Materialien 1962

Meine sechziger Jahre

Florian Sattler

Genaugenommen bin ich kein Achtundsechziger, ich bin ein Zweiundsechziger. Ende Mai, Anfang Juni 1962 gab es in München die Schwabinger Krawalle und im Herbst gingen wir für die inhaf-
tierten Spiegelredakteure Conny Ahlers und Rudolf Augstein auf die Straße. Strauß, der Verteidi-
gungsminister, stürzte in der >Spiegel-Krise< und der Herausgeber der Münchner Katholischen Kirchenzeitung Monsignore Lorenz Freiberger riet ihm in einer Kolumne, doch ein paar Jahre auszusetzen, sich selber, der CSU und dem Lande zuliebe. Strauß tat uns das nicht an.

Die sechziger Jahre haben in der Bundesrepublik erst am 13. August 1961 begonnen. Mit dem Mauerbau in Berlin. Die Mauer war der steingewordene Beweis für die Unmöglichkeit der Ade-
nauerschen Lebenslüge, dass uns die deutsche Einheit durch die bundesdeutsche Westintegra-
tion eines Tages in den Schoß fallen werde wie eine reife Frucht. Diese Frucht fiel nicht, sondern die Mauer wurde gebaut. Chruschtschow hatte es Kennedy im Juni in Wien angekündigt, und der hatte sich in das Unvermeidliche geschickt.

Da, wo der Zweite Weltkrieg geendet hatte, hat er geendet. Und deshalb wäre der wacklige Nach-
kriegsfriede zusammengebrochen, wenn man an den Demarkationslinien gerüttelt hätte. Diese Regel wurde 1956 in Ungarn eingehalten, und schon früher am 16. Juni 1953, als die Arbeiter in Ostberlin und der DDR ihrem Protest gegen die überzogenen Arbeitsnormen unter Anleitung von Rias Berlin einen gesamtdeutschen Oberton verliehen. Die Regel bewies ihre Wirksamkeit auch am 21. August 1968, als in Prag die sowjetischen Panzer einrollten.

Die Rolle, den Musterknaben diesseits der Elbe im Ost-West-Konflikt zu spielen, hatte ihre Faszi-
nation am 13. August 1961 endgültig verloren. Außenpolitisch wurde diese Konsequenz erst mit den Gewaltverzichtverträgen zu Anfang der siebziger Jahre gezogen. Aber dass das Thema Demo-
kratie in der Hochschule, im Pressewesen, auf der Straße und wo nicht sonst noch überhaupt diese Aufmerksamkeit erlangen konnte, war auch eine Folge des verblassten Paradigmas der Truman-
Doktrin: überall, wo die UdSSR versucht, ihren Einfluss zu vergrößern, treten ihr die USA entge-
gen.

Die Frage, wohin sich die Bundesrepublik weltpolitisch orientieren sollte, bot wenig Diskussions-
stoff für uns. Sie war entschieden. Und das hing natürlich auch damit zusammen, dass der Leninis-
mus ohne Hitler nicht so attraktiv war, wie er es für die Intellektuellen der dreißiger Jahre gewesen ist.

Für viele Achtundsechziger war die Abkehr von den USA, die Wut auf die amerikanischen Ma-
rionetten der Entkolonisierung ein zentraler Anlass ihrer Politisierung. Nichts symbolisierte die Empfindung, dass sich der Geschichtsverlauf beschleunige und überdies neue Chancen der eigenen Mitwirkung eröffne, besser als der Sprint, den Gaston Salvatore und Rudi Dutschke 1965 auf dem Kurfürstendamm gegen Moise Tschombè hinlegten.

Bei mir waren es die Ereignisse des Jahres 62. Für mich hatte die Innenpolitik Vorrang und die Überzeugung, dass nicht nur Hermann Höcherl, der Innenminister, selten mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlief, sondern dass der Geist dieser Verfassung in viel zu viele Ecken und Nischen dieser Gesellschaft überhaupt noch nicht hineingeweht hatte.

