Materialien 1962
Haben wir noch (oder schon wieder) eine politische Justiz?
Ein Tatsachenbericht von Ferdinand Grüneisl
(geschrieben während meines Stadelheim-Aufenthaltes im Jahre 1962)
Die Verhaftung
Als ich an einem Tag in der zweiten Märzwoche 1962 ins Büro kam – wieder einmal ein paar Minuten zu spät – sagte einer meiner Kollegen: „Du wurdest eben am Telephon verlangt. Ich sagte dem Herrn, dass Du sicher gleich kommen wirst.“
Wie sich später herausstellte, war der Anrufer der meinen Fall bearbeitende polizeiliche Ermittlungsbeamte. Dieser war übrigens kurz vorher schon an meiner Wohnungstür gewesen und hatte meine Frau nach mir gefragt. Sie erklärte ihm, dass ich schon unterwegs zu meiner Arbeitsstelle wäre. (Dies erfuhr ich aber auch erst nach ein paar Tagen.)
Nun denn: ich saß keine fünf Minuten an meinem Schreibtisch, als zwei gut durchwachsene Herren (in Zivil) nach mir fragten: „Kriminalpolizei! Sie wissen ja, worum es geht!“ Ich wusste nicht! Ich ließ mir den Haftbefehl zeigen und musste wohl oder übel, begleitet von nunmehr drei Beamten (einer stand vor meinem Büro), in das Polizeipräsidium. Dort, im Büro des Ermittlungsbeamten, durchsuchte man mich sofort, d.h. man nahm meinen Füllfederhalter und meinen Kugelschreiber auseinander und mir alles weg, außer ein paar Zigaretten.
Einzelzelle Ettstraße
Dann wurde ich in eine Einzelzelle im Präsidium verfrachtet. Dort stellte ich fest, dass das Bettzeug von meinem Vorgänger schon benutzt worden war; selbiges war nämlich nicht nur zerknittert, sondern auch erheblich beschmutzt. Ich drückte auf einen Knopf – an der Vorderwand der Zelle angebracht – der ein Klingelzeichen auslöste. Nach geraumer Zeit kam ein Blauuniformierter und meinte, dass er es gar nicht gern hätte, wenn man auf den Knopf da drücke und ich solle mir Unannehmlichkeiten ersparen, es wäre zu meinem eigenen Vorteil usw. Worauf ich freundlich erwiderte: „Entschuldigen Sie, Herr Beamter, das soll nicht mehr vorkommen. Ich möchte aber höflich ersuchen, nachdem wohl damit zu rechnen ist, dass ich die Nacht hier verbringen muss, mir doch frische Bettwäsche zu besorgen.“ Der Beamte: „Warum san Sie eigentlich do? San Sie a Politischer, ha? In der Ostzone lassts d’ Leit’ verrecka und bei uns da Ansprüch’ stelln. So oaner wia Sie geht mir grad no ob in meiner Sammlung.“ Sprach’s und zog Strohsack und Kopfkissen aus meiner Zelle.
Bevor ich über meine Erlebnisse in der Ettstraße weiter berichte, eine kleine Zwischenbemerkung: Der nach Ostberlin aus der Haft geflüchtete Jupp Angenfort, der kurze Zeit nach mir in der Ettstraße untergebracht war, beklagte sich anlässlich einer Pressekonferenz in Berlin u.a. über die unhygienischen Zustände in den Zellen des Münchner Polizeipräsidiums. Darauf erklärte Ende April 1962 der Rechts- und Pressereferent des Polizeipräsidiums, Oberrechtsrat Carl Pfrang, die Gefängnisordnung der Ettstraße sei jener der staatlichen Haftanstalten angeglichen und – wörtlich – „jeder Häftling erhält frische Bettwäsche“. Herr Pfrang hat entweder bewusst die Unwahrheit gesagt oder sich über die Zustände in der Ettstraße nicht genügend informiert. Letzteres kann man von ihm wohl nicht verlangen, außerdem haben Polizisten, gleich welchen Dienstgrades, (fast) immer recht.
Nun wieder zurück zu meiner Zelle in der Ettstraße. Mit der Holzpritsche, einem Tischchen und einem Hocker allein geblieben, hatte ich nun Zeit, mir mein vorläufiges Heim in aller Ruhe näher anzusehen. Um den „Spion“ an der Türe, die nur der Blauuniformierte von außen öffnen kann, war mit viel Fleiß und Können das „Vater unser“ und das „Ave Maria“ eingekritzelt. Zwischen primitiven pornographischen Zeichnungen – teilweise in Lebensgröße – entdeckte ich Sprüche wie „Ein Mann ohne Knast ist wie ein Schiff ohne Mast“ oder „Es geht alles vorüber“ oder „Schön war die Jugendzeit“ oder „Emma, das werd’ ich Dir nie vergessen. Wehe Dir, wenn ich da rauskomm’’ oder „Diese Hunde“.
