Materialien 1961
Ein Sherpa der Bürgerrechte
Nachruf auf Gerd Hirschauer (1928 – 2007)
von Carl Wilhelm Macke
I. Versteckt am Rand einer mit großen Todesanzeigen übersäten Seite der „Süddeutschen Zeitung“ konnte man Anfang Januar dieses Jahres eine bescheidene Trauernotiz lesen. Dort erinnerten mit wenigen Worten Freunde und Wegbegleiter an einen Publizisten, der „ein Verteidiger der Bürgerrechte in Wort und Schrift“ gewesen sei. „Auf ihn und seinen Rat war immer Verlass“.
II. Sucht man im Internet nach Eintragungen unter dem Namen ‚Gerd Hirschauer’, findet man nur spärliche Hinweise auf eine Veröffentlichung. Ganz oben in der „Google-Liste“ steht lediglich ein Titel von ihm: „Da ich ein gelernter Heimatloser bin – Über Jean Amery“, veröffentlicht in einer kleinen, kaum bekannten Kulturzeitschrift. Ein Heimatloser, der sich immer am Rande der allgemeinen Aufmerksamkeit bewegt hat. Gerd Hirschauer schrieb über Amery ein Selbstporträt.
III. Er war ein Nachtarbeiter. Jahrzehntelang begann er am Abend mit seinen redaktionellen Arbeiten an kleinen Zeitschriften, die vom Rande her das Zeitgeschehen der Bundesrepublik Deutschland kommentiert haben. Am frühen Morgen hatte er dann seine redaktionelle Brotarbeit beendet. Da fing für andere, mit dem Zeitgeist konformere, mit einem festen Arbeitsvertrag abgesicherte Journalisten, die Routine der täglichen Chronistenpflicht gerade an. Zu seinen Zeiten schrieb man noch ohne Computer. Klebte Artikel zusammen. Benutzte Durchschlagpapier. Schrieb Briefe. Hatte einen regen Postverkehr. Legte Aktenordner an. Im vergangenen Jahrhundert. Vor wenigen Jahrzehnten. Journalisten als allseits gebildete Facharbeiter auf den Wörterbaustellen. Gerd Hirschauer war einer von ihnen. Aber er war auch ein Sherpa, der andere, bekanntere oder sich nur bekannter fühlende Autoren in die Scheinwerfer der allgemeinen Aufmerksamkeit führte. Er selber blieb immer am Rande. In der Nacht ist das Funzellicht der Aufklärung besonders wichtig.
IV. Wir bleiben am Rand. Über Gerd Hirschauer kann man nur schreiben, wenn einem der ‚Mainstream’, das Zentrum gesellschaftlicher Eitelkeiten und Karrieren wenig bedeutet. Man muss bereit sein, Seitenstraßen, abseitige Feldwege vielleicht auch Sackgassen zu erkunden. Zum Beispiel zur Geschichte des deutschen Linkskatholizismus. Bevor Gerd Hirschauer jahrelang, nächtelang eine so dezidiert anti-klerikale Zeitschrift wie die vorgänge betreute, war er ja ein publizistischer Pfadfinder in der zerklüfteten Welt des Katholizismus jenseits von CDU/ CSU und der „Herrenkirche“ (Ernst Bloch ). Die Geschichte der werkhefte geht zurück bis in die Endzeit der Weimarer Republik. 1931/32 sind in Frankfurt zum ersten Mal die „werkhefte junger Katholiken“ erschienen. An deren „demokratisch-pazifistische“ Ausrichtung knüpfen auch die nach Kriegs- und Faschismusende in Frankfurt (wieder-)gegründeten „werkhefte der Arbeitsgemeinschaft katholischer Laienwerke“ an. Man beschäftigte sich vornehmlich mit der eigenen Rolle innerhalb der Katholischen Kirche. Jede Diskussion zum Verhältnis von katholischen Laien und der kirchlichen Hierarchie führte aber fast zwangsläufig auch zu einer Ausweitung des Themenfeldes. Zunehmend kritischer wurde das Verhältnis der Mehrheit der Herausgeber der werkhefte zu den Parteien, die sich schon mit ihrer Namensgebung als christlich verstanden. Trotzdem oder gerade deshalb siedelte sich die Redaktion des kleinen Blattes schon Anfang der fünfziger Jahre ausgerechnet in München, in der Höhle des schwarzen CSU-Löwen, an. Bis zur letzten Ausgabe der werkhefte Mitte der sechziger Jahre, blieb der redaktionelle Sitz dann in München. Seien wir genauer: die Redaktion befand sich in der Privatwohnung von Gerd Hirschauer. Tagsüber nicht erreichbar. Am besten um mitternächtliche Zeit herum.
