Materialien 1964

Damit Zucht und Ordnung herrscht

Geprügelt wird vielseitig und abwechslungsreich

Die Bundesrepublik Deutschland ist wahrlich nicht gerade einer der fortschrittlichsten Staaten. Trotzdem ist man aber immer wieder von neuem erstaunt, im Einzelfall festzustellen, wie mittelalterlich die Verhältnisse auf manchen Gebieten sind. Da musste man in den letzten Tagen lesen, dass rund 80 Prozent bayerischer Volksschüler von ihren „Erziehern“ geprügelt werden. Diese Feststellung traf das Institut für Jugendforschung und Unterrichtspsychologie in München nach einer Umfrage.

Unseren Mädchen und Jungen eröffnen sich dabei mannigfaltigere Möglichkeiten, körperlich gezüchtigt zu werden als sich weiterzubilden. Die deutschen Bildungswege sind meist eingleisig und unbeweglich, die Prügelmethoden dagegen offensichtlich recht vielseitig und abwechslungsreich. Da müssen sich die Kinder auf einen Stuhl knien, sich freihändig bücken oder über eine Bank legen, um sich je nach Laune und Gemütsverfassung ihrer „Vorbilder“ Stockschläge auf das Gesäß verpassen zu lassen. Auch das „Rockspannen“ bei Mädchen soll sich großer Beliebtheit erfreuen. Ganz zu schweigen von Schlägen ins Gesicht und Stockschlägen auf die Hand, die auch 50 Prozent aller Mädchen hinnehmen müssen. Da soll es aber auch noch jenen Strafvollzug geben, bei dem die Jugendlichen gezwungen werden, längere Zeit auf kantigen Holzscheiten zu knien.

Armutszeugnis über Armutszeugnis für bayrische Lehrer. Wer schreitet hier ein? Wenn primitive Menschen ihren Hund durchprügeln, rührt sich der Tierschutzverein. Was aber unternimmt im vorliegenden Fall die für die prügelnden Lehrer zuständige Aufsichtsbehörde? Wahrscheinlich nichts! Der Herr bayrische Unterrichtsminister Maunz ist zurückgetreten.

Wegen der erschreckenden Zustände in bayrischen Schulen? Bewahre! Wegen seiner erschreckenden Vergangenheit, in der er den Terror der Hitler-Gerichtsbarkeit rechtfertigte.

Das Kultusministerium in Bayern ist aber auch jene Behörde, in der man das getrennte Turnen von Katholiken und Protestanten mit der Begründung rechtfertigt, die Anhänger der beiden Konfessionen hätten eine unterschiedliche Auffassung vom Körper. Welche Auffassung die Beamten des Kultusministeriums von der Züchtigung des Körpers haben, kann man ahnen. Jedenfalls hätte der bayrische Minister die Möglichkeit – ähnlich wie zum Beispiel in Hessen – die Prügelstrafe durch Erlass zu verbieten.

Die Begründung, die Eltern prügelten selbst und seien damit einverstanden, dass die Lehrer züchtigen (was durchaus nachgewiesen werden kann) sticht nicht. So ist das Elternrecht nicht auszulegen. Auch elterliche Erziehungsmethoden sind durchaus nicht immer richtig. Man kann es den Eltern nicht überlassen, ob sie ihre Erziehungsgewalt den Lehrern in der Weise übertragen, dass jenen das Verdreschen fremder Kinder möglich wird.

Sicherlich tut man den Bayern unrecht, wenn man die im „Prügel-Report“ festgestellten Tatsachen als kennzeichnend für dieses Bundesland ansieht. Obwohl die vorliegenden Untersuchungsergebnisse ohne Zweifel durch das besonders rückschrittliche Erziehungswesen in Bayern begünstigt wurden, wären wahrscheinlich ähnliche Tatbestände auch andernorts zutage gefördert worden. Auch preußische Prügeltradition in Familie, Schule und Heer hat ihre Nachwirkung!