Drei Dienstzigaretten
Ein Aufenthalt in der Einzelzelle ist kein Honiglecken, vor allen Dingen dann, wenn man den Grund und die Dauer der Haft nicht kennt.
Der um 11 Uhr durch die Klappe gereichte „Fraß“ war die erste Abwechslung. (Erst ab dem dritten Tag ist man in der Lage, das unappetitliche Essen hinunterzuschlingen.) Um 15 Uhr wurde ich von „meinem“ Beamten zur Vernehmung geholt. „Lass Dir die Zigaretten geben, für jede Vernehmung mindestens drei“ riet mir ein Zellennachbar, der über meinen „Ausgang“ durch das Schlüsselgeklirr informiert war.
Mein Beamter bot mir ohne Aufforderung Zigaretten an, war auch sonst anständig und ein wenig älter als ich. Ich erfuhr von ihm, dass er verheiratet ist wie ich, dass er ein Kind hat wie ich, dass sein Kind in der Schule nicht gut lerne usw. „Welchen Anwalt nehmen Sie?“ wollte er so zwischendurch wissen. Er war überhaupt sehr neugierig. „Warum nehmen Sie nicht den … oder den …?“ „Wieso“, fragte ich „wollen Sie mir denn einen Anwalt besorgen und vielleicht sogar bezahlen?“ – „Tun Sie doch nicht so, Sie wissen doch, was Ihnen blüht. Mindestens 2 Jahre Straubing!“ Man soll sich mit Ermittlungsbeamten gar nicht einlassen, nur die Zigaretten annehmen. Ich rate jedem, der einmal in diese Lage kommt, nicht einmal zu seinem Lebenslauf etwas zu sagen. Erfahrene „Knastrologen“ wissen das, sie sagen: „Ganoven sagen, nichts sagen!“ Ein Spruch, den ich später in Stadelheim oft hörte.
Von meinem Beamten erfuhr ich dann auch, dass er über meine Familien- und Wohnverhältnisse genau informiert war, dass er viel Arbeit hatte bei der Hausdurchsuchung, dass mein Zimmer nicht geheizt war, und ihn während seiner Schnüfflertätigkeit in meiner Wohnung fror, dass er einen Stoß Negative, Photos, Notizbücher und Taschenkalender beschlagnahmt hatte und ich dadurch schon überführt wäre, dass ich meine Lage erleichtern könne, wenn ich alles zugäbe, dass die Bearbeitung der beschlagnahmten Unterlagen viel Zeit erfordere und ich mit einem längeren Aufenthalt in Stadelheim rechnen müsse. „Im übrigen, unter 2 Jahren Gefängnis geht die Sache für Sie sowieso nicht ab!“
Er erzählte mir nicht, dass er den Betrieb, wo meine Frau arbeitete, über meinen Fall informiert hatte, auch nicht, dass meine Frau wegen meiner Verhaftung an eine untergeordnete Stelle versetzt wurde.
Dies erfuhr ich am nächsten Tag, als ich anlässlich der Vernehmung durch den Untersuchungsrichter, der diese Tätigkeit auch schon unter Hitler ausgeübt hatte, in seinem Beisein meine Frau kurz sprechen konnte.
Einweisung nach Stadelheim
Nach fünf Tagen Aufenthalt in der Ettstraße, wo es keinen Hofgang und nichts zu lesen gibt, obwohl dies die Gefängnisordnung vorschreibt, durfte ich nach Stadelheim.
Von Stadelheim hatte ich schon vieles gehört, einiges direkt von Herrn Reichhart1, Deisenhofen, der die Geschwister Scholl unter anderem dort entleibte.
Ich sprach übrigens in Stadelheim mit Wachtmeistern, die seinerzeit die Exekutionen miterlebten. Sie führten die Todeskandidaten ans Schafott. Wie ich erfuhr, wurde ihre Beamtenlaufbahn nach 1945 nicht unterbrochen.
Ich hatte das Glück, auf einen Abteilungsbeamten zu stoßen (dort tragen die Beamten grüne Uniformen und einen größeren Schlüsselbund), der irgendwie menschlich war. Er sagte mir, dass es in seiner Abteilung an und für sich nur Einzelzellen gäbe, aber wegen Platzmangel könnte er mich in einer Gemeinschaftszelle unterbringen, ob ich dies wolle. Ich wollte.