„Den Anspruch der CDU/CSU, die Partei der Christen zu sein, lehnen wir ab. Wir wenden uns gegen alle Verlautbarungen und praktischen Verhaltensweisen kirchenamtlicher Stellen und kirchlicher Organisationen, die versteckt oder offen diesen Anspruch der CDU/CSU anerkennen.“ In den folgenden zwei Jahrzehnten der Existenz der werkhefte bildet diese Position so etwas wie ein Basso continuo aller veröffentlichten Beiträge, auch und vor allem der mit GH gezeichneten Texte. Der „CDU-Staat“ in allen seinen Phänomenen blieb für viele Jahre das beherrschende Thema der werkhefte. Diese Distanz zur CDU/CSU blieb aber auch das einzige verbindende „Glaubensbekenntnis“ der die werkhefte tragenden Herausgeber. Schon in der Positionsbestimmung gegenüber der katholischen Kirche war die Übereinstimmung nicht mehr so eindeutig. Die Einschätzung der Bedeutung des II. Vatikanischen Konzils nahm in den sechziger Jahren einen großen Raum innerhalb der monatlich erscheinenden werkhefte ein. Wieweit konnte oder sollte man die jetzt aufscheinenden Reformen innerhalb der Katholischen Kirche unterstützen? Begleitet wurde diese ununterbrochene Selbstverständigung durch Erinnerungen an die zweifelhafte Rolle vieler katholischer Würdenträger im Nationalsozialismus. Und man erinnerte an vollkommen vergessene anti-nazistische Vorbilder wie z.B. an den streng mariengläubigen österreichischen Widerständler Franz Jägerstetter. Mit großer Kontinuität wurde auch die politische wie juristische Aufarbeitung des Nationalsozialismus in der Bonner Republik verfolgt. Fritz Bauer, schon wegen seiner jüdischen Herkunft jeder Nähe zum Katholizismus unverdächtig, schrieb mehrere Beiträge in den werkheften. Allein für diese schonungslose Konfrontation des deutschen Bürgertums – ob katholisch oder nicht – mit seiner peinlichen, schandvollen Rolle im NS-Staat, hätte Gerd Hirschauer eine Verdienstmedaille verdient gehabt. Aber konnte man sich einen so nüchternen und lakonischen Menschen wie ihn ernsthaft als einen Ordens- oder Medaillenträger vorstellen….? Auch der bayerische Pompkatholizismus einschließlich des barockkorrupten Politikstils der CSU- Hofschranzen war ihm grundzuwider. In den Erscheinungsformen wie – da natürlich ganz besonders – in seinen Inhalten. Nur wenige gab es in der alten Bonner Republik, die so genau, so sensibel, so schneidend ironischden Intrigantenstadl im Umkreis der Bayerischen Staatskanzlei und die verlogenen Salons der Macht am Rhein sezieren konnte wie Gerd Hirschauer.
Wie in anderen vergleichbaren Zeitschriften jener Zeit auch, wurde in den werkheften dem „christlich-marxistischen Dialog“ ein breiter Raum eingeräumt. Nicht um die Marxisten zu entlarven oder zu bekehren, sondern um mit ihnen über die Existenzfragen des menschlichen Lebens zu diskutieren. Zu der „68er Studentenbewegung“ und der dort weit verbreiteten Ambivalenz gegenüber der Gewalt als Mittel politischer Auseinandersetzung gab es große und immer größer werdende Vorbehalte. „Es ist verständlich, dass die Trägergruppe der werkhefte (überwiegend der so genannten Kriegsgeneration entstammend) heute von den jahrzehntelangen politischen, geistigen und geistlichen Kämpfen etwas ermattet ist, teils physisch, teils psychisch. In einem langen und entbehrungsreichen Prozess der Diktatur der katholischen Orthodoxie entronnen, ist sie zwar nicht mehr gewillt, sich unter das Joch einer neuen, sich ‚links’ und ‚marxistisch’ nennenden Orthodoxie zu begeben; aber sie verfügt auch nicht mehr über die nötige Spannkraft, um von sich aus die erforderliche Alternative zu einer sich abzeichnenden säkularisierten Orthodoxie der so genannten Neuen Linken zu entwickeln … Was hier und heute noch zu tun ist, das ist ein neues Kapitel.“ Verbittert über dieses Zerwürfnis zwischen den alten und den neuen Linken war Hirschauer nicht. Vielleicht aber resigniert, dass es ihm nicht gelang, was sein geschätzter Jean Amery als eine Pflicht der „alten Linken“ empfand: „Die im Gebirg verstiegenen Kletterer der ‚Neuen Linken’ zu bergen“. Zerstritten und „ermattet“ löste sich der Kreis um die werkhefte irgendwann in den späten siebziger Jahren auf.
V. Tradition müsse, so hat es der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges einmal gesagt, nicht Nachahmung von etwas sein, sondern sie müsse vor allem Fortsetzung und Verzweigung sein. Die werkhefte wurzelten in der in Deutschland immer minoritären Tradition eines pazifistischen, weltoffenen, in gewisser Weise antiautoritären Katholizismus. Sie haben damit – wie natürlich auch die bedeutenderen „Frankfurter Hefte“ um Walter Dirks – gezeigt, dass Katholizismus nicht identisch ist mit Klerikalismus, schon gar nicht mit einer Option für christlich etikettierte Parteien. Gerd Hirschauer fand seine „Verzweigung“ im Umfeld der „Humanistischen Union“ und ihrer Zeitschrift vorgänge. Damit waren alle engen Beziehungen zum Katholizismus, auch in seinen linken Varianten, aufgegeben. In der Verteidigung der Bürger- und Menschenrechte, in der Fortsetzung der Kritik an allen Formen der politischen Restauration in Deutschland gab es aber zwischen werkheften und vorgänge keinen Bruch. Und Gerd Hirschauer blieb so dort, wo er sich immer am besten ausgekannt hat: am Rande der Massen, jenseits der großen konservativen wie sozialdemokratischen Parteiapparate, im Schatten der politischen Macht. Dort, wo die Bürger- und Menschenrechte nicht am Sonntag gepredigt wurden, um sie dann am Montag in den Niederungen der Realpolitik mit einem Gesetz nach dem anderen bis zur Unkenntlichkeit zu verwässern.
VI. In den letzten Jahren sah man Gerd Hirschauer immer anlässlich von Konzerten der zeitgenössischen Musik. Konzerte, die im Münchner Musikleben nur eine Randexistenz führen. Wo anders hätte man denn diesen „gelernten Heimatlosen“ sonst vermuten sollen …? Die deutsche Nachkriegdemokratie verdankt diesen Heimatlosen und Sherpas im Kampf um den Erhalt der Bürgerrechte viel.
vorgänge 1/2007, 134 ff.