Bei den Schwabinger Krawallen rauchte die Wut, weil man uns Studenten zwar für die Imagepflege gut gebrauchen konnte: das junge, heitere Leben auf der Leopoldstraße, mit dem die Stadt in ihren Fremdenverkehrsprospekten warb, entsprach aber die Lebensform der gleichen Studenten einmal nicht der Mehrheitsauffassung, dann wurden sie bekämpft, dann kam wegen zwei auf dem Trottoir spielender Musikanten gleich die Funkstreife und wollte sie aufs Revier mitnehmen. Es ging aber auch um einen anderen Begriff von Öffentlichkeit; es war nicht nur die Unduldsamkeit der alten Spießbürger gegenüber den Jungen. Als wir auf der Straße demonstrierten, fochten wir auch für unsere Gesellungsformen, die dem Ruhebedürfnis und den durchaus privaten Ansprüchen der Anwohner nicht so ohne weiteres untergeordnet werden sollten.

In dieser Hinsicht, bezüglich der Erfahrung nämlich, dass Straßen in der Demokratie mehr sind als nur Verkehrswege, waren diese Krawalle tatsächlich ein beachtliches Präludium zu den weiterrei-
chenden Ereignissen von 1967 und 1968. München war wie im November 1918 früher dran als Berlin und die übrige Republik. Mit dem Polizeipsychologen Siebert wurde eine >Münchner Linie< beim Umgang mit Demonstranten entwickelt, für die der später berühmt gewordene Marcuse-Titel >Repressive Toleranz< passt; nach der schaurigen Dialektik der Gewalt könnte sie auch ein Motiv dafür abgegeben haben, dass Andreas Baader, Brigitte Mohnhaupt, Rolf Heißler und Christof Wackernagel reissaus nahmen und sich anderswo mit größeren Keilen ihren Weg ins Unglück bahnten.

Beschleunigung des Geschichtsverlaufs: jeder schob seine eigene Bewegung an, Dutschke und
der SDS mit der Schrift >Hochschule in der Demokratie< die der Studenten, Peter Glotz die der Assistenten; am Münchner Institut für politische Wissenschaft – die Lehrstuhlinhaber waren Eric Voegelin und Hans Maier, der nachmalige bayerische Kultusminister – bastelte ich mit Freunden an einer Institutsverfassung, die den wissenschaftlichen Hilfskräften – das war mein Status – mehr Rechte einräumte.

Eine Bewegung ist aus dieser Bemühung nicht entstanden; innerhalb der Dreieckskämpfe zwi-
schen Studenten, Professoren und Assistenten störten wir nur den Frontverlauf und wurden überrollt. Aber dass dem Gemeinwesen Reformen not taten und dass sie nicht von selber kommen würden, diese Überzeugung blieb mir. Sie hat mich nicht verlassen und ich halte sie noch heute für den politischen Kern der sechziger Jahre.

Natürlich waren die Auswirkungen des Ost-West-Konflikts mit dem Mauerbau am 13. August nicht wirklich geringer geworden. Noch die Bildungsoffensive, aus der wir Studenten das Selbstbewusst-
sein zogen, gesellschaftlich eine Rolle zu spielen, war eine Folge des amerikanischen Sputnik-
schocks von 1957; der Westen bekam Angst, den Wettlauf um Raumfahrt und Rüstung zu ver-
lieren. Und die Professoren Friedrich Edding und Georg Picht schmiedeten daraus wirksame For-
derungen, die Universitäten zu vermehren, die Hälfte eines Jahrgangs sollte das Abitur machen. Ich erinnere mich an eine Demonstration durch das Münchner Bankenviertel, auf der ich den Sprechchor kreierte: »Der Bundespräsident war auf einer Zwergschule. Man merkt es.« Damals war Dialekt noch nicht in und Heinrich Lübke wurde schrecklich verlacht für sein sauerländisches Idiom.

Damals tat sich auch das Rationaltheater in München mit der Veröffentlichung von Dokumenten hervor, die bewiesen, dass der Bundespräsident als Bauingenieur Pläne für Konzentrationslager gefertigt hatte. Der Lack, den der humorvolle schwäbische Bildungsbürger Theodor Heuss dem höchsten Staatsamt verliehen hatte, war ab. Eric Voegelin, mein akademischer Lehrer, hielt 1965 eine bedeutende Vorlesung über >Hitler und die Deutschen<; leider ging nur ein kleiner Teil von ihr in den Band >Die deutsche Universität im Dritten Reich< ein. Hat man den kläglichen Zinno-
ber des 8. Mai 1985 noch im Auge und im Ohr, so müssen die damaligen Diskussionen im nach-
hinein für ihr Niveau gelobt werden; das gilt auch für die erste Verjährungsdebatte mit Thomas Dehler und Adolf Arndt im Bundestag.