Dort lernte ich gleich am ersten Tag, wie man ohne Schlüssel einen Mercedes und andere Autos aufmacht. Jeder Typ verlangt ein anderes Hilfsmittel. Der Autoknacker informierte mich während des Hofganges über das Delikt des dritten Zellenbewohners: „Betrug, Atomrückfall (= mehr als fünf mal rückfällig), Bertelsmann.“ Der Bertelsmann-Vertreter, der sich u.a. den Doktortitel zugelegt hatte, las ständig in der Bibel und betete häufig den Rosenkranz. Zum Anstaltsgeistlichen hatte er guten Kontakt. Jedesmal wenn er von ihm zurückkam, brachte er Tabak mit. Er bekam von ihm auch Spielkarten. Ich muss sagen, der Aufenthalt in der Drei-Mann-Zelle gefiel mir. Die Zeit verging wie im Fluge. Man unterhielt sich über Gott und die Welt und auch über Politik. Das war mein Fehler. Der Rosenkranzbeter war entsetzt, als er erfuhr, dass er es bei mir mit einem „Linken“ zu tun hatte. Er muss dies wohl dem Hochwürden erzählt haben. Jedenfalls wurde ich schon nach kurzer Zeit in eine Einzelzelle einer anderen Abteilung versetzt. Dass ich diese Versetzung tatsächlich dem Bibelleser und Betrüger zu verdanken hatte, bestätigte mir sogar ein mir gut gesonnener Beamter.
In Stadelheim gibt es auch zwei Ärzte. Diese kann man konsultieren, wenn einem der Wachtmeister glaubt, dass man tatsächlich krank ist. Durch die Umstellung vom zivilen zum „Knast“-Leben machte sich mein mich schon seit längerer Zeit belastender niederer Blutdruck bemerkbar. Der Arzt veranlasste daher die Einweisung ins Krankenrevier. Die Einweisung gelang aber nicht sofort, „weil in diesem Falle die Genehmigung durch den Untersuchungsrichter eingeholt werden muss“. Es dauerte drei Wochen, bis diese Genehmigung kam. Vielleicht war der Richter auf Urlaub, vielleicht fand man meine Akte nicht, vielleicht war aber die Prüfung meines Krankenstandes so überaus schwierig, weil sie es mit einem „Politischen“ zu tun hatten. Ich weiß es wirklich nicht. Aber das eine weiß ich, dass Mörder (ich kann Namen nennen und komme darauf noch zurück) ohne besondere Umstände krank geschrieben und sofort in die Krankenabteilung verlegt wurden.
Die Krankenabteilung
Die Krankenabteilung hatte in jeder Hinsicht Vorzüge: Längerer Hofgang, wirklich sauberes Bettzeug, die Decken waren überzogen, größere Auswahl von Büchern, das Essen war besser und ausreichender, die Betreuung der meist jungen, sympathischen Sanitätswachtmeister war überaus menschlich. Übrigens: Frühstück gab es um ½8 Uhr, Mittagessen an Samstagen und Sonntagen um 10 Uhr und Abendessen um 15.00 Uhr, an Werktagen jeweils etwas später. Verständlich, dass das Wochenende bei uns allen sehr gefürchtet war, denn man konnte an diesen beiden Tagen vor Hunger keinen Schlaf finden.
Der Herr Doktor meiner Abteilung unterschied – dies ist jedenfalls mein Eindruck – zwischen Kriminellen und Politischen, als da sind: Kriegsverbrecher und Kommunisten. Der Arzt zog mich des öfteren ins Gespräch, ich durfte mich mit ihm sogar in seinem Konsultationszimmer über Politik unterhalten, ohne eine Versetzung befürchten zu müssen. Dank solcher Verbindung schaffte ich hier im Laufe der Zeit den Sprung zum „Hausi“ = Hausarbeiter, von den anderen Gefangenen etwas neidisch „Hilfswachtmeister“ genannt. Ich wurde Kübler, d.h. ich hatte die Ehre, die hinter einem Holzverschlag untergebrachten Klosettkübeln aus den Zellen zu tragen, zu entleeren und zu reinigen. Schließlich muss jeder einmal klein anfangen. Weiter schaffte ich es aber nicht. Diese Tätigkeit hatte aber trotzdem Vorteile. Ich kam praktisch mit allen Gefangenen ins Gespräch, so mit Benno Stöberl, 29, Ismaning, der am Pfingstmontag 1962 seine Braut Monika Lederer, 35, tötete und in einem Garten beerdigte. Sofort nach seiner Einweisung in die Krankenabteilung erzählte er mir vertrauensvoll den Hergang des „Geschehens“. Zwischendurch beteuerte er immer wieder: „Das hätt’ nicht sein brauchen!“ Er ist inzwischen zu einmal lebenslänglich verurteilt; in der Knastrologensprache heißt dies „einmal rund“.
