Materialien 1965

Ist der „Achtzehnte Brumaire“ veraltet?

Herbert Marcuse

Marx’ Analyse der Entwicklung der Revolution von 1848 zur autoritären Herrschaft des Louis Bonaparte antizipiert die Dynamik der spätbürgerlichen Gesellschaft: die aufgrund ihrer eigenen Struktur sich vollziehende Liquidierung ihrer liberalen Periode. Die parlamentarische Republik verwandelt sich in einen politisch-militärischen Apparat, an deren Spitze ein „charismatischer“ Führer der Bourgeoisie die Entscheidungen abnimmt, die diese Klasse nicht mehr aus eigener Macht fällen und durchführen kann. Zugleich erliegt in dieser Phase die sozialistische Bewegung: das Proletariat tritt (für wie lange?) von der Bühne ab. All dies ist zwanzigstes Jahrhundert – aber zwanzigstes Jahrhundert in der Perspektive des neunzehnten, dem das Grauen der faschistischen und nachfaschistischen Periode noch fremd ist. Dieses Grauen erfordert eine Korrektur der einleitenden Sätze des „Achtzehnten Brumaire“: die „weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen“, die sich „sozusagen zweimal“ ereignen, ereignen sich das zweite Mal nicht mehr als „Farce“. Oder vielmehr: die Farce ist furchtbarer als die Tragödie, auf die sie folgt.

Die parlamentarische Republik verfällt in eine Situation, in der die Bourgeoisie nur noch die Wahl hat: „Despotie oder Anarchie. Sie stimmt natürlich für die Despotie.“ Marx berichtet die Anekdote vom Konstanzer Konzil, nach der der Kardinal Pierre d’Ailly den Advokaten der Sittenreform zurief: „Nur noch der Teufel in eigener Person kann die katholische Kirche retten, und ihr verlangt Engel.“ Selbst das Verlangen nach Engeln ist heute nicht mehr auf der Tagesordnung. Aber wie kommt es zu der Situation, in der nur noch die autoritäre Herrschaft, die Armee, der Ausverkauf und Verrat ihrer liberalen Versprechen und Institutionen die bürgerliche Gesellschaft retten kann? Versuchen wir, das Allgemeine, das Marx überall in den besonderen geschichtlichen Ereignissen sichtbar macht, kurz zusammenzufassen.

„Die Bourgeoisie hatte die richtige Einsicht, dass alle Waffen, die sie gegen den Feudalismus geschmiedet, ihre Spitze gegen sie selbst kehrten, dass alle Bildungsmittel, die sie erzeugt, gegen ihre eigene Zivilisation rebellierten, dass alle Götter, die sie geschaffen, von ihr abgefallen waren. Sie begriff, dass alle sogenannten bürgerlichen Freiheiten und Fortschrittsorgane ihre Klassenherrschaft zugleich an der gesellschaftlichen Grundlage und an der politischen Spitze angriffen und bedrohten, also ,sozialistisch’ geworden waren.“

