Materialien 1965
Barbaren in Bayern
Politische Flüchtlinge sind unbeliebt —
Ihre Tätigkeit beschränkt sich nicht auf Heimatkunde
von Thilo von Uslar
Der Fremdling, den Witterung oder politische Wirren an die Küsten des vor klassischen Hellas verschlug, musste auf der Hut sein, nicht kurzerhand und völlig legal totgeschlagen zu werden. Nur der „Gastfreund“ vermochte den „Barbaros“, den Fremden aus dem vogelfreien Zustand zu retten.
Ausländer, die in der Bundesrepublik um Asyl bitten, etwa als politisch Verfolgte, sehen sich einer weit weniger simplen Rechtslage gegenübergestellt. Ihr Schicksal regelt sich aus einem Passgesetz von 1952, einer Passverordnung von 1964, einer Ausländerpolizeiverordnung aus dem Jahre 1938, einem Gesetz über die Rechtsstellung heimatloser Ausländer von 1951, einer Asylverordnung von 1953 und einem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, der Genfer Konvention von 1951. Der Schutzsuchende von heute braucht also mehr als nur einen Gastfreund – er braucht einen guten Anwalt.
Besonders dringend braucht er ihn, wenn ihn ein ignorantes Schicksal nach München verschlägt. München ist die Stadt mit den prozentual meisten Ausländern in Deutschland. Mindestens jeder zehnte Münchner ist Ausländer. Die Bayern-Metropole von über siebzig Nationen. Während der österreichische Emigrationsadel sich darauf beschränkt, den Ton in der Gesellschaft anzugeben, haben sich die antikommunistischen Exilgruppen aus den osteuropäischen Ländern — soweit ihr Tatendurst sich nicht im Maklergewerbe erschöpft — auf politische Aktivitäten konzentriert. Dass sich ihre Tätigkeit nicht auf heimatkundliche Vorträge beschränkt, darauf deuten gelegentliche Attentate hin, bei denen auch unbeteiligte einheimische Passanten in Mitleidenschaft gezogen werden. Bei einem Sprengstoffanschlag gegen den slowakischen Politiker Cernak in einem Münchner Postamt kamen zwei deutsche Besucher des Amtes ums Leben.
Zuständig für Ausländer, die sich auf solche oder andere Weise nicht ordentlich betragen, ist das Amt für öffentliche Ordnung der Stadt München. Der Chef dieser Behörde, Dr. Günther Mayer, machte dem Gesetzgeber den Vorschlag, „Ausländern politische Betätigung auf deutschem Boden zu verbieten. Sie sollen ihre Fehden in ihrer Heimat austragen“.
Dass gerade dieses Ansinnen wenig Verständnis für die Lage derer beweist, die sich um politisches Asyl bemühen, zeigt das Beispiel der beiden persischen Studenten Khosrow Naraghi und Mehdi Khanbaba-Teherani. Ihnen erteilte das Amt (für eine Gebühr von zehn Mark) Aufenthaltsverbot. Das Verbot sollte sofort vollzogen werden. Dass es nicht dazu kam, lag in erster Linie daran, dass sich die beiden in Untersuchungshaft befanden.
Kosten werden nicht gescheut
Allerdings sollten auch Naraghi und Teherani vor vollendete Tatsachen gestellt werden. Münchens Hüter der öffentlichen Ordnung sind dafür bekannt, dass sie für Ausländer, die ihnen missliebig erscheinen, keine Kosten scheuen. Sie zahlen Flugtickets nach Persien ebenso wie nach Neuseeland.
Naraghi und Teherani waren von der Staatsanwaltschaft angeklagt worden, kommunistische Propaganda getrieben zu haben. Man hatte bei einem die Zeitschrift Mardom und beim anderen eine Anweisung für den Partisanenkrieg von dem Kubaner Erneste Che Guevara in mehrfacher Ausfertigung gefunden. Während das Gericht aber von den beiden abließ und die Verfahren einstellte, versteifte sich die Haltung der Münchener Behörde. Sie ernannte den kubanischen Wirtschaftsminister Che Guevara nicht nur zum Verteidigungsminister, um damit der Sache einen besonders gefährlichen Anstrich zu geben. Sie fand auch, es sei besonders erschwerend, dass bei einem der Verdächtigen zahlreiche Aufklebeadressen gefunden wurden und zog den Schluss, hier werde die verfassungsmäßige Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet. Dass die Adressen dazu dienen sollten, vaterländische Gedichte von persischen Lyrikern an Freunde zu verschicken, dass die kommunistische Zeitschrift Mardom allen Persern in Deutschland unaufgefordert und ohne Absender zugeschickt wird, dass sie außerdem in persischer Sprache und Schrift verfasst ist, konnte die Behörde nicht irre machen. Erst als sie im Streit vor dem Verwaltungsgericht unterlag, fügte sie sich.