Neben Delikten, wie Raubüberfall, Falschgeld (viele Ausländer sitzen deswegen ein), Auto-, Automaten- und Geldschrankknackerei, Rückfall- und Scheckbetrug (meist nur Erwachsene), Sittlichkeit, Abtreibung und Taschendiebstahl gab es auch Politische wie kleine Eichmanns und – wie schon gesagt – Kommunisten. Mit den letzteren hatte ich verständlicherweise sofort guten Kontakt. Wir „korrespondierten“ – wenn man so sagen darf – mit Hilfe von in andere Gefängnisse verlegten Patienten mit politischen Freunden in Landsberg, z.B. auch mit Richard Scheringer. So etwas ist nur über die Krankenabteilung möglich. Es würde zu weit führen, zu erzählen, wie das vor sich geht; ich kann nur versichern, dass es ausgezeichnet klappte.
Uns Kranken war das Rauchen natürlich streng verboten. Wie die Rauchwaren in unsere Abteilung kamen, lässt sich schwer erklären, aber wir hatten immer und sogar ausreichend zu rauchen. Man wird es mir nicht glauben: In der Krankenabteilung landete eine von meiner Frau in der Effektenkammer abgegebene Tabakspfeife mit allen Utensilien und eine Menge Tabak. Wie dies geschehen konnte? Das wissen der liebe Gott, ein freundlicher Wachtmeister und ein Politischer.
Der Morphinist Donald Scott Brown, 36, Freund Chat Bakers („Weiße Trompete“) gab sich in meiner Zelle täglich drei bis vier Injektionen, bis ihn ein Mithäftling verriet. Bei einer daraufhin vorgenommenen Zellendurchsuchung fand man einiges, aber nicht alles. (Bei dieser Gelegenheit wurde auch meine Tabakspfeife eingezogen.) Mister Brown spritzte weiter, der Verräter bekam Prügel und hielt in Zukunft das Maul. Zwischendurch eine Frage? Was hat ein Morphinist in einem Gefängnis, wo Mörder, Sittlichkeitsverbrecher usw. untergebracht sind, zu tun? Was hat, so frage ich weiter, ein Jugoslawe in einem bundesdeutschen Gefängnis zu suchen, der ohne Delikt auf seine Abschiebung in seine Heimat elf Monate in Stadelheim warten musste? Er wurde sofort entlassen, nachdem er sich die Pulsadern durchschnitten hatte. Erst dann wurden die zuständigen Behörden auf ihn aufmerksam und sahen wohl ein, dass es so nicht geht. Der Jugoslawe hätte den Eingriff nicht erst nach elf Monaten machen sollen.
Hier muss ich unbedingt noch einen anderen Jugoslawen, den Valentin, einbauen, der länger als ich einsaß und es zu einer Art Kalfaktor brachte. Den Grund seiner Knasteinweisung kenne ich bis heute noch nicht. Also, der Valentin war zuständig für die Verteilung von Sonderessen für Diabetiker. Er zweigte davon für mich, dem dieses Essen gar nicht zustand, eine bemerkenswerte Portion ab als – sagen wir mal – Honorar für meine Bemühungen, ihn mit meinem brüchigen Serbokroatisch von dem eintönigen Knastleben abzulenken. Dass er es mit einem unverbesserlichen Kommunisten zu tun haben musste, war ihm schon bald klar, nachdem ich ihm einfach nicht abnehmen konnte, was er mir immer wieder unterschieben wollte, dass Stalin Millionen Russen und auch ausländische Kommunisten ins Jenseits befördern ließ und sogar deutsche KPD-ler seinem Erzfeind Hitler auslieferte. Stalin, so meinte er, ist nicht besser oder schlechter als Euer Hitler. Seit seiner Entlassung im Jahre 1963 treffen wir uns in seinem Kolonialwarengeschäft im Zentrum Schwabings und wir freuen uns darüber, dass wir uns kennen So ist halt das Leben!
