, was ein be-
rufener Mann geschrieben hat. Ein Mann mit Phantasie und gesundem Menschenverstand, der außerdem, im Gegensatz zu mir, ein Fachmann ist. Ich meine Carl Friedrich von Weizsäcker2, den in Hamburg lebenden und lehrenden Atomphysiker und Philosophen. Er schreibt im Taschenbuch „Kernexplosionen und ihre Wirkungen“, dessen Vorwort am 18. März, also vor rund vierzehn Ta-
gen, in der Zeitung „Die Welt“ abgedruckt worden ist: „Entweder wird das technische Zeitalter den Krieg abschaffen, oder der Krieg wird das technische Zeitalter abschaffen … Die Entwicklung des technischen Zeitalters ist dem Bewusstsein des Menschen davongelaufen. Wir denken und handeln von Begriffen aus, die früheren Zuständen der Menschheit angemessen waren, den heutigen aber nicht. Wir könnten uns wahrscheinlich sehr viele überflüssige Anstrengungen ersparen, wenn wir etwas mehr Zeit und Kraft darauf verwendeten, uns die Lebensbedingungen unserer Welt in aller Ruhe klarzumachen … Beim Versuch einer sorgfältigen Abschätzung bin ich zu der Vermutung ge-
kommen, dass ein Atomkrieg (mit vollem Einsatz der existierenden Waffen) vielleicht 700 Millio-
nen Menschen töten würde, darunter den größeren Teil der Bevölkerung der Großmächte, die heute als Träger dieses Kriegs allein in Betracht kommen. Er würde wahrscheinlich einige weitere hundert Millionen mit schweren Strahlen- und Erbschäden zurücklassen. Bedenkt man die wahr-
scheinliche Wirkung eines solchen Vorgangs auf die Überlebenden, so wird man wohl vermuten müssen, dass sie bereit wären, zu jedem Mittel zu greifen, das die Wiederholung einer solchen Katastrophe zu verhindern verspräche. Vermutlich unterwürfen sie sich also einer Weltdiktatur, als deren Träger dann beim Kräfteverhältnis nach der weitgehenden Zerstörung der hochindu-
strialisierten Weltmächte Amerika und Russland am ehesten China in Betracht käme. Wer das durchdenkt, wird überzeugt sein, dass dieses Unglück vermieden werden muss, soweit das über-
haupt in menschlichen Kräften steht. Er wird insbesondere erkennen, dass die Kultur und die bür-
gerliche Freiheit, die wir ja doch zu schützen wünschen, durch jenen Krieg aller Voraussicht nach zerstört werden würden! … Die Zukunft jeder einzelnen Nation wird davon abhängen, dass sich in jeder einzelnen Nation Menschen finden, die begreifen, dass Souveränität im alten Sinn heute un-
möglich ist. Zu dem Missverstehen der Weltlage scheinen mir die vielfach sich regenden Wünsche nach einer nationalen Atomrüstung zu gehören.“

So weit Carl Friedrich von Weizsäcker. Ein Fachmann. Ein Mann mit gesundem Menschenver-
stand. Und ein Mann mit Phantasie, die nicht das mindeste mit Phantasterei zu schaffen hat. Ich muss gestehen, dass mir einige seiner Sätze den Atem verschlagen haben. Nicht seine Schätzung, ein solcher Atomkrieg werde an Toten und Verseuchten etwa eine Milliarde Menschen kosten. Ähnliche Ziffern haben auch andere Fachleute genannt. Auch seine Erwartung, Amerika und Russland würden im Doppelselbstmord enden, mitsamt den Gernegroßmächten in beiden Lagern, teilen wir ja wohl seit langem. Was mir den Atem benahm, war Weizsäckers Schlussfolgerung. Mich erregte die Konsequenz. Mich überwältigte die Logik seiner Phantasie. Viele unter uns, auch ich, haben immer nur das gigantische Leichenfeld vor Augen gesehen, aber niemals den giganti-
schen Erben! China! Das immense Land! Das riesige Volk! Und dessen Regierung, die Russland immer wieder zum harten Kurs gegen Amerika auffordert!

Phantasie? Nur Phantasie? Nun, diese Phantasie eines deutschen Atomphysikers ist tausendmal realistischer als der Routinetraum deutscher Generäle, Westdeutschland, wenn nicht gar die west-
liche Welt bei Hof und Helmstedt mit taktischen Atomwaffen zu retten. Die Herren haben be-
kanntlich den Ersten und den Zweiten Weltkrieg gewonnen. Denn wo nähmen sie sonst die großen Worte her? Welches Argument könnten sie sonst für ihre dritte Siegeszuversicht ins Treffen füh-
ren? Ins Atomtreffen? Ich wüsste keines.