Diese Umkehrung ist Manifestation des Konflikts zwischen der politischen Form und dem gesellschaftlichen Inhalt der Herrschaft der Bourgeoisie. Die politische Herrschaftsform ist die parlamentarische Republik, aber in Ländern „mit entwickelter Klassenbildung“ und modernen Produktionsbedingungen ist die Republik „nur die politische Umwälzungsform der bürgerlichen Gesellschaft … und nicht ihre konservative Lebensform.“ Die gegen den Feudalismus gewonnenen Freiheits- und Gleichheitsrechte, die in den parlamentarischen Debatten, Kompromissen und Entscheidungen definiert und eingerichtet werden, lassen sich nicht im Rahmen des Parlaments und der von ihm gesteckten Grenzen anhalten: sie werden verallgemeinert in den außerparlamentarischen Klassenkämpfen und -Interessen. Die parlamentarische Diskussion selbst, in ihrer rational-liberalen Form (auch sie ist im zwanzigsten Jahrhundert schon längst abgestreift und zur Vergangenheit gemacht worden) hat jedes Interesse, jede gesellschaftliche Einrichtung „in allgemeine Gedanken verwandelt“: als das allgemeine Interesse der Gesellschaft ist das besondere Interesse der Bourgeoisie zur Herrschaft gekommen. Aber die Ideologie, offiziell geworden, drängt zur Verwirklichung. Die Debatten im Parlament setzen sich fort in der Presse, in den Kneipen und Salons, in der „Volksmeinung“. Das „parlamentarische Regime überlässt alles der Entscheidung der Majoritäten, wie sollen die großen Majoritäten jenseits des Parlaments nicht entscheiden wollen? Wenn ihr auf dem Gipfel des Staates die Geige streicht, was anderes erwarten, als dass die da drunten tanzen?“ Und „die da drunten“, das ist der Klassenfeind, oder das sind die Nichtprivilegierten der bürgerlichen Klasse. Freiheit und Gleichheit hier meinen etwas sehr anderes – etwas das die eingerichtete Herrschaft bedroht. Die Verallgemeinerung, die Verwirklichung der Freiheit – das ist nicht mehr das Interesse der Bourgeoisie, das ist „Sozialismus“. Wo ist der Ursprung dieser verhängnisvollen Dynamik, wo lässt sie sich einfangen? Das drohende Gespenst des Feindes scheint überall zu sein, im eigenen Lager. Die herrschende Klasse mobilisiert, nicht nur zur Liquidierung der sozialistischen Bewegung, sondern auch ihrer eigenen Institutionen, die in Widerspruch mit dem Interesse des Eigentums und des Geschäfts geraten sind: die bürgerlichen Rechte, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, das allgemeine Wahlrecht werden diesem Interesse geopfert, damit die Bourgeoisie „nun unter dem Schutze einer starken und uneingeschränkten Regierung ihren Privatgeschäften nachgehen könne. Sie erklärte unzweideutig, dass sie ihre eigene politische Herrschaft loszuwerden schmachte, um die Mühen und Gefahren der Herrschaft loszuwerden.“ Die Exekutive wird zur selbständigen Gewalt.

Aber als solche Gewalt bedarf sie der Legitimierung. Mit ihrer Säkularisierung der Freiheit und Gleichheit gefährdet die bürgerliche Demokratie den abstrakten, transzendenten, „innerlichen“ Charakter der Ideologie und damit die Beruhigung in der wesentlichen Differenz zwischen Ideologie und Wirklichkeit – die innere Freiheit und Gleichheit will sich veräußerlichen. In ihrem Aufstieg hat die Bourgeoisie die Massen mobilisiert; sie hat sie immer wieder verraten und niedergeschlagen. Die sich entfaltende kapitalistische Gesellschaft muss in zunehmendem Maße mit den Massen rechnen, sie in den ökonomischen und politischen Normalzustand eingliedern, sie zahlungsfähig und sogar (bis zu einem bestimmten Grade) herrschaftsfähig machen. Der autoritäre Staat bedarf der demokratischen Massenbasis; der Führer muss gewählt werden – vom Volke, und er wird gewählt. Das allgemeine Wahlrecht, das von der Bourgeoisie de facto und dann auch de jure negiert wird, wird zur Waffe der autoritären Exekutive gegen die widerspenstigen Gruppen der Bourgeoisie. Marx gibt im „Achtzehnten Brumaire“ die vorbildliche Analyse der plebiszitären Diktatur. Damals waren es die Massen der Kleinbauern, die dem Louis Bonaparte zur Macht verhalfen. Ihre geschichtliche Rolle in der Gegenwart ist in der Marxschen Analyse projiziert. Die bonapartistische Diktatur kann die Misere des Bauerntums nicht beseitigen; es findet seinen „natürlichen Verbündeten und Führer in dem städtischen Proletariat, dessen Aufgabe der Umsturz der bürgerlichen Ordnung ist“. Und vice versa: in den verzweifelten Bauern „erhält die proletarische Revolution den Chor, ohne den ihr Sologesang in allen Bauernnationen zum Sterbelied wird“.