Selbstmordversuch am Sonntagmorgen
Ein 16½-jähriger (Sie lesen richtig!) Junge – Werkzeugdiebstahl – erhängte sich hinter dem Klo-Verschlag in meiner Zelle an einem Sonntagmorgen. Als ich vom Kirchgang zurückkam, musste ich mal austreten. Dabei fand ich ihn an einem Strick hängend. Er konnte gerettet werden. Ich wiederhole: ein 16½-jähriger machte längere Zeit die Hohe Schule des Verbrechens zwischen Mördern, Sittlichkeitsverbrechern usw. in einer Gemeinschaftszelle in Stadelheim mit. Nach diesem Vorfall kam der Junge allerdings in eine Jugendstrafanstalt.
Hierüber berichtete ich in einem Brief an meine Frau und fragte, „ob der gegenwärtige Strafvollzug dem armen Jungen jemals auf die Beine helfen kann? Ich bezweifle dies sehr, nachdem ich nun aus erster Hand erfahre, wie sich dieser abspielt.“ Übrigens, als Untersuchungshäftling kann man alle sieben Tage ein Brieflein schreiben, dabei sogar über seine Erlebnisse im Gefängnis berichten, soferne man sich an die Wahrheit hält.
Meine Briefe überstanden alle die Zensur und erreichten ohne Streichungen den Empfänger. Als ich aus der Untersuchungshaft entlassen wurde, fragte mich allerdings mein Postbote, wie es mir gefallen habe. Er war nämlich über meinen Stadelheim Aufenthalt informiert durch den von der Gefängnisverwaltung herausgegebenen, unverkennbaren Briefumschlag.
Nun noch etwas zu den anderen Insassen der Krankenabteilung. Wie man mir glaubwürdig erzählte und was ich auch selbst feststellen konnte, kommen nicht nur Kranke in diese Vorzugsabteilung. Es werden praktisch dorthin alle Prominenten eingewiesen, so auch Werner Friedmann, damaliger Mitherausgeber und Chefredakteur der „Süddeutschen Zeitung“ und Minister Baumgartner. „Erfahrene“ Gefangene, die ihr Leben erleichtern wollen, schaffen die Einweisung in die Vorzugs-, meist Gemeinschaftszellen, ohne weiteres. Andere schlucken Messer, Gabeln, Nägel, Rasierklingen oder was man eben sonst findet oder öffnen sich die Pulsadern. Selbstmordversuche gibt es mehr, als in der Öffentlichkeit bekannt werden.
Meine Krankheit war – ich gebe dies zu – so geringfügig, dass keine stationäre Behandlung notwendig gewesen wäre. Regelmäßige Einnahme von Medikamenten hätte vollkommen genügt. Ich hatte aber schon nach vierzehn Tagen Stadelheim um Arbeit gebeten und zwar nicht so sehr wegen der Arbeit, sondern um das Leben eines Knasts im Umgang mit anderen Häftlingen besser kennenzulernen. Wer sollte mir das verübeln? Mein Delikt war wohl so schwerwiegend, dass der Untersuchungsrichter (oder war es der Ermittlungsrichter?) eine Tätigkeit in einer der Arbeitsbaracken, wo man z.B. Tüten klebte, nicht zuließ. Pro Tag kann man dort 15 oder 18 Pfennig verdienen. Nachdem die Tour, auf diese Weise mit anderen Gefangenen in Kontakt zu kommen, nicht klappte, gab es für mich keinen anderen Weg als den in die Krankenabteilung.
Neben Tütenklebern, Hausarbeitern und Spezialberufen wie Maurer, Friseur, Bäcker usw. gibt es noch andere Funktionen, an die ein Normal-Häftling gar nicht herankommt.
Sonderposten und Ausnahmen
Da muss man schon Dr. Bradfisch sein. Dr. Otto Bradfisch, seines Zeichens Regierungsrat und SS-Obersturmbannführer, der – seien wir vorsichtig – zusammen mit dem Verwaltungsangestellten Fuchs aus Hannover für die Ermordung von Tausenden polnischer Juden zumindest mitverantwortlich ist, war zu „meiner“ Zeit in Stadelheim in der Gefängnisbibliothek beschäftigt. Der zweite Bibliothekar war ein Dr. K. (Millionenbetrug). Ein sehr, sehr eleganter Herr, der stets mit Sonnenbrille und einem Buch seiner Bibliothek zu den Vernehmungen und Überstellungen (in der Ettstraße oder im Justizpalast) fuhr. Wehe, wenn ein anderer Häftling nur den Versuch machen wollte, zu diesen Anlässen ein Buch mitzunehmen, um sich die Zeit zu verkürzen. Der Versuch allein brachte schon strengen Arrest ein. Arrest im Gefängnis. Kein Paradoxon! Doch lassen wir das. Dr. K. durfte stets ein Buch mitnehmen. Es gibt halt Ausnahmen. Doch nicht nur diese.
