Materialien 1961
Aufpassen auf den Bayerischen Rundfunk!
Das Sonderprogramm des Bayerischen Rundfunks und sein verdienstvoller Leiter, Dr. Gerhard Szczesny, haben sich den Groll des Intendanten Wallenreiter zugezogen. Der Fall Kolakowski wur-
de zum Präzedenzfall hochgespielt. Ein polemisches Feuilleton von Hermann Kesten, das ohne jede Bedenken gedruckt werden konnte, wurde wegen einer ausgeführten Metapher vom Schrift-
steller-Gott als Blasphemie gerügt. Sendungen von Autoren wie Robert Neumann und Ludwig Marcuse werden in Frage gestellt. – Es gibt eine gute Tradition im deutschen Nachkriegsrundfunk, wonach jeder Sender ein Sonderprogramm für intellektuell aufgeschlossene Minoritäten aus-
strahlt, heiße es nun Drittes Programm oder Nachtstudio oder wie auch immer – ein Programm, in dem die entsetzliche Nivellierung nach unten verhütet werden konnte durch die Übereinkunft: hier gelten Durchschnittsgeschmack und Durchschnittsgefühle des Durchschnittshörers nicht als ver-
bindliche Maßstäbe. Gerade dadurch behalten diese Programme auch dann noch ihren Sinn, wenn die Hörermassen vom Rundfunk zum Fernsehen abgewandert sein werden. Wer dem Funk eine seiner letzten noch unerschütterten Stützen nehmen will, der braucht nur an diesen Sonderpro-
grammen zu rütteln.
Der stämmige Mann mit dem unverfälschten ostbayrischen Timbre in der Kehle, der da auf dem Bildschirm erscheint, wäre eine prachtvolle Besetzung für den Heirats- und Kälberschmuser des Ludwig Thoma. Leider darf er sich nicht ausspielen, denn er ist in dieser Sendung kulturell tätig und interviewt voll stolpernder Ehrfurcht den Dichter Richard Billinger.
Auch die Kamera ist ehrfürchtig: liebendlang verweilt sie auf dem blanken Metzgertisch in der Laube der Dichtervilla, auf dem die Werke der Muse entstehen.
Später findet ein Fest bei dem Zementkönig des Innviertels statt; Billinger liest vor, und ehrfürch-
tig wandelt die Kamera über die Antlitze lokaler Prominenz.
„Wo in deutschen Landen“, so fragt der Kommentator, „wird heute noch ein Dichter durch ein Fest geehrt, wenn er ein Werk vollendet hat?“ Ja, wo in der Tat!
Später geht’s Billinger vollends an den (immer offenen) Kragen: Er muss auf einem harten Stuhl im Kramladen der Frau Bas zu Hartkirchen sitzen und lauschen, während die Base mit gequetsch-
ter Knödelstimme erzählt, wie gern er, der Herr Dichtervetter, da immer sitze und den Leuten aufs rauhnächtige Maul schaue.
All dies dauert eine halbe Stunde und ereignet sich im Zweiten Programm des Fernsehens.
Die Münchner Kritik hat dieses Porträt mit dem taktvollen Schweigen übergangen, das man ver-
gesslichen alten Herren entgegenbringt, wenn sie ihre Kleider nicht genügend ordnen.
Dieser Takt aber war falsch. Das Dichterporträt wird von den Verantwortlichen nicht als Ausrut-
scher, sondern als Großtat empfunden und als kulturpolitische Visitenkarte. Weitere Großtaten werden folgen: Porträts von Carl Orff, Heinrich Waggerl und anderen.
Eine kulturpolitische Hypotenuse zeichnet sich da ab; und wenn man einen Grenzpunkt dazu nimmt, dann hat man das Terrain des neuen Regimes vor sich. Dieser Grenzpunkt ist die Affäre Kolakowski. Darüber wird später noch zu reden sein; bleiben wir zunächst beim Zweiten Pro-
gramm des Bayerischen Fernsehens.
