Materialien 1963
Letzter Gruß an Bolus Krim
Wie eine Schwabinger Faschingsgaudi zum „Kunstskandal“ erklärt wurde
Die „Schwabinger Krawalle“ vom Juli 1962, die öffentliche Aufmüpfigkeit gegen die öffentliche Ordnung, haben den Münchner Stadtteil der Studenten und Künstler nachhaltig verändert. Da-
mals begann, was einige Jahre später etwa in „Happenings“ zum Ausdruck und 1968 zum vor-revolutionären Ausbruch kam. Wie schon um die Wende zum 20. Jahrhundert waren Künstler die Künder neuer Ideen, ohne freilich zunächst verstanden zu werden. Vielmehr wurde ihre Art der Manifestation gern dem Verdikt „Skandal“ zugeordnet.
Am Eingang stand ein roh behauener Gedenkstein mit einer goldbronzierten Krücke und einem giftgrünen Kranz, auf dessen Schleife die „Gruppe Radama“ ihrem hingeschiedenen Mitglied Bolus Krim den letzten Gruß entbot. In der Mitte Januar 1963 eröffneten „Gedächtnisausstellung“ fanden die Besucher seltsame Plastiken und Keramiken von der Hand jenes großen Künstlers, der, wie man erfuhr, seine Mitwelt im Alter von 31 Jahren verlassen hatte.
Acht Tage lang zog die Schau in einer renommierten Schwabinger Galerie das Publikum an und auch die Kritiker, die dem hinterlassenen Werk des Bolus Krim entweder der Qualität oder der Pietät wegen alle Achtung zollten. Bis es sich nicht länger verheimlichen ließ: Bolus Krim hat nie gelebt. Es hätte ein Künstlerjux sein können, eine im Fasching und in Schwabing durchaus ange-
brachte Herausforderung des allzu pauschalen Geschmacks mancher „Kenner“ der modernen Kunst – wenn dieser Geniestreich nicht zwei grobe Tabubrüche enthalten hätte. Und deshalb wurde der Jux zum erklärten Skandal.
Doch der Reihe nach: Zwei Jahre zuvor hatte eine Gruppe junger Künstler, die sich für Genies hielten, eine Ausstellung veranstaltet, die im Wesentlichen aus verkohltem Holz, zerrissenem Blech und eingestreutem Gebäck bestand. Den kunstverständigen Ehrengästen, die zur Eröffnung kamen, spielte man ein Tonband vor, das angeblich der Philosoph Max Bense besprochen hatte, das aber nichts anderes war als eine selbstgemachte Parodie auf das Kauderwelsch einer gewissen Kunstkritik. Das Publikum merkte erst Tage später, dass es genarrt worden war. Dieses war der erste Streich.
Ein Jahr später erfüllte sich das Gesetz der Zellvermehrung, das in der Münchner Künstlerschaft zum alten Brauchtum gehört: Einige der jungen Künstler trennten sich von der Gruppe „Spur“, die den „Kitsch, Dreck und Misthaufen“ ausdrücklich aufs Panier geschrieben hatte, und gründeten einen eigenen Verein, den sie mit dem unergründlichen Namen „Radama“ bedachten. Sie erfanden auch eine neue Arbeitsweise: die Kollektivkunst. Das einzelne Werk wird von allen gemeinsam her-
gestellt. Doch ist in der modernen Kunst nichts ausgefallen genug, als dass es nicht öffentliche An-
erkennung fände. Mit finanzieller Unterstützung des städtischen Kulturreferats gelang den Rada-
mern bald ihre erste „Kollektiv-Ausstellung“.
Nach diesem Erfolg scherte die Gruppe in eine neugegründete Dachorganisation von mehreren Künstlervereinigungen ein, die sich zum Aufruhr gegen die drei tonangebenden Münchner Grup-
pen verschworen hatten und energisch ihren Einzug ins „Haus der Kunst“ forderten. Auch die Gründer der Gruppe Radama, immerhin an der Akademie geschult, wollten gern zur anerkannt „führenden deutschen Kunst“ gehören. Da ihnen das aber nicht sogleich gelang, verfielen sie auf den Gag mit dem Bolus Krim. Zwei bärtige Jungmänner, Max Strack und Erwin Eisch, sowie die fröhliche Gretl Stadler inszenierten für ihre Phantasiefigur („sprechen wir lieber von einer Idee“) besagte Gedächtnisausstellung in einer Schwabinger Galerie, die sich der Avantgarde verschrieben hatte.
Wieder kamen ehrenwerte Gäste nichtsahnend zur Eröffnung. Der befrackte Sprecher der Gruppe senkte die Stimme, als er den jüngst Verstorbenen gedachte: des Bolus Krim und des Kardinals. Das war der erste Tabubruch. Der zweite folgte gleich, indem der Redner das angebliche KZ-Schicksal des Kollegen Bolus schilderte. Doch da man Künstlern – zumal im Fasching – gerne Nar-
renfreiheit einräumt, ließ man den Ulk hingehen, auch dann noch, als er endlich als Ulk erkannt war.
Kaum waren die Tore der Bolus-Krim-Schau geschlossen, konnten die Radama-Leute im Münch-
ner Kunstverein neuerlich ausstellen. Unter ihren Werken befanden sich ein Besenstil und eine Pistole. „Das war ein Racheakt der ,Spur-Leute’“, klagten die Kollektivisten. Einige Tage später beschmierte ein, wie es hieß, „unbekannter Täter“ eine der Steinfiguren von oben bis unten mit Kot. Spätestens hier hörte dann der Spaß endgültig auf.
Was weiter geschah
Mehrmals wurden die Mitglieder der „Gruppe Spur“ in den folgenden Monaten wegen Gottesläste-
rung und Pornographie vor Gericht gezerrt und verurteilt. Fast alle wurden sie später als bahnbre-
chende Künstler anerkannt und geehrt. Erwin Eisch beispielsweise gilt als Pionier der modernen Glaskunst. Aber noch auf einer Jubiläumsveranstaltung der Bayerischen Kunstakademie im Früh-
jahr 2007, als der von dort ausgegangene künstlerische Umbruch von 1968 gewürdigt wurde, konnte sich der Nestor der Münchner Kunstkritiker, Reinhard Müller-Mehlis, über die „Sauereien“ von damals und den zur Schau gestellten „Kunstkot“ erregen.
Karl Stankiewitz, Weißblaues Schwarzbuch. Skandale, Schandtaten und Affären, die Bayern erreg-
ten, München 2019, 158 ff.