Materialien 1962

Im Juni ...

1962 waren die „Schwabinger Krawalle“. Eigentlich kümmerten sie uns wenig, denn wir hatten genug zu tun und waren zudem mit den Begehrlichkeiten junger Liebe beschäftigt. Doch der Weg zwischen Werkstatt und Wohnung gestaltete sich schwierig, weil dabei ein Überqueren der Leo-
poldstrasse und damit des Hauptschauplatzes nur durch große Umwege zu vermeiden war.

Dietrich Neumann-Henneberg hat die Vorgänge in einem mir vorliegenden Manuskript (Münch-
ner Jazz Family – Jazz an der Isar vom Kriegsende bis 1975; Hrsg. Hans Küfner; unveröffentlichtes Manuskript) so beschrieben:

„Als an einem Juniabend Anwohner des Wedekindplatzes die Darbietungen von fünf jugendlichen Straßenmusikanten als Lärmbelästigung empfinden und die herbeigerufene Polizei zur Verhaf-
tung schreiten will, erhebt sich Widerspruch von Passanten, der bis zur Demolierung des Polizei-
fahrzeugs eskaliert. Sofort angeforderte Verstärkung der Obrigkeit und die dadurch angefachte Wut einer schnell anwachsenden, vorwiegend jugendlichen Menschenmenge steigert sich im weiteren Verlauf zu tagelangen Protestaktionen in ganz Schwabing, die mit unverhältnismäßig harten Maßnahmen der Ordnungsmacht, vor allem berittener Polizei, beantwortet werden. Hunderte von Festnahmen und eine große Zahl von Verletzten, unter ihnen einige schwangere Frauen, sind die Folge der später als “Schwabinger Krawalle” bezeichneten Straßenunruhen. Obwohl das Verhalten der Demonstranten sicherlich weniger vor einem konkreten politischen Hintergrund stattfand, sondern eher von spontan-diffuser Aggression gegen eine überzogene Demonstration obrigkeitsstaatlicher Macht verursacht wurde, war dieser erste deutsche Mas-
senprotest seit Kriegsende gemessen an seinem Ausmaß und seinen Konsequenzen – Rücktritt des Polizeipräsidenten, Einführung der ‚Münchner Linie’ in der Polizeischulung – ein echter Vorläu-
fer späterer Studenten-Proteste und -Revolten.“

Nach einer Woche, in der wir uns um die Ereignisse auf der Leopoldstrasse nicht gekümmert hatten, wollten wir auch mal wieder einen Kaffee und ein Bier im „Schwabinger Nest“ genießen. Es war ruhig auf dem Boulevard, die Tische standen draußen, kein besonders starker Verkehr. Fried-
lich redeten und tranken wir in der Abendsonne, als plötzlich gegen acht Uhr ein Pulk Bullen, hoch zu Ross, aus der Stadt kommend, auf den Fahrbahnen daher klapperte. Die Gehsteige waren wie leer gefegt, wir verzogen uns in das Café, der Wirt kurbelte die Scheibe hoch und schloss die Türe ab. Es wurde dunkel draußen, kein Mensch weit und breit, wie man durchs Fenster sehen konnte, aber irgendwie war die Situation bedrohlich. Wir wären längst heim gegangen, wenn wir nicht gefürchtet hätten, dadurch in Schwierigkeiten zu kommen. Etwa um zehn Uhr erschien ein mit Lametta geschmückter Polizei-Offizier vor der Türe und wurde eingelassen. Er sprach: „Meine Damen und Herren, wir müssen jetzt die Lokale an der Leopoldstrasse räumen. Sie haben freien Abzug. Gehen sie bitte im Gänsemarsch aus dem Lokal nach rechts und verlassen Sie durch die Trautenwolf-Strasse den Bereich der Leopold-Strasse.“

Was blieb uns übrig?! Schätzungsweise dreißig Gäste verließen also, einer hinter dem anderen, das „Nest“ in die angegebene Richtung. Als wir in die Seitenstrasse einbogen, erwarteten uns dort an die zwanzig Bullen, die eine Gasse bildeten und, während wir hindurch liefen, wie die Irren mit Knüppeln auf uns einschlugen. Ich ging zu Boden, meine Hose war zerrissen und Doktor Francke stellte am nächsten Tag zehn Blutergüsse an Kopf und Schultern fest. Eine Dienstaufsichts-Be-
schwerde blieb trotz Einschalten eines Anwalts ohne Wirkung. Dodo bekam, vielleicht weil sie eine Frau ist, nicht so viel ab. Dieses Ereignis ließ mich nicht kalt, wie man sich vorstellen kann.

Es war eine Demonstration des Obrigkeitsstaates, den ich überwunden glaubte, und ich vermutete folgerichtig, dass ein Grossteil der Polizei nach wie vor faschistoid sei. Ich wurde sozusagen schlag-
artig politisiert und verlor jedes Vertrauen zu Politik und Staat.

Julius Schittenhelm1


Zit. in Franz Gans, Die heruntergekommene Traumstadt. Einige Eindrücke vom Schwabing der letzten sechzig Jahre, Schwabinger Gaudiblatt 2009.

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1 Julius Schittenhelm, Münchner Liedermacher, geboren 1926; 1966 Erster Auftritt mit seiner Frau Doris im Song Parnass; bis 1969 touren die Schittenhelms mit dem Programm „Popornopolitophonie“; 1969 Trennung von Doris, Arbeit als Auf-
tragsproduzent für das Label Ohr; (u.a. Embryo, Amon Düül); 1976 Gründung von Schneeball Records, seitdem mit Solo-
programmen unterwegs.

Überraschung

Jahr: 1962
Bereich: Militanz