Wir hören auch immer wieder von unseren jungen Kollegen, die Lehrlinge sind, wie oft manche Meister zu Backpfeifen neigen. Die Gewerkschaften haben es durchgesetzt, dass das durch Gesetz verboten wurde.

Für uns haben auch Jugendliche Anspruch auf Respektierung ihrer menschlichen Würde. Prügeln ist keine Erziehungsmethode! Wo immer geschlagen wird – ob im Elternhaus, in der Schule oder im Betrieb – ist das ein Zeichen von Schwäche. Wer prügeln muss, um Menschen zu überzeugen oder sich durchzusetzen, darf nicht auf Jugendliche „losgelassen“ werden. Körperliche Züchtigung erzeugt duckmäusige, obrigkeitshörige, an Gewalt und Autorität glaubende Menschen.

Was wir aber brauchen, sind kritische, selbstbewusste, rebellische, diskussionsfreudige junge Menschen. Deshalb kämpfen wir gegen die bestehenden patriarchalischen Verhältnisse in Familie, Schule, Bundeswehr und Betrieb.

Gert Lütgert
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Methoden wie im Mittelalter

„Ich höre erst auf, wenn der Schlauch nach Blut riecht. Und wenn der hier kaputt geht, habe ich noch einen mit Bleistaub gefüllten!“ Man glaubt, eine Zeugenaussage über KZ-Misshandlungen zu hören. Aber das sagte am 16. Juli 1964 einer, der sich „Lehrherr“ nennt, der Besitzer einer Autoreparatur-Werkstätte, Karl Daubitz (35) in München. Zu dieser Zeit wand sich sein 15jähriger Lehrling vor Schmerzen. Mit einem 50 cm langen Gummischlauch bekam er Prügel von seinem Lehrmeister. 140 Hiebe schlugen auf seinen Körper, die Ärzte im Krankenhaus waren entsetzt über die Verletzungen. „Das ist nur gut für den Körperbau“, höhnte der „Meister“, er könne ihm auch auf die Brust und anderswohin schlagen.

Ursache? 600 DM fehlten im Büro. Daraufhin wurde der Lehrling bezichtigt. Der beteuerte seine Unschuld. Aber das half ihm nichts. Zu einer Leibesvisitation musste er sich nackt ausziehen. Natürlich wurde nichts gefunden. „Iß nur tüchtig zu Mittag, damit du dem gewachsen bist, was auf dich zukommt“, riet ihm Daubitz. Der Lehrling musste sich dann über eine Bank beugen und bekam eine geschlagene Dreiviertelstunde Hiebe. Weinend bat der Junge, seinen Vater oder die Polizei hinzuzuziehen. „Ich wäre schön blöde. So klug wie die Polizei bin ich schon lange!“ war die Antwort. Und ein Geselle schaute zu, offensichtlich ohne einzugreifen.

Das kalte Grauen kommt einen an, wenn man dies vom Vater beglaubigte Protokoll des Lehrlings liest. Sicher ist das ein Einzelfall. Aber, daß im 20. Jahrhundert, in unseren Tagen, eine derartige Brutalität eines „Erziehers“ gegenüber einem Jugendlichen möglich ist, entsetzt nicht nur uns. Münchens Lehrlinge sind voller Empörung. Zusammen mit Studenten und jugendlichen Kollegen zeigten sie mit einer Demonstration vor der Tür des unmenschlichen „Lehrmeisters“, was sie von seinen Methoden halten.

Wir hoffen, dass die zuständige Innung Maßnahmen ergreift. Die IG Metall beantragte bei ihr, Daubitz zumindest die Lehrbefugnisse zu entziehen. Wir hoffen auch, dass dieser skandalöse Fall sofort vom Staatsanwalt geprüft wird und der Schuldige eine exemplarische Strafe erhält! Der Vater des so brutal misshandelten Lehrlings stellte Strafantrag, ebenso die IG Metall.


Metall 15 vom 28. Juli 1964, 13.

Überraschung

Jahr: 1964
Bereich: Jugend

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