Herr Schramm, der wichtigste Belastungszeuge im Prozeß Brühne-Ferbach z.B. durfte (oder musste) den Untersuchungsgefangenen Ferbach in dessen Zelle besuchen, obwohl jedermann weiß, dass es so etwas einfach nicht gibt. Wegen der Homosexualitätsgefahr gibt es höchstens Zellen für drei und mehr Mann. Meinen 38. Geburtstag verlebte ich in einer Einzelzelle. Als ich aus der von mir abonnierten Süddeutschen Zeitung erfuhr, dass Herr Ferbach auch Besuch (und nicht nur an einem Tag) genehmigt bekam, bat ich meinen Beamten, mir doch auch durch den Besuch eines Mithäftlings an meinem Geburtstag die Zeit verkürzen zu lassen. Der mir gar nicht so übel gesonnene Wachtmeister war entsetzt und sagte: „Um Gottes Willen. Bringen Sie mich doch nicht in solch eine Verlegenheit. Das geht doch nicht. Ich kann über meine Bestimmungen nicht hinaus. Das müssen Sie verstehen. So etwas gibt es nicht einmal in Ausnahmefällen.“ Was soll man dazu sagen?
Ferbach traf ich einige Male und zwar immer früh um 6 Uhr, bevor wir in den Gefangenenwagen verfrachtet wurden, Ferbach fuhr zu seiner Verhandlung, ich musste gelegentlich zur Vernehmung in die Ettstraße oder zum Justizpalast. Ferbach gab mir, so oft wir uns trafen, Zigaretten. Er hat wohl mitgekriegt, dass ich in der Krankenabteilung untergebracht war, wo Zigaretten mehr oder weniger Mangelware waren. Wir unterhielten uns auch über seinen Fall. Er war immer der festen Zuversicht, dass er freigesprochen wird.
Auch Vera Brühne sah ich einige Male. Sie arbeitete als Schneiderin in einem dem Kübler-Entleerungs-Raum naheliegenden Saal; wenn wir die Kübel entleerten und die Tür der Schneiderei offen stand, konnten wir die „Damen“ des Hauses bei der Arbeit beobachten. Womit auch wieder bewiesen wäre, dass Mördern (oder mutmaßlichen Mördern) eine andere Behandlung zustand, als „Kommunisten“.
Rapport
Meine Frau abonnierte für mich einige Zeitschriften, unter anderem auch den „Spiegel“. Als ich in die Krankenabteilung kam, gab mir der Dreistreifenwachtmeister (ein Zwölfender2) zu verstehen, dass „Der Spiegel“ und auch andere Zeitungen in der Gemeinschaftszelle verboten wären. Warum fragte ich. „Weil das halt so ist, basta“. „Das verstehe ich aber nicht“, meinte ich. Nach einigen Tagen durfte ich einen Rapportzettel beantragen und nach Ablauf von etwa vierzehn Tagen „antreten zum Rapport“. Zum Rapport melden sich Leute, die andere Häftlinge hinhängen und „Spiegel“-Leser.
Der Herr Regierungsrat bemühte sich sehr, mir ausführlich zu erklären, warum es einfach nicht zu verantworten wäre, dass „Der Spiegel“ in Gemeinschaftshaft gelesen werde. Mit dem besten Willen konnte ich ihn bzw. seine Begründung nicht verstehen. Immerhin gestattete er mir, bei nächster Gelegenheit eine Karte anzufordern, und zwar auf meine Kosten, um beim Spiegel-Verlag die Zeitschrift abzubestellen. Müßig zu sagen, dass es eine Zeit dauerte, bis ich diese Postkarte erhielt.
Meine Spiegel-Affäre! Auf diese Postkarte schrieb ich folgendes:
_ _ _
Das seit 13. April 1962 laufende Abonnement „Der Spiegel“ bitte ich ab sofort zu unterbrechen, da mir diese Zeitschrift lt. Mitteilung der Leitung der Strafanstalt Stadelheim, wo ich mich aus politischen Gründen in Untersuchungshaft befinde, nicht mehr ausgehändigt werden kann. Als Grund wurde angegeben: Dem Häftling steht eine derartige Zeitschrift nur in einer Einzelzelle, nicht aber in einer Gemeinschaftszelle zu.
