Materialien 1964
Beschwerde gegen Missbrauch des Rundfunks als Missionsinstrument
An Intendanz, Programmdirektion und Programmausschuss
im Rundfunkrat des Bayerischen Rundfunks
29. Oktober 1964
Sehr geehrte Damen und Herren,
in der Sendung vom 30. September 1964 „Besuch am Krankenbett“ im I. Programm, Verfasser Georg Siegmund, konnten sich die bayerischen Ungläubigen, die das Unglück hatten, krank zu sein, und sich auf eine erhebende und tröstende Sendung speziell für sie gefreut hatten, an folgenden Gedanken ermuntern:
„Gottesglauben und seelische Gesundheit
Alle Epochen, in denen ein großer Glaube herrscht, sind glänzend, herzerhebend und fruchtbar für Mitwelt und Nachwelt. Alle Epochen dagegen, in denen ein Unglaube herrscht, sind kümmerlich und verschwinden vor der Nachwelt, weil sie unfruchtbar sind … Ein Glaubender ist ein Siegender! Jesus Christus selbst sagte, der Glaube bedeutet sieghafte Überwindung dieser Welt. Für diese Wahrheit hat in Japan ein medizinischer Fachmann einen eindrucksvollen Beweis erbracht … Während der Jahre, in denen Japan Krieg führte, sind die Selbstmordzahlen in einer ganz erstaunlichen Weise gefallen … Wie ist diese merkwürdige Tatsache zu erklären? Nun, in den Kriegsjahren herrschte im japanischen Volke ein forcierter Patriotismus. Das Volk war von einem starken Willen zum Sieg beseelt. Dem Japaner war in dieser Zeit seine Nation ein quasi-religiöses Idol … Die Nation war das, wofür der einzelne Japaner lebte und starb. Die überschüssige Energie vor dem Kriege wirkte sich … in Roheitsdelikten und Selbstmorden aus. Während des Krieges aber war die vorher auf abwegige Bahnen geratene Energie erfolgreich in einen ungestümen Patriotismus verwandelt … Mit dem verlorenen Kriege wurde dem japanischen Volke sein nationales Idol zerschlagen. Der Kaiserkult wurde verboten. Damit ist das japanische Volk zu einem Volk ohne inneren Halt und Mitte geworden … Vorsichtig tastend fragt sich der japanische Fachmann, der selbst kein Christ ist, wie diesem Übel abgeholfen werden könne. Er geht von der Einsicht aus, dass der Mensch etwas braucht, wofür zu leben sich lohnt. Letztlich braucht er einen Glauben an etwas Absolutes. Noch zögernd stellt Tatai schließlich die Frage, ob es nicht an der Zeit sei, dass die Japaner die christliche Religion annähmen …
Man wird hier einwenden: Wenn wirklich ein großer aufreißender Glaube so bedeutsam für die seelische .Gesundheit sein soll, dann müssten die großen Heiligen eigentlich die seelisch gesündesten Menschen gewesen sein … Er konnte es sich nicht verheimlichen, dass gerade die Mystiker die menschlich Echtesten und Größten sind. Sie verkörpern vollendete seelische Gesundheit. Mag es auch in außerchristlichen Religionen bedeutsame Formen von Mystik geben, vollendete Mystik fand Bergson nur bei den christlichen Mystikern. Die Mystiker können – sagt Bergson – geradezu das Paradebeispiel für die Definition seelisch-geistiger Gesundheit abgeben …“
Auch weiterhin gab der Autor seinen kranken Zuhörern mehr als deutlich zu verstehen, ein Kranker ohne Gottesglauben sei doppelt krank. Abschließend warb er noch für seine eigenen Bücher.
Die Humanistische Union tritt mit Nachdruck dafür ein, dass in den Programmen der deutschen Rundfunkanstalten alle Anschauungen und alle Meinungen zu Wort kommen, – unter der Voraussetzung jedoch, dass sie als spezifische Meinung einer bestimmten Person oder einer bestimmten Gruppe durch die Placierung in einer Sendereihe oder durch ihren Inhalt und Tenor erkennbar sind.
Es stellt jedoch eine grobe Verletzung der durch Landesgesetze festgelegten institutionellen Neutralität einer Rundfunkanstalt dar, wenn sie Gruppenmeinungen in einem Rahmen und in einer Form ausstrahlt, durch die diese als Wahrheit schlechthin erscheinen und überdies – wie im vorliegenden Fall – für andere Hörergruppen diskriminierend sind.
Bei einer Sendung, die nicht für katholische oder evangelische Kranke, sondern für kranke Zuhörer des Bayerischen Rundfunks überhaupt berechnet ist, sind apologetische Äußerungen wie die zitierten Formulierungen des Autors Georg Siegmund psychologisch verantwortungslos.
Wir protestieren gegen einen derartigen Missbrauch das Rundfunks und bitten Sie, dafür Sorge zu tragen, dass zukünftig nicht ausgerechnet Kranke zu Objekten missionarischen Eifers gemacht werden.
Mitteilungen der Humanistische Union 18 vom November/Dezember 1964, 5 f.