Materialien 1964
„Streiflicht“ zum Todestag Sigmund Freuds
Am 23. September 1964, dem 25. Todestag Sigmund Freuds, brachte die Süddeutsche Zeitung auf ihrer Titelseite unter der beliebten, nicht mit Namen gezeichneten Rubrik, „Streiflicht“ eine kaum getarnte Verunglimpfung des Forschers Freud und seiner Lehre. Die Humanistische Union gab dazu am 30. September folgende Stellungnahme an die SZ: „Die 25. Wiederkehr des Todestages von Sigmund Freud hat die SZ dazu veranlasst, ein trübes „Streiflicht“ auf die von ihm geschaffene psychoanalytische Lehre zu werfen. Wir protestieren gegen dies Produkt von Taktlosigkeit und Ignoranz besonders deswegen, weil es sich hier nicht um eine gelegentliche Entgleisung eines Einzelnen handelt, sondern um ein typisches Erzeugnis einer im heutigen Deutschland weit verbreiteten Mischung von doktrinärer Anmaßung und wissenschaftlicher Unbildung.
Man durfte erwarten, dass die SZ bei diesem Anlass etwas zu sagen gehabt hätte über einen großen Menschen und genialen Entdecker, über den lange verkannten Wissenschaftler und den kurz vor seinem Tod ins Exil getriebenen Juden Sigmund Freud. Stattdessen bietet sie uns eine in schnodderigem Ton geschriebene Plauderei über die Psychoanalyse, die nur verfasst werden konnte von jemandem, der diese nur von Hörensagen kennt und der von der Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland nichts weiß.
Als Freud, von den Nazis aus Wien vertrieben, 1939 nach London emigrierte, kam eine verhängnisvolle Entwicklung zum Abschluss, deren Nachwirkungen für das deutsche Geistesleben auch heute noch unabsehbar sind: Die Gleichschaltung der deutschen Psychiatrie und die Auswanderung aller jüdischen Psychoanalytiker aus Deutschland und Österreich führte zur fast völligen Ausmerzung der Psychoanalyse im deutschen Kulturkreis. An dieser Lage hat sich bis heute noch nicht viel geändert. Nur deshalb konnte es der Verfasser des „Streiflichts“ wagen, seinen Lesern wieder einmal die lächerliche, unzählige Male als vulgäres Missverständnis erwiesene Behauptung vorzusetzen, die Psychoanalyse sehe im Sexuellen das „Grundmotiv aller menschlichen Antriebe“; nur deshalb kann er behaupten, das Wesen der psychoanalytischen Therapie bestehe im Bewusstmachen des Sexuellen durch Traumanalyse. Nur in dem hier herrschenden Klima von Ignoranz und Vorurteilen braucht sich jemand nicht zu entblöden, die Ausbreitung der Psychoanalyse in der Periode zwischen den Weltkriegen folgendermaßen zu erklären: „… eine in den Grundfesten erschütterte Welt nahm (Freuds) mit viel Wenn und Aber eingeschränkte Lehre begierig als wissenschaftliche Rechtfertigung einer ganzen Reihe von gesellschaftlichen Übeln an …“ Dass er zur Feier des Todestages von Sigmund Freud von dessen ganzer Forscherleistung nichts übrig lässt, als einige von unserer Sprache „mit größter Unbefangenheit“ verwendete Fachausdrücke, das macht dem Herrn Streiflichtverfasser allerdings auch hierzulande so leicht keiner nach.
Er geht so weit, der Psychoanalyse jeden therapeutischen Wert abzusprechen, wenn er von ihr sagt: „Das Schicksal wird mit Worten beschrieben, aber nicht gewendet. Denn die Beschreibung des Krankheitsbildes nimmt den Charakter der Ersatzbefriedigung an.“ Auch die Feststellung, die Psychoanalyse könne nur demjenigen Heilung bringen, der an sie glaubt, ist nicht etwa als ein Zugeständnis gemeint, sondern als ironischer Kommentar zur Wissenschaftlichkeit des psychoanalytischen Heilverfahrens, welches auf einer Lehre beruhe, die „ebenso faszinierend wie ausweglos“ sei.
Die zitierten Missverständnisse und Entstellungen sind mehr als fünfzig Jahre alt; aber es findet sich in diesem „Streiflicht“ auch eine Behauptung über die Psychoanalyse, die ebenso neu wie erstaunlich anmutet: „… auch (sic!) sie hat die ihr innewohnenden Züge eines totalitären Systems entfaltet.“ Vermittels dieses „auch“ wird das psychoanalytische „Imperium“ (sic!) auf eine Stufe gestellt mit Hitlers totalitärem Staat. Man braucht kein weiteres Wort zu verlieren über die Absurdität einer Denkweise, welche den systematischen Erklärungsanspruch einer wissenschaftlichen Theorie nicht zu unterscheiden vermag von den totalitären Machtansprüchen eines Psychopathen. Wir müssen uns jedenfalls gegen literarische Erzeugnisse verwahren, die solch verleumderische Begriffverwirrung im Gewande einer geistreichen Plauderei einzuschmuggeln suchen.
Mitteilungen der Humanistische Union 17 vom September/Oktober 1964, 4 f.