Dass wir durchaus noch im Banne des angelsächsischen Demokratiemodells standen, belegt der starke Zulauf zu einer debating society in der Schwabinger Max-Emanuel-Brauerei. Jeder Redner musste zu einem gegebenen Thema zwanzig Minuten eine Meinung begründen, die gerade nicht der eigenen entsprach. Am Schluss hatten die Zuhörer zu entscheiden, wer besser war. Wie so vieles hat diese Idee inzwischen längst das Fernsehen unter dem Namen >Pro und Contra< vereinnahmt und vergröbert.

Ein echter Achtundsechziger bin ich auch deshalb nicht, weil die Strecke von Hegel zu Marx für mich nicht die Richtfunktion hatte wie für die vielen, die ausschließlich von der Frankfurter Schule oder aus den ihr entstammenden Bändchen der edition suhrkamp gelernt haben. Außer an Voege-
lin hielt ich mich an Hannah Arendt, an Ralf Dahrendorf und an Günter Grass, der 1965 mit Walt Whitmans »Dich singe ich Demokratie« für Willy Brandt in den Wahlkampf zog. Dem Hitler-Trauma wollte ich durch größtmögliche Offenheit begegnen: historisch vertikal und horizontal quer zu den Kulturen. Wir lasen Arnold Toynbee und Karl Jaspers. Die an die Gründerzeit erin-
nernde Expansion in der Wirtschaftswunderepoche entlockte uns keinerlei Begeisterung. Aber wir bauten gleichwohl darauf, weil wir diese Expansion für normal hielten, kein Gedanke noch daran, dass Rohstoffe einmal zu Ende gehen könnten, dass die Natur auf Energieverschwendung und Schadstoffeintrag mit Kollaps reagieren würde. Uns interessierten Probleme der Gerechtigkeit zwischen den Industrie- und den ehemaligen Kolonialländern, zwischen Arbeitern und Intellek-
tuellen, zwischen Ordinarien und Hilfsbremsern.

Verglichen mit heute war der Abstand zwischen den Generationen klein. Wenn der vor der Jahr-
hundertwende geborene Carlo Schmid seiner mit Schiller und Goethe großgezogenen Klasse ankreidete, zu Anfang der dreißiger Jahre falsch optiert und statt mit der SPD für Weimar zu kämpfen mit den Deutschnationalen den Untergang der ersten deutschen Demokratie herbei-
geführt zu haben, so war das genau mein Standpunkt. Der schlimme Bezugspunkt Adolf Hitler machte Brückenschläge möglich, die es so heute nicht mehr gibt. Wie sonst wäre die enorme Wirkung der Polemiken des strengen alten Herrn aus Basel über die Atombombe und die Zukunft des Menschen und >Wohin treibt die Bundesrepublik?< zu erklären? Wir Jungen fühlten uns mitangepöbelt, als Ludwig Erhard Rolf Hochhut als Pinscher betitelte; der gleiche Erhard, der in seiner ersten Weihnachtsansprache von »diesem tiefwinterlichen Fest des Nehmens und Gebens« gesprochen hatte, so als wäre in Bethlehem nicht Jesus Christus geboren worden, sondern Adam Smith. Uns, die wir moralisch eher rigoros gestimmt waren, bot er nur Verquastes. Und er verhalf dem Fraktionsvorsitzenden Helmut Schmidt zu Auftritten im Bundestag, wie sie vom späteren Bundeskanzler nie mehr erreicht wurden.

1964 hatte ich geheiratet, nacheinander kamen die vier Kinder. Ein Freund hatte mir auf einer Postkarte geschrieben: »Erst als Ehemann und Kindsvater bist du wirklich politisch.« Es ist insofern wahr geworden, als ich unserem Staat immer gerne Steuern gezahlt habe, weil ich seine Schulen, seine Krankenhäuser, den >Würmeling<, und seine Bibliotheken stark in Anspruch nahm. Es stimmte nicht für die Studentenpolitik, die der Epoche ihren Stempel aufdrückte. Die gängigen Vokabeln der Universitätspolitik waren mir immer eine Schraubenwindung zu radikal; ich führte das auf die Tatsache zurück, dass die Leute über nahezu kein Geld verfügten, sondern eben nur über Worte. Freilich war auch ein bisschen Taktik dabei; ich wollte an der Universität des Ministers Huber, den die andern in den Zuber hauen wollten, noch etwas werden.