_ _ _
Der Objektivität halber muss ich hinzufügen, dass ich um Einweisung in eine Gemeinschaftszelle gebeten habe, ferner, dass man hier außer gewissen Tageszeitungen (nicht alle!) selbstredend katholische Blätter wie z.B. „Willibalds-Bote“, „Bonifazius-Blatt“, „Feuerreiter“ und ähnliches auch auf Gemeinschaftszelle erhalten kann.“
Darauf reagierte der Spiegel-Verlag – Vertriebsabteilung – mit einem Schreiben vom 12. Juni 1962/V/Be/Ba an die Direktion der Strafanstalt Stadelheim. Eine Durchschrift dieses Briefes erhielt ich zur Kenntnisnahme. Der Inhalt dieses Schreibens lautet:
_ _ _
Sehr geehrte Herren,
Herr G. ist zur Zeit als Untersuchungshäftling bei Ihnen. Er hat den SPIEGEL abonniert, teilt uns mit Karte vom 12. Mai jedoch u.a. folgendes mit: (Hier wird der Inhalt meiner Postkartenzuschrift wiederholt.)
Wir wissen nicht, ob die Angaben des Herrn G. vielleicht auf einem Irrtum beruhen. Wenn sie den Tatsachen entsprechen, erklären Sie uns doch bitte, nach welchen Gesichtspunkten Zeitschriften für die Lektüre in Gemeinschaftszellen zugelassen oder ausgewählt werden.
Uns interessieren diese Angaben, weil wir eine ganze Anzahl derartiger Abonnements eingewiesen haben und weil uns nicht bekannt war, dass Zeitschriften verschieden bewertet werden.
Herr G. erhält Durchschlag dieser Zeilen zur Kenntnis.
Mit freundlicher Empfehlung
SPIEGEL-VERLAG – Vertriebsleitung.
_ _ _
Die Antwort auf dieses Schreiben erhielt der Spiegel-Verlag am 22. Juli 1962 und zwar erst aufgrund verschiedener Reklamationen bei der Direktion der Strafanstalt (Stadelheim München). Ich wurde hierüber unter V/Bei/Bg am 24. Juli 1962 durch den Spiegel-Verlag wie folgt informiert:
_ _ _
Sehr geehrter Herr G.!
Die Direktion der Strafanstalt München schreibt uns am 20. Juli 1962 folgendes:
‚Die Beantwortung Ihrer Briefe wurde mir übertragen. Ich teile Ihnen mit:
Die Genehmigung zum Bezug von Zeitungen und Zeitschriften bei Untersuchungsgefangenen erfolgt durch den zuständigen Richter. Zur Arbeitserleichterung gilt die örtliche Tageszeitung allgemein als genehmigt. Außerhalb der Einzelzelle werden andere Zeitungen und Zeitschriften nicht zugelassen. Von den hiesigen Insassen bezieht keiner die von dem Untersuchungsgefangenen G. genannten katholischen Zeitungen. Solche werden vielmehr von den Anstaltsgeistlichen beider Konfessionen verteilt, wenn ein Gefangener daran Interesse hat.
Die in Ihrem zweiten Brief erwähnten Angaben habe ich mit einem Schreiben an G. auf dessen Anruf hin schon beantwortet.’
Wir glauben mit dieser Erklärung zufrieden sein zu können. Bezüglich Ihrer Beschwerden wegen der fehlenden oder beschmutzten Exemplare haben Sie sicher schon einen Bescheid vorliegen.
Mit freundlicher Empfehlung
SPIEGEL-VERLAG-Vertriebsabteilung.
_ _ _
Um die Sache abzurunden, gebe ich hier eine Verfügung des Amtsgerichts München, Ermittlungsrichter 3, vom 10. Mai 1962 wieder, die wie folgt lautet:
_ _ _
Verfügung.
Die von dem Untersuchungsgefangenen G. bezogene Zeitung „Die Tat“ ist diesem so lange vorzuenthalten, als er in Gemeinschaftshaft untergebracht ist. (Ziff. 45 Abs. IV der UVollzO).