Trotz solcher Sorge, verstärkt durch die Besorgnis, die SPD könne eines Tages in die CDU eintre-
ten, haben wir einen neuen Grund zur Hoffnung. Denn in Washington ist, im Zusammenhang mit der unsinnigen Formel, Kriege ließen sich durch Aufrüstung verhindern, ein für Militärtheoretiker ungewöhnliches Wort gefallen: das Wort „Zufall“! Man hat zwar die alte Formel nicht zum alten Eisen geworfen. Man hat aber verlautbart, dass sie per Zufall ungültig werden könne, und je größer der „Atomclub“ werde, um so größer werde die tödliche Gefahr des Zufalls. Den Gegnern der Atomrüstung hat man damit nichts Neues erzählt. Wir haben schon immer gemeint, ein Pilot oder wer immer brauche nicht nur deswegen wahnsinnig zu werden, weil er am Abwurf einer Atom-
bombe schuld ist, sondern auch, weil er die Macht hätte, sie abzuwerfen, jedoch nicht die Erlaubnis hierfür, und dass er gerade deshalb auf den Zauberknopf drücken werde.

Vor ein paar Tagen, am 28. März, hat sich die Frankfurter Allgemeine Zeitung im Leitartikel ihres Militärsachverständigen zum Thema geäußert. Herr Weinstein3 schreibt: „Offiziell setzt sich Wa-
shington weiter für die Abschreckungstheorie ein; aber es ist auch bekannt, dass namhafte Mili-
tärtheoretiker die These vertreten, mit der Abschreckung allein ließe sich ein Krieg keineswegs mehr verhindern.“ Dann kommt er auf Henry Kissinger4, einen wichtigen Berater des Präsidenten, zu sprechen, und damit auf „eine Regierung, die nicht felsenfest davon überzeugt ist, dass das Gleichgewicht des gegenseitigen Terrors den Schrecken für alle verhindern kann … Die Gefahren sehen Kissinger und die ihm verwandten Geister“ – damit wird natürlich nicht zuletzt auf Kenne-
dy5 angespielt – „in der Möglichkeit, dass ein großer Krieg durch Zufall ausbräche.“

Wenn eine der zwei Atom-Großmächte im Hinblick aufs jüngste Gericht der Technik das Wort von der zunehmenden Möglichkeit des puren „Zufalls“ öffentlich gebraucht, so kann sie dieses Wort nie wieder zurücknehmen. Vor ihrer Nation nicht. Vor keiner Nation, und nicht vor der Geschichte. Man muss in Washington wissen, was man, vernünftigerweise, angerichtet hat, und ich glaube, man wird wissen, dass man in Moskau neuerdings nicht anders, sondern genau so denkt. Sollten sich, vom Worte „Zufall“ angeregt, die beiden Zauberlehrlinge ehrlich auf den Spruch besinnen, der allein aus dem Teufelskreis herausführen kann? Sollten sie, wie der deutsche Atomphysiker in Hamburg, an die Zeit nach der Katastrophe denken? Zum Beispiel an die chinesische Erbschaft? Sollten sie rechtzeitig den gesunden Menschenverstand, die Phantasie und den Mut aufbringen, zu den Atombomben und deren Generalvertretern zu sagen: „Besen! Besen! / Seids gewesen!“?6

Das ist ein kleiner Lichtblick, aber noch kein Anlass zu einem feierlichen Dankgebet, zu einem bundesdeutschen Dankgebet schon gar nicht. Unsere Heerführer und deren Wortführer marschie-
ren, wie Kinder nun einmal sind, munter Trompete blasend an der Tête der amerikanischen Wachtparade immer geradeaus. Sie merken in ihrem Feuereifer, in ihrem Atomfeuereifer, gar nicht, dass die Wachtparade um die Ecke biegen will. Dass sie womöglich schon um die Ecke ge-
bogen ist. Werden sich die Kinder umdrehen? Und werden sie sich dann – umschauen?

Es ist ein kleiner Lichtblick, mehr nicht. Immerhin, das Wort Zufall ist nicht zurückzunehmen. Es steht in Feuerschrift an der Wand7, unauslöschbar, ein mächtiges Hilfszeitwort für unsere Sache. Unser friedlicher Streit für den Frieden geht weiter. Im Namen des gesunden Menschenverstands und der menschlichen Phantasie. Resignation ist kein Gesichtspunkt!

Ansprache Erich Kästners auf dem Königsplatz in München.


Erich Kästner, Splitter und Balken. Publizistik. Werke Bd. 6, Frankfurt am Main/Wien 1999, 662 ff.

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1 Der britische Mathematiker und Philosoph Bertrand Russell (1872-1970) trat nach dem Zweiten Weltkrieg öffentlich gegen die atomare Rüstung auf.

2 Physiker und Philosoph (geboren 1912).

3 Adelbert Weinstein, geb. 1916, von 1949 bis 1983 Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und deren militär-
politischer Korrespondent.

4 Der spätere (1973-1977) amerikanische Außenminister (geboren 1923) lehrte seit 1952 an der Harvard University Po-
litikwissenschaft und diente als Berater verschiedenen amerikanischen Präsidenten.

5 Der amerikanische Präsident (seit 1961) John Fitzgerald Kennedy (1917-1963).

6 Zitat aus der letzten Strophe von Johann Wolfgang Goethes Ballade „Der Zauberlehrling“.

7 Anspielung auf die Ballade „Belsazar“ von Heinrich Heine, in der es heißt: „Und sieh! und sieh! an weißer Wand / da kam’s hervor, wie Menschenhand / Und schrieb, und schrieb an weißer Wand / Buchstaben von Feuer und schrieb und verschwand“.

Überraschung

Jahr: 1961
Bereich: Frieden/Abrüstung