Ein wirklicher Achtundsechziger konnte ich schon deshalb nicht sein, weil ich die Texte von Hork-
heimer, Adorno, später Marcuse und Habermas las wie andere Bücher auch, ohne besonderen Nachfolgewillen. Und die >Dialektik der Aufklärung< war für mich sowieso schon eine Vorweg-
nahme des bald einsetzenden riflusso.

Mit der Rezession 1965 kam die NPD hoch. Wieder demonstrierten wir im Universitäts- und im Bankenviertel: »Nazis raus aus München.« Das hatte uns gerade noch gefehlt. Und natürlich waren wir für die funktionierende Demokratie und gegen den großen Brei der Großen Koalition. Der Backenstreich, den Beate Klarsfeld dem Herrn aus dem NSKK gab, der auf einmal Bundes-
kanzler geworden war, hatte unsere volle Sympathie.

Die Kunde von den Reden des Mario Savio an der Berkeley-University, von den Kämpfen der Tokyoter Studenten kam noch von sehr weit. Aber die Sache der Hippies gefiel uns, vor allem das eingegrabene Automobil. Erst mit dem Tod von Benno Ohnesorg wurde das Gefühl, dass es so nicht weitergehen könne, dass ein Neubeginn notwendig war, unabweisbar. Was ging uns trotz Soraya der Schah an? Wen wollten die Berliner Polizisten verteidigen, als sie wild drauflos schlu-
gen? Als überall in der Bundesrepublik die Studentenbewegung Zehntausende auf die Straße brachte, war ich dabei, weil etwas anderes gar nicht denkbar war.

Gestartet waren wir als liberale Verfechter der Menschenrechte. Die Kämpfe am Ende des kolo-
nialen Zeitalters machten uns klar, dass die Weltpolitik eine ökonomische Dimension, das Macht überhaupt wirtschaftlich unterfüttert ist; eine Erfahrung, die der Kahlschlag der Nachkriegszeit, die der Wohlfahrtsstaat Bundesrepublik und die das scheinbar egalitäre gemeinsam In-die-Hände-Spucken und Die-Ärmel-Hochkrempeln der Wirtschaftswunderepoche so nicht zugelassen hatte. Herausgekippt aus der Pax Americana hat uns endgültig der Vietnamkrieg. Ich war kein Ho-Ho-Hochiminh-Demonstrant. Das war mir zu viel Personenkult; aber der Krieg war ungerecht und
so überflüssig, bedenkt man, dass Onkel Ho seine Republik 1947 mit einem Zitat aus der amerika-
nischen Unabhängigkeitserklärung begonnen hatte.

Dass die Notstandsgesetze ein Konstituens für diese politische Generation wurden, kann nicht aus ihrem Inhalt erklärt werden. Der Widerstand dagegen war eine Folge der nach den misslungenen Spruchkammerverfahren unerörtert gebliebenen Nazivergangenheit. Es waren weniger die Para-
graphen, die Misstrauen auslösten; sie belegten nur das bestehende gegen den Innenminister Schröder, der eine braune Doktorarbeit verfasst hatte, und gegen die vielen hohen Beamten dieses Staates, die auch schon der Hitler-Diktatur gedient hatten. Wir wollten den Bruch mit der verbre-
cherischen Vergangenheit; wir wollten nicht einfach zur Tagesordnung übergehen; wir wollten die Lebenslüge aufdecken, die das gesellschaftliche Leben der Republik prägte. Aber eben dadurch weckten wir Angst und Aggression bei denen, die froh waren, wieder wer zu sein. Am Tag nach den Schüssen auf Rudi Dutschke, Ostern 1968, stand ich an der Barerstraße, um die Auslieferung der Springerblätter zu verhindern oder zumindest zu behindern. Ich erinnere mich an meine Ver-
wunderung darüber, dass die Bereitschaftspolizisten kaum achtzehn waren und sich von uns die Zusammenhänge erklären lassen mussten.