Die Verpflichtung der Marxschen Dialektik zur begriffenen Wirklichkeit verbietet die dogmatische Verpflichtung: nirgends vielleicht ist der Abstand der Marxschen Theorie von der gegenwärtigen Marxschen Ideologie größer als in der Erkenntnis von der „Abdankung“ des Proletariats in einem der „glänzendsten Jahre industrieller und kommerzieller Prosperität“. Die Aufhebung des allgemeinen Wahlrechts schloss die Arbeiter „von aller Teilnahme an der politischen Gewalt aus“. Indem sie sich „einem solchen Ereignis gegenüber von den Demokraten lenken lassen und das revolutionäre Interesse ihrer Klasse über einem augenblicklichen Wohlbehagen vergessen konnten, verzichteten sie auf die Ehre, eine erobernde Macht zu sein, unterwarfen sich ihrem Schicksal, bewiesen, dass die Niederlage vom Juni 1848 sie für Jahre kampfunfähig gemacht und dass der geschichtliche Prozess zunächst wieder über ihren Köpfen vor sich gehen müsse“. Schon 1850 hatte Marx vor der Londoner Zentralbehörde sich gegen die Minorität gewandt, die an „die Stelle der kritischen Anschauung“ eine „dogmatische“ und an die Stelle der materialistischen eine idealistische Bewertung der Situation setzten: „Während wir den Arbeitern sagen: Ihr habt 15, 20, 50 Jahre Bürgerkriege und Völkerkämpfe durchzumachen, nicht nur um die Verhältnisse zu ändern, sondern um Euch selbst zu ändern und zur politischen Herrschaft zu befähigen, sagt Ihr im Gegenteil: Wir müssen gleich zur Herrschaft kommen …“1

Das Bewusstsein der Niederlage, selbst der Verzweiflung, gehört zur Wahrheit der Theorie und ihrer Hoffnung. Diese Gebrochenheit des Denkens – Zeichen seiner Authentizität vor der gebrochenen Wirklichkeit – bestimmt den Stil des „Achtzehnten Brumaire“: gegen den Willen dessen, der es geschrieben hat, wird das Werk zur großen Literatur. Die Sprache wird zum Begriff der Wirklichkeit, der dem Schrecken des Geschehens durch die Ironie standhält. Vor ihr bestehen keine Phrasen, keine Klischees – auch nicht die des Sozialismus. In dem Maße, in dem die Menschen die Idee der Menschlichkeit verraten, verkaufen, und deren Kämpfer niedermetzeln oder einsperren, wird die Idee als solche nicht mehr aussprechbar; der Hohn und die Satire ist der wirkliche Schein ihrer Wahrheit. Deren Gestalt ist sowohl in der „sozialistischen Synagoge“, die die Regierung im Luxembourg-Palast einrichtet, wie in der Schlächterei der Junitage. Vor dem Gemisch der Dummheit, Gier, Gemeinheit und Brutalität, das die Politik ausmacht, verschlägt dem Ernst die Sprache. Was geschieht, ist komisch: jede Partei stützt sich auf die Schultern der nächsten, bis diese sie fallen lässt und sich selbst auf die nächste stützt. So geht es von Links bis Rechts, von der proletarischen bis zur Ordnungspartei.

„Die Ordnungspartei zieht ihre Schultern ein, lässt die Bourgeois-Republikaner purzeln und wirft sich selbst auf die Schultern der bewaffneten Gewalt. Sie glaubt noch auf ihren Schultern zu sitzen, als sie an einem schönen Morgen bemerkt, dass sich die Schultern in Bajonette verwandelt haben. Jede Partei schlägt von hinten aus nach der weiterdrängenden und lehnt sich von vornüber auf die zurückdrängende. Kein Wunder, dass sie in dieser lächerlichen Positur das Gleichgewicht verliert und, nachdem sie die unvermeidlichen Grimassen geschnitten, unter seltsamen Kapriolen zusammenstürzt.“

Das ist komisch, aber die Komödie ist selbst schon die Tragödie, in der alles verspielt und geopfert wird.