Vor dem Verwaltungsgericht konnte nämlich einer der Beschuldigten, Mehdi Teherani, glaubhaft machen, dass ihm in Persien, würde er dorthin abgeschoben, ernsthafte Gefahr für Leib und Leben drohe. Er war in persischen Gefängnissen viermal gefoltert worden. Das aber hatte das Amt für öffentliche Ordnung ebensowenig interessiert wie der Umstand, dass Teherani nicht nur unmittelbar vor seiner Promotion als Jurist stand, sondern auch inzwischen mit einer Deutschen verheiratet war, mit der ein Kind hat, und die keineswegs bereit war, ihm zu folgen, wenn er nach Persien abgeschoben worden wäre.
Wie wenig Eindruck derartige Argumente auf die Behörde machen, verriet Direktor Mayer vom Amt für öffentliche Ordnung. Für ihn sind Hinweise auf Folterungen im Heimatland „lächerliche Begründungen“. Seine Behörde hat das Problem, ob den Abzuschiebenden tatsächlich Gefahr droht, wenn sie nach Hause zurückkehren, so gelöst: Sie erkundigt sich über die deutsche Botschaft bei der Regierung des Landes. Mit Hilfe dieses Rezeptes erfuhr Mayer auch, dass in Persien mittelalterliche Straf- und Foltermethoden „nur noch in ländlichen Gebieten gegen Rückfalldiebe, nicht aber gegen politische Täter“ angewandt würden.
Zigeuner und Doktorand
So ist es zu verstehen, dass Behördenchef Mayer der komplizierten Gegenwart eher zugetan ist als dem überwundenen Mittelalter. Er klagte einem Reporter sein Leid: das Versammlungsgesetz erlaube leider „jedermann“, Versammlungen abzuhalten. Studenten aus dem Ausland müsse man gestatten, gegen ihre Regierungen zu demonstrieren, und die Polizei müsse sogar die Straßen dafür absperren: „Alles kostet das Geld des Steuerzahlers“, obwohl doch solche Demonstrationen für „Deutschland ohne jedes Interesse sind“.
Abgesehen davon, dass in der Regel deutsche, am politischen Objekt zumindest solidarisch interessierte Studentengruppen die Proteste ausländischer Kommilitonen mitveranstalten, drückt diese Haltung wohl auch eine tiefer verwurzelte Abneigung gegen Fremde aus. Sieht man einmal davon ab, dass der Gefängnisarzt der Haftanstalt Stadelheim bei München mit dem Untersuchungshäftling Teherani per „Du Zigeuner“ verkehrte, obwohl Teherani von seinen Professoren als Doktorand wissenschaftlich ernst genommen wurde und dem Arzt keineswegs das Du angeboten hatte, so kann auch die Verstiegenheit der amtlichen Argumentation nur dadurch erklärt werden, dass zu einer Abneigung gegen Ausländer die behördliche Sorge hinzukommt, nicht rechtschaffen genug antikommunistisch vorzugehen.
Der Münchener Rechtsanwalt Dr. Hans Heldmann, der die beiden Perser vor den Folgen behördlichen Übereifers bewahrte und der in München als einschlägiger Asylrechtsspezialist gilt, spricht sogar von kleinbürgerlicher Ausländerabneigung und apostrophiert den unterbewussten Machtrausch subalterner Organe mit dem Ausspruch eines Untersuchungsrichters gegenüber seinen Mandanten: „Wir haben ein gutes diplomatisches Verhältnis zum Kaiserreich Irak, und das werden Sie nicht stören!“
Diplomatisches Wohlverhalten steht auch dem Asylgesuch eines anderen Klienten des Dr. Heldmann entgegen. Der Portugiese S. (den Namen kann der Anwalt einstweilen nicht nennen) hatte zwar auch mit dem für ihn zuständigen Ausländeramt zu tun, musste aber von dem Eindruck berichten, als „ob der dortige Beamte den Unterschied zwischen den beiden Verfahren (Asylgewährung nach der Genfer Konvention oder nach Artikel 16 des Grundgesetzes) nicht überblicken kann“. Dem gleichen Ausmaß an Verständnis begegnete S. auch bei der „Bundesdienststelle für die Anerkennung politischer Flüchtlinge“ im bayerischen Zirndorf.
S. war 1962 nach Deutschland gekommen, nachdem er sich in Portugal als Studentenvertreter unbeliebt gemacht hatte. Kurz nach seiner Ankunft wurden zwei seiner engsten Mitarbeiter in der juristischen Fachschaft der Universität Lissabon verhaftet. Außerdem hatte er sich als Sprecher der portugiesischen Studenten auf internationalen Studentenkonferenzen in Paris und Caen gegen das Regime Salazar exponiert. Er trug der Bundesdienststelle, bei der er das Aktenzeichen „Portugal“ führte, vor, in seinem Land werde jede studentische Bestrebung zur Selbstverwaltung und politischer Bildungsarbeit als kommunistische Subversion ausgelegt; die Verbände würden aufgelöst und die Studentenvertreter verhaftet. S. legte eine umfangreiche Dokumentation über Verhaftungen und internationale Proteste vor, legte dar, dass seit den Stimmengewinnen der oppositionellen Gruppen 1958 die Atmosphäre besonders nervös geworden sei, erwähnte die Ermordung des Oppositionsführers Delgado und seiner Sekretärin und verschiedener anderer Politiker, die sich gegen Salazar exponiert hatten.
