Materialien 1965
Ein prächtiger erster Mai
Auch das Wetter war an diesem 1. Mai so, wie es sich für einen Feiertag geziemt. Schon um 9 Uhr sammelten sich unsere Mitglieder mit anderen Gewerkschaftern im Hofgarten beim Platzkonzert. In einem langen Zug ging es anschließend auf den Königsplatz, wo sich diesmal an 50.000 Besucher zur Kundgebung eingefunden hatten. Aus den Begrüßungsansprachen ragte wie immer die des Oberbürgermeisters Dr. Vogel begeisternd heraus.
Ludwig Linsert spricht
Der diesjährige erste Mai war besonders denkwürdig, weil er sich als „Tag der Arbeit“ zum 75. Male jährt und zum 20. Male seit dem unseligen zweiten Weltkrieg begangen wurde. Ludwig Linsert, der Vorsitzende des DGB-Landesbezirkes Bayern, war wieder einmal der berufene Redner. In mitreißenden und immer wieder vom Beifall der Zehntausende unterbrochenen Worten würdigte er den historischen Werdegang des Maifeiertages und gedachte der vielen Opfer, die mit dem sozialen Aufstieg seit 75 Jahren verbunden waren. Wir stehen inmitten einer neuen Epoche in der Geschichte der Menschheit, die von der überstürzenden Entwicklung der Wissenschaft und Technik geprägt ist. Um so mehr erweise sich die ausgebliebene Neuordnung von Wirtschaft und Gesellschaft als ein schweres Versäumnis. Der Redner ging sodann auf das Grundsatz- und Aktionsprogramm des DGB ein, in denen vor allem die Erweiterung der Mitbestimmung als demokratische Kontrolle der Wirtschaft verlangt werde. Mit scharfen Worten geißelt er die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung, die Jahr um Jahr die Bildung riesiger Vermögen in den Händen einer kleinen Minderheit des Volkes und damit eine wirtschaftliche Macht fördert, die wie vor 1933 die Politik unterwandert und die Demokratie in Gefahr bringt. Dennoch klage die Wirtschaft, spende aber gleichzeitig Millionen für die Wahlfonds bürgerlicher Parteien. Linsert forderte die „Offenlegung der Bücher“ wie dies beim Einkommen der Arbeitnehmer seit eh und je geschieht. Während sich die Nettolöhne von 1950 bis 1960 verdoppelt haben, sind die Nettogewinne der deutschen Wirtschaft dreimal so groß geworden. Die Parole des diesjährigen 1. Mai „Wichtiger ist der Mensch“ müsse auch zum Leitbild der deutschen Politik und Wirtschaft werden! Das deutsche Volk wünsche sich eine Regierung, die eine Völkerverständigung nach West und Ost anstrebt.
Demonstrationszug durch die Stadt
Nach Beendigung der mächtigen Kundgebung auf dem Königsplatz formierte sich ein langer Demonstrationszug durch die westliche Innenstadt über den Bahnhofsplatz und Stachus zum Sendlinger Torplatz. Mit Hunderten von Transparenten und Tafeln wurden die Forderungen der gewerkschaftlich organisierten Münchner Arbeitnehmerschaft kundgegeben.
Münchner Ausblick. Mitteilungen der Gewerkschaft Handel – Banken – Versicherungen HBV, Ov. München 6 vom Juni 1965, 1.