Das Ganze ist noch neunzehntes Jahrhundert: liberale, vorliberale Vergangenheit. Die für Marx noch lächerliche Figur des dritten Napoleon hat längst anderen und furchtbareren Politikern Platz gemacht; die Klassenkämpfe haben sich verwandelt, und die herrschende Klasse hat das Herrschen gelernt. Das demokratische Parteiwesen ist entweder abgeschafft oder auf die Einheit reduziert, die notwendig ist, um die Gesellschaft in ihren etablierten Institutionen nicht zu gefährden. Und das Proletariat ist in die Allgemeinheit der arbeitenden Massen der großen Industrieländer eingegangen, die den Produktions- und Herrschaftsapparat tragen und erhalten. Er zwingt die Gesellschaft zusammen in eine verwaltete Totalität, die die Menschen und das Land in allen Dimensionen gegen den Feind mobilisiert. Nur noch unter totaler Verwaltung, die jederzeit die Macht der Technik in die des Militärs, die höchste Produktivität in letzte Destruktion verwandeln kann, kann diese Gesellschaft sich auf erweiterter Stufenleiter reproduzieren, denn der Feind ist nicht nur außerhalb, er ist auch in ihr selbst, als ihre eigene Möglichkeit: Befriedung des Existenzkampfes, Abschaffung der entfremdeten Arbeit. Marx selbst hat nicht vorausgesehen, wie schnell und wie nah der Kapitalismus an diese seine Möglichkeit stoßen würde, und wie die Kräfte, die ihn sprengen sollten, zu Instrumenten seiner Herrschaft wurden. Auf dieser Stufe ist der Widerspruch zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen so weit und so offenbar geworden, dass er rational nicht mehr bewältigt, nicht mehr ausgedrückt werden kann. Kein technologischer, kein ideologischer Schleier kann ihn mehr verhüllen. Nur noch als nackter Widerspruch, als die Vernunft gewordene Unvernunft kann er erscheinen; nur noch ein falsches Bewusstsein kann ihn ertragen, das gegen den Unterschied von wahr und falsch selbst gleichgültig geworden ist. Er findet seinen authentischen Ausdruck in der Orwellschen Sprache (die von Orwell zu optimistisch für 1984 projiziert war). In ihr ist Sklaverei als Freiheit angesprochen, bewaffnete Intervention als Selbstbestimmung, Folter und Feuerbomben als „conventional techniques“, das Objekt als Subjekt. In ihr verschmelzen Politik und publicity, Geschäft und Menschenliebe, Information und Propaganda, gut und schlecht, die Moral und ihre Beseitigung. In welcher Gegensprache kann hier noch die Vernunft zur Sprache kommen? Was gespielt wird, ist nicht mehr Satire, und die Ironie wird von dem Ernst des Grauens Zynismus. Der „Achtzehnte Brumaire“ beginnt mit der Erinnerung an Hegel: die Marxsche Analyse war noch der „Vernunft in der Geschichte“ verpflichtet: aus ihr, und aus ihren daseienden Manifestationen schöpfte die Kritik ihre Kraft.

Aber auch die Vernunft, der Marx verpflichtet war, war damals nicht „da“: sie erschien nur in ihrer Negativität und in den Kämpfen derer, die sich auflehnten gegen das Daseiende, die protestierten, und die geschlagen wurden. Ihnen hat das Marxsche Denken die Treue gehalten – im Angesicht der Niederlage, und gegen die herrschende Vernunft. Und ebenso hat Marx in der Niederlage der Pariser Commune von 1871 die Hoffnung für die Hoffnungslosen festgehalten. Wenn heute die Unvernunft selbst zur Vernunft geworden ist, so ist sie dies nur als die Vernunft der Herrschaft. So bleibt sie die Vernunft der Ausbeutung und Repression – selbst wenn die Beherrschten mit ihr mitmachen. Und überall sind auch die noch da, die protestieren, die sich aufbäumen, die sich schlagen. Selbst in der Gesellschaft des Überflusses sind sie da: die Jungen, die das Sehen und Hören und Denken noch nicht verlernt haben, die noch nicht abgedankt haben, und die, die noch die Opfer des Überflusses sind und die schmerzlich das Sehen, Hören und Denken erst lernen. Für sie ist der „Achtzehnte Brumaire“ geschrieben, für sie ist er nicht veraltet.

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1 Enthüllungen über den Kommunistenprozess zu Köln, herausgegeben von Franz Mehring, Berlin 1914, 52.


Kürbiskern. Literatur und Kritik 1/1966, 135.