Dieses Zweite Programm war von Anfang an zum Herold des Kommenden ausersehen. Als nach dem milden Regime Scholz und dem Fair Deal von Dr. Stadlmayer der neue Intendant Wallenrei-
ter seine Herrschaft antrat, war mit dem Hörfunk und dem Ersten Fernsehprogramm nicht sehr viel zu machen. Die Dinge hatten sich zu gut angespielt. Immerhin wurde dem etwas unbequemen Dr. Clemens Münster der gewandte Dr. Oeller vor die Nase gesetzt – eine bittere Pille für Münster, der sich den jungen Mann mit dem Dissertationsthema „Schläft ein Lied in allen Dingen“ seinerzeit aus Würzburg geholt hatte. Münster und der kommende Direktor des Zweiten Programms waren dadurch nicht nur symbolisch, sondern auch taktisch auf die gleiche Stufe gestellt; und als neuen Mann, als Direktor dieses Zweiten Programms, holte sich Wallenreiter seinen eigenen Kandidaten: Dr. Benno Hubensteiner.
Man hat seinerzeit viel herumgerätselt, wer Hubensteiner „gemacht“ hat, und vor allem die SPD hat viel Pulver verschossen in dem Bemühen, nachzuweisen, dass er ein „Klerikaler“ sei. Allen In-
dizien nach ist er es nicht. Es besteht vielmehr Grund zu der Annahme, dass er vom Intendanten persönlich gegen einen anderen, unbekannt gebliebenen Kandidaten der Kirche durchgesetzt wurde.
Hubensteiners Stärken und Schwachen fügen sich genauestens in die kulturpolitischen Vorstellun-
gen Wallenreiters ein. Und Wallenreiter ist nicht nur gewillt, sondern auch imstande, seine Ideolo-
gie durchzusitzen – zunächst gegen die Widerstände im eigenen Hause.
Wie sehen diese Widerstände im eigenen Hause aus?
Welche Konstellation hat Wallenreiter vorgefunden?
Der „Fall Kolakowski“ hat in der Öffentlichkeit den Anschein erweckt, als bestehe im Haus an der Münchner Hopfenstraße eine starke linke Fronde, die der Intendant nun brechen will. Aber die Wahrheit ist komplizierter. Die „Linke“ als organisierte Kraft hat vielleicht einmal in der Ära nach 1945 eine Rolle gespielt. Heute ist sie längst zersplittert und geschwächt. Die paar „Roten“, über die der Bayerische Rundfunk noch verfügt, hüten entweder ihr Lichtlein unter garantiert dickem Scheffel, oder sie haben sich in Naturschutzparks zurückgezogen. Im Sonderprogramm und an einigen anderen Stellen üben sie sich in der schon unter Adolf Hitler bewährten Kunst, sich so gewählt auszudrücken, dass man sie nicht als gefährlich empfindet. Alles deutet darauf hin, dass Wallenreiters Angriff zwar zunächst die letzten Reste der „Linken“ treffen wird, aber im Endeffekt gegen die einzige Ideologie gerichtet ist, die sich in seinem Hause wahrer und verbreiteter Sympa-
thie erfreut: gegen die alteuropäisch-konservative, die „Donau-Ideologie“.
Als Manifest dieser Ideologie darf jene „Liebeserklärung an Wien“ betrachtet werden, die seinerzeit Walter von Cube, der Programmdirektor des Hörfunks, verfaßt hat. Cube ist seitdem verstummt; aber in entscheidenden Jahren hat er es verstanden, diese Ideologie im Hause populär zu machen. Ihre mehr oder weniger eifrigen Anhänger, finden sich in allen kulturellen Abteilungen und rei-
chen tief in so handfeste Ressorts wie den Wirtschaftsfunk hinein.
