Materialien 1961

Betr.: „Humanistische Union”

München, den 19. Juli 1961

Dr. Gerhard Szczesny
München 9
Vollmarstraße 10

Betr.: „Humanistische Union“

Auf meinen Vorschlag, eine „Humanistische Union“ zu gründen, der am 6. Juni an etwa 200 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens verschickt und ganz oder auszugsweise in einigen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht worden ist, sind bis zum heutigen Tage 86 zustimmende Erklärungen eingegangen. Ihre Mitwirkung haben u.a. zugesagt: Alfred Andersch, Stefan Andres, Prof. Franz Babinger, Prof. Max Bense, Dr. Otto Bickel, Dr. Rudolf Bode, Karl Friedrich Borée, Dr. h.c. Kasimir Edschmid, Axel Eggebrecht, Dr. Wolfgang von Einsiedel, Erwin Fischer, Prof. Ossip Flechtheim, Prof. Erich Franzen, Dr. Günther Herzberg, Gerd Hirschauer, Dr. Erich Kaestner, Hermann Kesten, Prof. René König, Horst Krüger, Joachim G. Leithäuser, Siegfried Lenz, Dr. Rudolf Walter Leonhardt, Prof. Georg Madelung, Prof. Gustav Mensching, Prof. Alexander Mitscherlich, Paul Graf Montgelas, Burghard Nadolny, Robert Neumann, Prof. Hermann Oberth, Prof. Helmuth Plessner, Franz Reinholz, Prof. Franz Roh, Dr. Franz Schonauer, Dr. Herbert Stachowiak, Prof. Hermann Wein, Curd Winderstein.

Mit einigen der genannten Persönlichkeiten hat inzwischen auch eine mündliche Aussprache stattgefunden. Das bisherige Ergebnis der Aktion lässt sich in folgenden Punkten zusammenfassen: Die Gründung der „Humanistischen Union" wird im August oder September in München erfolgen. Nach dem Gründungsverfahren geht allen Personen, deren Adressen bis dahin bei mir vorliegen, ein Exemplar der Satzung, eine Beitrittserklärung und ein Schreiben zu, das weitere Einzelheiten über den Aufbau und das Programm des Verbandes enthält. Sobald die „Humanistische Union“ über ausreichende finanzielle Mittel verfügt, wird sie ihre Tätigkeit mit der Konstituierung eines kulturwissenschaftlichen und eines juristischen Arbeitskreises, der Einrichtung eines Dokumentations-Zentrums und der Herausgabe eines Informationsdienstes beginnen. Es ist sodann vorgesehen, innerhalb dar „Humanistischen Union“ eine eigene Studenten- und Jugend-Organisation ins Leben zu rufen. Im Laufe der Wintermonate wird sich die „Humanistische Union“ in allen größeren Städten der Bundesrepublik mit Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen zum Thoma „Demokratie oder Weltanschauungs-Staat?“ vorstellen.

Da ich nicht in der Lage bin, alle Zuschriften einzeln zu beantworten, möchte ich versuchen, zu den wichtigsten der in den Briefen immer wieder auftauchenden Fragen an dieser Stelle etwas zu sagen. Es werden gegen die Bezeichnung „Humanistische Union“ Bedenken geäußert. — Vielleicht gäbe es einen besseren Namen. Bisher sind diskutable Gegenvorschläge nicht gemacht worden. Sollten sie auch bis zum Gründungstermin nicht vorliegen, werden die Kritiker sich mit der Bezeichnung „Humanistische Union“, die mir gar so übel nicht scheint, befreunden müssen.