Dennoch beschied die Bundesdienststelle, der Asylsuchende könne sich nicht auf die Genfer Konvention berufen, da diese nur Personen betreffe, die infolge von Ereignissen, die vor dem 1. Januar 1951 eingetreten sind, geflohen seien. Darauf, dass die autoritäre Neuordnung des Staates Portugal durch Salazar 1927 ein solches Ereignis sein könnte und die Fluchtgründe des S. nur eine Folge davon wären, wollte der Behörde nicht eingehen – ganz im Gegensatz zu den international anerkannten völkerrechtlichen Kommentaren. Statt dessen meinte die Behörde, wenn nach 1927 ein größerer Personenkreis der portugiesischen Bevölkerung „eine gewichtige und nachhaltige Beeinträchtigung gegenüber der Mehrheit des übrigen Volkes erlitten habe“, wovon übrigens nichts bekannt sei, dann „müsste zwangsläufig eine größere Flüchtlingsbewegung von Portugal in andere Staaten zu beobachten sein“. Davon wiederum sei in Zirndorf auch nichts bekannt.
Es ist nicht sicher, ob die Zirndorfer Bundesbehörde, der der Innenminister vorsteht, anders entschieden hätte, wenn ihr bekannt gewesen wäre, dass Tausende von Portugiesen nach der Eröffnung des Konzentrationslagers Tarrafal nach Brasilien und in andere Länder geflohen sind. In Zirndorf fehlt es den Asylsuchenden an Rechtsberatung. Wer sich nicht einen versierten Anwalt leisten kann, kann, wie es geschah, mit vorgehaltener Pistole verladen und in sein „Heimatland“ zurückverfrachtet werden. Dass mit dem 1. Oktober ein neues Asylrecht Kraft trat, das die vielfältigen Bestimmungen in einer Weise zusammenfasst, die es den Behörden erlaubt, zügiger durchzugreifen, kann den Asylsuchenden kaum ein Trost sein. Bisher jedenfalls pflegten die zuständigen Ordnungsämter die Praxis, missliebigen Ausländern solange zu folgen, bis man sie einmal ohne Pass ertappte. Sie wurden wegen des Vergehens gegen das Passgesetz verurteilt und dann als Gesetzesbrecher abgeschoben. Dass diese eisernen Besen heute nicht mehr so scharf kehren, ist nicht der neuen gesetzlichen Regelung zu verdanken, sondern einem Grundsatzurteil, das Rechtsanwalt Heldmann erwirkte und mit dem das Bayerische Oberste Landesgericht dieser Praxis ein Ende machte. Direktor Mayer vom Amt für öffentliche Ordnung jedenfalls sieht in den Instanzen, die zu durchlaufen der Gesetzgeber auch dem Ausländer zubilligt, offenbar ein unnützes Hindernis, sich Lästiges vom Halse zu schaffen. Er verriet einem Journalisten: „Die Beschwerdemöglichkeiten sind so zahlreich, dass monatelange Verzögerungen (der Abschiebung) eintreten.“
Dem könnte entgegenstehen, dass trotz der zehn Prozent Ausländer in München nicht sieben Prozent der Gesetzesübertretungen von Ausländern begangen werden. Für das Münchener Ausländeramt aber sind Gäste, die sich mit gleichgesinnten Landsleuten treffen oder gar politisch demonstrieren „politisch extreme Charaktere“, die gewiss einmal, auch wenn heute noch keine Anzeichen dafür vorliegen, das Regime in ihrer Heimat „mit Gewalt beseitigen“ werden. Dass dies nicht angehen kann, legt Direktor Mayer dar: „Die Bundesrepublik würde im gesamten westlichen Machtbereich, mit dem sie politisch und militärisch aufs engste verknüpft ist, unglaubwürdig.“
Dass es Dr. Mayer nicht nur auf die internationalen Gesichtspunkte ankommt, zeigt diese Äußerung aus seinem Munde: „Politisch extreme Charaktere bedeuten immer eine Gefahr. Denn kommt es zu Auseinandersetzungen, so hat es von einem bestimmten Zeitpunkt ab meist niemand mehr in der Hand, zu bestimmen, welche Formen diese Auseinandersetzungen annehmen. Ein feuriges Wort ist schnell unter die Menschen geschleudert. Die Tat: lässt sich dann nicht mehr aufhalten, und wen sie trifft, weiß keiner.“
Die Zeit 41 vom 8. Oktober 1965; http://www.zeit.de/1965/41/Barbaren-in-Bayern?page=all.