Ihr Profil ist nicht leicht nachzuzeichnen: Desinteresse an Berlin und der Wiedervereinigung (ein Desinteresse, das seinerzeit von Walter von Cube ebenfalls offen ausgesprochen wurde, was ihm viele Attacken von der falschen Seite eingetragen hat); eine fast physische Ablehnung des Marxis-
mus, verbunden mit zumindest theoretischem Interesse an Ostproblemen, das keinen virulenten Antikommunismus erlaubt; starke mittelmeerische Tendenzen und ein konservativer Sinn für Fairness. Aber diese Ära geht zu Ende. Was sich jetzt im Halbdunkel der internen Hauspolitik ab-
spielt, ist die alte Schlacht zwischen der Hofburg und Linz, zwischen den „Alpentrotteln“, wie Jo-
seph Roth sie nannte, und dem alteuropäisch-konservativen Süddeutschen – aber auch zwischen München und der ewig misstrauischen bayrischen Provinz (die es natürlich auch in München gibt).
Die Fronten in dieser Auseinandersetzung sind noch keineswegs klar. Dr. Hubensteiner zum Bei-
spiel passt genauso gut in die eine Ära wie in die andere; und es ist mehr als fraglich, ob sowohl der Intendant wie seine Gegenspieler die eigentliche Frontstellung erfasst haben. Das ändert nichts an den Tatsachen, und nichts am Dynamismus der Entwicklung.
Damit kommen wir zum sichtbarsten Testfall: dem Fall Kolakowski.
Die Fakten sind bekannt: Auf Intervention des kirchlichen Beauftragten im Rundfunkrat wurde ein Essay des Warschauer Philosophen Kolakowski über den polnischen Katholizismus vom Intendan-
ten persönlich abgesetzt.
Das Vorgehen des kirchlichen Beauftragten soll hier nicht entschuldigt werden. Er hat nicht begrif-
fen, dass es Kolakowski letzten Endes um einen Dialog mit dem Katholizismus geht – einen Dialog, den auszuschlagen eher ein Zeichen der Schwäche als der Standfestigkeit ist.
Aufpassen auf den Bayerischen Rundfunk!
Wichtiger für die Zukunft des Bayerischen Rundfunks ist das Verhalten des Intendanten. Er hat keinem „kirchlichen Druck nachgegeben“; er hat vielmehr mit beträchtlichem taktischem Geschick den Fall Kolakowski hochgespielt, um eine neue Politik der „geschlossenen Tür“ einzuleiten.
Bedeutsame Umschichtungen in der politischen Abteilung waren vorausgegangen oder finden statt; die Gleichschaltung ist im Gange. Die Fäden zur alten Süddeutschen Zeitung sind abgerissen oder so dünngewetzt, dass sie demnächst reißen werden. Immer häufiger ist Herr Zoeller als Kom-
mentator zum Tage zu hören, der gleiche Zoeller, der in der Öffentlichkeit eines Taschenbuches den Intellektualismus als moderne Irrlehre gebrandmarkt hat. Immer hilfreicher für den hoff-
nungsvollen Bewerber werden gute Querverbindungen zur Gruppe Strauß – und nun hat auch der Angriff auf die letzten Bastionen, der Angriff auf die kulturelle Meinungsfreiheit, eingesetzt.
Es hat kaum einen Sinn, sich hier für die Meinungsfreiheit stark zu machen. Sie ist eine Zierde der gesellschaftlichen Freiheit, und für diese hat man in der neuen Ära kein Organ. Betrachten wir möglichst kühl die Symptome: Der Warschauer Kolakowski ist ein hundertprozentiger Europäer, einer der wenigen, die sich darum bemühen, das alte europäische Erbe weiterzuführen, das näm-
lich darin besteht, scheinbar unüberwindliche Gegensätze zu transzendieren.