Es besteht Unklarheit über den Kreis, der sich in der „Humanistischen Union“ zusammenfinden soll. — Ich habe meinen Vorschlag aus naheliegenden Gründen zunächst einer begrenzten Zahl von Personen unterbreitet, die im öffentlichen Leben der Bundesrepublik eine Rolle spielen. Es ist aber keineswegs daran gedacht, die „Humanistische Union“ auf einen solchen Personenkreis zu beschränken. Sie soll vielmehr eine Organisation sein, von der wir hoffen, dass sie eine sehr große Zahl von Menschen aller Schichten zusammenführt. Nur eine Vereinigung, die mit zu-Buch-schlagenden Mitgliederziffern aufwarten kann, wird imstande sein, die Aufgaben, von denen in meinem ersten Brief die Rede ist, erfolgversprechend in Angriff zu nehmen.

Es taucht die Frage auf, ob sich die „Humanistische Union“ nicht zu einer neuen Partei auswachsen wird. — Sie wird es nicht. Die Basis ihrer Existenz und ihres Wirkens ist ein unmissverständliches Ja zu den Grundprinzipien der Demokratie und ein unmissverständliches Nein zu allen totalitären und autoritären Ideen und Praktiken. Eine Stellungnahme zu speziellen politischen Problemen kann nur dann Sache der „Humanistischen Union“ sein, wenn jene Grundprinzipien bezweifelt oder verletzt werden. Die „Humanistische Union“ wird auch die CDU/CSU nicht etwa deshalb bekämpfen, weil diese Partei eine konservativere Vorstellung von der bestmöglichen Verwaltung einer Gesellschaft hat als andere deutsche Parteien; sie wird die CDU/CSU bekämpfen, weil sie uns die „Christlichkeit“ aufzuerlegen versucht, als handle es sich um die allgemeine Wehrpflicht oder die Straßenverkehrsordnung.

Es wird befürchtet, dass die „Humanistische Union“ sich zu einer (rationalistischen, existenzialistischen, atheistischen usw. usw.) Weltanschauungsgemeinschaft entwickeln könnte. - Wenn diese Gefahr bestünde, würde sie sich auflösen, bevor sie gegründet wäre. Der Humanismus der „Humanistischen Union“ besteht in der Überzeugung, dass es für ein und dieselben humanitären Wertsetzungen sehr verschiedene religiöse und weltanschauliche Bogründungen gibt und in einer demokratischen Gesellschaft beide Sphären des Schutzes und der Pflege bedürfen. Jene Christen also, die in der Festigung der uns verbindenden Lebens und in der Entfaltung der uns trennenden Glaubens-Vorstellungen die Voraussetzung auch ihrer Gewissensfreiheit sehen, werden in der „Humanistischen Union“ genau so ihren rechtmäßigen Platz finden wie die gleichgesinnten Bekenner eines freireligiösen oder agnostischen Standpunktes.

Abschließend möchte ich an diejenigen, die auf meinen Vorschlag noch nicht reagiert haben, die Bitte richten, mir ein Wort der Zustimmung oder auch der Kritik zukommen zu lassen. Exemplare meines Briefes vom 6. Juni stehen leider nicht mehr zur Verfügung. Interessenten darf ich darauf hinweisen, dass mein Aufruf zur Gründung einer „Humanistischen Union“ inzwischen in vollem Wortlaut in der Juli-Ausgabe der „Werkhefte – Zeitschrift für Probleme der Gesellschaft und des Katholizisimus“, in der Nr. 1 des Pressedienstes der Freireligiösen Landesgemeinde Nordrhein-Westfalen und in der Nr. 7/8 des Studenten-Magazins für Kultur, Politik und Technik „Profil“ nachgelesen werden kann. Der Text wird auch in dem Anfang August im Rowohlt-Verlag erscheinenden Taschenbuch „Die Alternative oder brauchen wir eine neue Regierung“ zu finden sein.

Die nächste allgemeine Information wird im August oder September in Gestalt der oben angekündigten Mitteilung über die Gründung der „Humanistischen Union“ erfolgen.

gez. Gerhard Szczesny


Sammlung Dr. Rolf Eckart.

Überraschung

Jahr: 1961
Bereich: Religion

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