„Die Tat“ ist eine politische Zeitung und als solche geeignet, bei Gemeinschaftshaft zu Meinungsverschiedenheiten unter den Häftlingen zu führen und die Ordnung der Anstalt zu gefährden.
gez. (Unterschrift)
Amtsgerichtsrat
Beglaubigt:
Der Urkundsbeamte:
gez. (Unterschrift)
_ _ _
Warum, so frage ich, wurde für die Nichtaushändigung der Zeitschrift „Die Tat“ eine Verfügung benötigt, die für die Zeitschrift „Der Spiegel“ nicht notwendig war? Überdies ist die Antwort der Direktion der Strafanstalt München an den Spiegel sowieso lahm. Ich habe in der Gemeinschaftszelle der Krankenabteilung mehrere Zeitschriften gelesen mit nicht nur religiösem, sondern politischem Inhalt. Ob diese von den Anstaltsgeistlichen verteilt wurden oder nicht, ist m.E. gar nicht interessant. Um meine Behauptung beweisen zu können, nahm ich eine dieser in der Gemeinschaftszelle gelesenen Zeitungen mit nach Hause. Es handelt sich hierbei um „Das Wichtigste für unsere Zeit“, herausgegeben von Dr. Hartmut Maier, Ettlingen, Schriftleitung Wuppertal-Ronsdorf. Der Titel der mir vorliegenden Zeitung lautet wie folgt: „Moskau plant neuen Turmbau zu Babel“. Auf den Inhalt dieses Artikels näher einzugehen, würde zu weit führen. Es handelt sich um Nr. 5/Mai 1962, 10. Jahrgang.
An den Osterfeiertagen 1962 entstand folgendes Gedicht, von dem ich heute, also nach dreißig Jahren!, nichts zurücknehmen muss:
Die Zelle ist höher als lang,
doch die Wand hoch kann ich nicht geh’n.
Die Zeit dauert länger als draußen:
die Uhr geht im Zeitlupentempo.
Das Cloo in der Ecke wird morgen gekübelt.
Es stinkt – ich weiß es – auch draußen.
Alle Gedanken schon x-mal gedacht
logisch, verquer, literarisch …
Wachtmeister Meier betreute schon
Scholl und Genossen und bekommt
schon bald seine Rent’.
Auch der Richter, der über mich urteilt,
war kein Gegner von unserem Führer.
Scholl’s Scharfrichter Reichhart & Strauß
& Fibag3 & Globke4 & Pabst5: Ich sag’ nichts.
Doch eines, das sag’ ich, ich weiß es genau:
Das Leben geht weiter und wird erst noch schön …
:::
1 Scharfrichter in der Nazizeit.
2 Als „Zwölfender“ werden beim Militär Soldaten bezeichnet, die eine mindestens zwölfjährige Dienstzeit abgeleistet haben. Bereits in der preußischen Armee, aber auch bei der Reichswehr und der Wehrmacht konnte damit ein Anspruch auf Versorgung mit einer Stelle im öffentlichen Dienst erworben werden. In der Regel waren es Unteroffiziersdienstgrade,die anschließend zum Beispiel als Grenzbeamte, als Beamte bei Justiz, Post, Bahn oder der Polizei tätig waren.
3 Bei „Fibag“ handelt es sich um eine der spektakulärsten Affären der Nachkriegszeit. Die „Fibag“, wurde 1960 von einem Architekten Schloß, einem Bauingenieur Braun, dem Passauer Verleger Kapfinger und nicht zuletzt von dem Verteidigungsminister Strauß ins Leben gerufen, um 5.000 Wohnungen für Angehörige der US-Truppen in der BRD zu errichten. Zwecks Streitigkeiten der Gründer dieses 300-Millionen-Mark-Geschäfts kommt es nicht zur Errichtung dieser Wohnungen, dafür zu Serien von Prozessen mit allen möglichen Falschaussagen und unvermeidlichen Meineiden. Die „Fibag“-Affäre übersteht Strauß wie so viele andere Skandale …
4 Globke gehörte in der NS-Zeit zu den wichtigsten Juristen und kommentierte rechtsverbindlich die gegen die Juden gerichteten Rassengesetze. Obwohl er 1945 in den Nürnberger Prozessen zugeben mußte, daß durch seine Einschätzung „die Juden massenweise umgebracht worden sind“, kommt er bereits 1949 als Ministerialdirigent ins Bundeskanzleramt und schaffte es ab 1953 zum Staatssekretär bis zu Adenauers Ausscheiden aus dem Kanzleramt 1963.
5 Die Mörder von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg sind Angehörige der Garde-Kavallerie-Schützen-Division, die Hauptmann Waldemar Pabst befehligt. Pabst steht auch als Anstifter hinter der Bluttat vom 15. Januar 1919. (siehe „Hitler und seine Hintermänner“ von Hans-Günter Richardi, Süddeutscher Verlag, 1991, S. 29/30).
Ferdl Miedaner alias Ferdinand Grüneisl, Kein Mensch ist ganz umsonst. Jüngere Zeitgeschichte mit autobiographischen Elementen, München 1995, 149.