Kolakowski wurde für das Sonderprogramm von einem Redakteur entdeckt, der ein sudetendeut-
scher „Linkskatholik“ ist. Und im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stand Dr. Szczesny, ein atheistischer Moralist, der bezeichnenderweise gerade mit dem katholischen Historiker Friedrich Heer sich lange und gründlich auseinandergesetzt hat. Das Münchner Sonderprogramm hat seine weltfremden Seiten; aber was den speziellen Fall Kolakowski betrifft, hat es dringende und bren-
nende europäische Anliegen wahrgenommen.
Das summarische Eingreifen der SPD hat diese entscheidenden Fakten etwas in den Hintergrund treten lassen und den Fall ins parteipolitische Geraufe überführt. Das war bedauerlich, aber wohl vom Intendanten einkalkuliert. Es gestattet ihm, im Rundfunkrat die gusseisernen Mehrheiten hinter sich zu bringen, die parteipolitisches Engagement jeweils zur Folge zu haben pflegt.
Lassen wir einmal die leidige Politik beiseite – wie wird das „kulturelle Profil“ des Bayerischen Rundfunks in Zukunft aussehen?
Andeutungen sind genug vorhanden. Nicht nur Billinger und Heinrich Waggerl sind da symptoma-
tisch, es wird noch besser kommen. Mit missionarischem Eifer besteht der Intendant darauf, dass noch ungehobene Schätze im Boden des bayrischen Volkstums schlummern. Vielleicht werden wir’s demnächst im Fernsehen vernehmen: „Mit aufgehebte Händ bitt i di, Bua – geh net naus ins Holz!“ Bauernstuben im Bayrischen Nationalmuseum sind bereits als Kulissen vorgemerkt (das ist eine Tatsache, kein Witz). Die Alpenfestung wird sich eingraben – etwa von Deggendorf über Moosburg und Ebersberg bis zum Wendelstein, in die Tiefe reichend mit Stützpunkten bis nach Linz und ins hendlbraterische Wien.
Proteste der Öffentlichkeit? Die „Massen“ werden nicht protestieren. Abwanderung qualifizierter Autoren? Das würde nur begrüßt werden, die Heimatdichter von Zwiesel bis Kempten warten da-
rauf, nachrücken zu können. Homerisches Gelächter? Hier läge vielleicht eine Chance. Aber man soll sie nicht überschätzen: auch über Hitler und Mussolini wurde gelacht.
Das Gelächter muss ergänzt werden durch ständige Beobachtung. Es genügt nicht, die Tagespresse und den SPIEGEL zu verfolgen – dort zeigen sich nur die Bewegungen der Oberfläche. Es genügt nicht, gelegentlich ins Programm hineinzuhören oder hineinzusehen, denn die Verschiebungen spielen sich langsam, fast unmerklich ab. Die ersten linken Kommentatoren sind ja schon vor Jahren ausgeschieden; und auch in Zukunft werden sich noch einige Hechte tummeln können – vorausgesetzt, dass sie die dickerwerdenden Karpfen nicht belästigen. Nach wie vor wird Bubi Kühn, der Hausastronom, andeuten können, dass er gegen den Atomkrieg ist. Nach wie vor wird man einige tapfere Hörspiele bringen können. Nach wie vor wird Hans Werner Richter über östli-
che Reiseimpressionen reden können, und einem geübten Großlieferanten wie Christian Amery wird es wohl weiterhin gelingen, ein paar Gran Wahrheit in seinen Feature-Salaten unterzubrin-
gen. Und wenn all das verstummen sollte: Roider-Jackls Schnadahüpfel im Weißblauen Karussell werden sich ab und zu gegen Strauß richten, und Jazz – Jazz wird wohl immer gespielt werden. Schon deshalb, weil die Jazzfans die gefährlichste Bande der Weit sind: Nicht einmal Ulbricht wird mit ihnen fertig. Ob das genügt?
Klemens Krüger
Die Zeit 46 vom 10. November 1961.