Das Schönste am Großkampftag gegen die Notstandsgesetze waren die Botschaften aus Paris, mit Kreide auf Wandtafeln geschrieben, im Lichthof der Universität, in den 1943 die Flugblätter der Weißen Rose geflattert waren. Man saß herum und kannte alle Leute, man war übernächtigt, müde von den Reden – Genossen und Kollegen … – eine Szenerie wie in Büchners Danton. Aber die Phantasie kam nicht an die Macht, die Illusion, es könnte so kommen, schlug mich nur ein, zwei Tage in Bann. Es kam, wie es 1848 gekommen ist. Was sie Revolution nennen, ist es nicht. Auch die von 1917 hatte sich 1921 in Kronstadt schon wieder den Gewehren beugen müssen. De Gaulles, kurz nach Deutschland ausgewichen, kehrte zurück. Pompidou errang seinen größten Wahlsieg. Unsere Gesellschaften sind so reich, dass diejenigen, die bei einem energischen Umbau um ihren Besitz fürchten, allemal die mehreren sind. Am 9. November 1968 starb mein Vater, Ende des Wintersemesters ging Eric Voegelin, emeritiert, in die USA zurück. Am 30. April, weil am 1. Mai die Büros geschlossen sind, wurde ich Mitglied der SPD. Ein Jahr später war ich Ortsvereins-
vorsitzender im Lehel.

Willy hatte die Walt Whitmansche Verheißung von 1965 »Dich singe ich Demokratie« – zu fünf-
tausend waren wir damals bei Günter Grass im Circus Krone – aufgegriffen: Mit der Demokratie erst so richtig anfangen. Und nicht bedächtig wägend im Parkett, sondern womöglich auf der Bühne. Das war der eigentliche Ertrag der wilden sechziger. Zu spät begonnen, endeten die sechziger Jahre zu früh. Für uns am 19. Mai 1968 mit der Verabschiedung der Notstandsgesetze, für Europa mit dem Ende des Prager Frühlings im August 1968. Aber die Impulse haben weiter-
getragen bis zur Wahl Gustav Heinemanns; sie leiteten den raschen Entschluss Willy Brandts in der Wahlnacht im Herbst 1969, als er mit Walter Scheel seine sozialliberale Koalition einging. Beide haben den Schub für eine Außenpolitik genützt, die bis heute ohne Alternative ist, und der auch die wenig inspirierte Art Hans Dietrich Genschers nichts anhaben kann. Innenpolitisch versandete der Impuls. Wir alle stießen 1972 an die Grenzen des Wachstums.

Der Ölschock und die aberwitzigen Bomben der RAF taten ein übriges. 1973 veranstaltete die Bayerische Akademie der Schönen Künste einen konservativen Kongress unter der Überschrift >Tendenzwende<. 1974 schied Heinemann aus dem Amt und Helmut Schmidt wurde Kanzler. Damals war ich freier Mitarbeiter eines Vormittagsmagazins im Bayerischen Rundfunk, das >Notizbuch<. Franz J. Bautz hatte es sich 1968 ausgedacht und wir taten nichts anderes als die Konzepte der sechziger Jahre vor den Hörerinnen und Hörern durchzudeklinieren: Bürgerbe-
teiligung in der Stadtplanung, Mitbestimmung in Schule, Kindergarten und Erziehungsheim, Selbstverständnisdiskussionen in allen Berufssparten, den von Benachteiligungen Betroffenen mit dem Mikrophon ein Anwalt sein, ihnen das Wort in eigener Sache erteilen. Eine Radiosendung schreibt ins Wasser, wenn sie allein bleibt. Und wir blieben in Bayern ziemlich allein.

Aber die Motive kann der mangelnde Erfolg nicht zerstören. Sie bleiben erhalten und sie werden wohl immer wieder an unvermuteter Stelle aufbrechen. Gesellschaftsreform ist ein Prozess; an der einen Stelle zum Erliegen gebracht, wird er wie ein in, den Untergrund gedrängter Fluss an ganz anderer Stelle wieder zum Vorschein kommen.


L’80. Zeitschrift für Politik und Literatur 38 vom Juni 1986, 50 ff.

Überraschung

Jahr: 1962
Bereich: Bürgerrechte

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