Materialien 1965

Kämpfen – aber wie?

45 Prozent der Bevölkerung in der Bundesrepublik würden gern in einem Land le-
ben, wo es keine Reichen und keine Armen gibt.
Deshalb wird in der Bundesrepublik der Klassenkampf von oben gegen die arbeitende Bevölkerung immer heftiger geführt. Durch Mei-
nungsbeeinflussung und werbepsychologische Gehirnwäsche sollen wir immer stärker an vergol-
dete Ketten geschmiedet werden und für Freiheit halten, was in Wirklichkeit totale Unfreiheit ist. Arbeitshetze und Konsumterror erniedrigen uns zu Robotern. Die Gewerkschaften aber stecken den Kopf in den Sand und machen Partnerschaftsrummel.

70 Prozent der Bevölkerung und 72 Prozent der Arbeiterschaft würden es für gerecht halten, wenn keiner mehr als 10.000 Mark im Monat verdienen dürfte. Trotzdem häu-
fen sich bei den Konzernen die Profite zu Millionen und Milliarden. Und zur Sicherung dieser Pro-
fite werden Milliarden für die Rüstung und andere überflüssige Staatsausgaben vergeudet. Die Ge-
werkschaften aber feilschen um Pfennige.

84 Prozent der Arbeiterschaft sind davon überzeugt, dass die Preise sofort gesenkt werden könnten, wenn die Unternehmer nur wollten. Die Gewerkschaftsführer aber ver-
handeln mit den Unternehmern hinter verschlossenen Türen. Sie machen sich zu Bremsklötzen der kampfbereiten Arbeiterschaft. Sie haben sich mit der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft verbunden und in ihr eingerichtet. Die Arbeiterschaft wird mit Phrasen – wenn man’s braucht: mit «radikalen» Phrasen – abgespeist.

39 Prozent der Arbeiterschaft sind überzeugt, dass die Unternehmer nur aus der Ar-
beit anderer Profit ziehen und überflüssig sind.
Die Gewerkschaften aber wollen das nicht begreifen. Sie halten weiterhin fest an einem überholten Wirtschaftssystem, in dessen Mittelpunkt nicht die Bedürfnisbefriedigung aller steht, sondern der private Profit einzelner. Die Automation schreit nach gesellschaftlicher Veränderung. Selbst bürgerliche Wissenschaftler sind von der Not-
wendigkeit der Betriebs- und Wirtschaftsdemokratie überzeugt. Wirtschaftsdemokratie aber heißt Arbeiterselbstverwaltung.

FÜRCHTET DIE GEWERKSCHAFTSBÜROKRATIE DIE SELBSTVERWALTUNG DER ARBEITER?

«Die Befreiung der arbeitenden Klasse kann nur das Werk der arbeitenden Klasse selbst sein.»
(Karl Marx)

Die Prozentzahlen sind das Ergebnis einer Meinungsumfrage, die das Allensbacher Institut für Demoskopie durchgeführt hat.
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SCHLUSS MIT DER BEVORMUNDUNG!

Schaut sie euch an: die Bürokraten und Apparatschiks! Sie glauben noch immer daran, die arbei-
tende Klasse bevormunden zu müssen. Zumindest in einem Punkt sind sich DGB-, SPD- und KPD-Bürokraten völlig einig: «Die Arbeiterschaft hat kein Bewusstsein!» Damit rechtfertigen sie ihre Politik. Aber sind sie überhaupt an einem solchen Bewusstsein interessiert?

▲ Sie betreiben geheime Diplomatie und behandeln die Mitglieder als Stimmvieh. Arbeiterde-
mokratie aber heißt:
alle Karten offen auf den Tisch, ständige Kontrolle von unten.

▲ Sie sind gegen Streik, wenn die Arbeiter ihn wollen, verlangen aber Gehorsam, wenn der Vor-
stand ihn ausruft. Arbeiterdemokratie aber heißt: selbst bestimmen, selbst planen, selbst tun.

▲ Sie besetzen die hauptamtlichen Stellen mit angestellten Funktionären, die dem Vorstand hörig sind, aber den Mitgliedern keine Rechenschaft schulden. Arbeiterdemokratie aber heißt: Er-
nennung der Funktionäre auf Zeit, Bindung an den Auftrag der Mitglieder und jederzeitige Wähl- und Abwählbarkeit.

▲ Sie haben vergessen, dass sie ihren Schreibtisch nur geliehen bekamen und von den Arbeitern bezahlt werden. Sie sorgen dafür, dass sich die Gewerkschaftshäuser zu Versicherungs- und Bon-
zenmastanstalten entwickeln. Der aufgeblähte Apparat wird immer mehr von arbeiterfeindlichen Elementen besetzt, die uns unter dem Deckmantel «zeitgemäßer Wirtschaftspolitik» ihre bürger-
lich-kapitalistische Ideologie aufzwingen wollen. Arbeiterdemokratie aber heißt: Verzicht auf solche «Experten» und «Spezialisten», die den Zielen der Arbeiterbewegung fremd gegenüberste-
hen; Abschaffung des Berufsführertums; Abschaffung aller Gehälter und sonstigen Einkünfte, die über die Höhe des Arbeiterlohns oder Arbeitergehalts hinausgehen; Rotationsprinzip, d.h. der re-
gelmäßige Austausch aller Funktionäre und ihre Ablösung durch neue Kräfte, damit Verbürokrati-
sierung der Organisation und Verselbständigung ihrer Macht unmöglich wird.

Die Umfrage beweist: das Bewusstsein der Arbeiterschaft ist besser als das der Büro-
kraten! Organisationen sind Werkzeuge. Die Organisationen der Arbeiterschaft ha-
ben die Interessen und Ziele der arbeitenden Klasse durchzusetzen. Tun sie es nicht mehr, dann sind diese Werkzeuge stumpf geworden. Stumpfe Werkzeuge müssen geschärft oder durch neue ersetzt werden.

Kollegen in Betrieb und Büro: am 1. Mai ruft man euch wieder. Man wird euch von den «Heldenta-
ten» der Gewerkschaft berichten. Seid wachsam! Denkt an das Wort des alten August Bebel: «Schaut euren Führern nicht aufs Maul, schaut ihnen auf die Hände!»

Aktion der Rätesozialisten

Im Auftrag und verantwortlich für den Inhalt:
Leonhard Rink, Maurer, 8 München 5, Corneliusstraße 48
Jenny Hecht, kfm. Angestellte, 8 München 5, Geyerstraße 16
Walter Karg, Straßenbahnschaffner, 8 München 12, Ganghoferstraße 64b

München, 1. Mai 1965
Druck: Selbstverlag1


Flugblattsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung. Und: Albrecht Goeschel (Hg.), Richtlinien und Anschläge. Materialien zur Kritik der repressiven Gesellschaft, München 1968, 89 ff.

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1 „Eine Kritik an diesem Flugblatt, das Empörung im gesamten SDS auslöste, formulierte Michael Vester in seinem Aufsatz «Demokratisches Engagement und direkte Aktion», erschienen in: «Vorgänge», München Dezember 1965, S. 10 ff. Zuvor war dieser Aufsatz erschienen in der Zeitschrift des SDS , Frankfurt August 1965. Die Aktion der Rätesozialisten, die das wiedergegebene Flugblatt verbreitete, war aus einem Zusammenschluss von Mitgliedern des SDS-München und der Ge-
meinschaft für Wissenschaftlichen Sozialismus e.V. entstanden. Die Münchner Sektion der Subversiven Aktion, die mit diesen beiden Gruppen im Rahmen der Aktion für internationale Solidarität zusammengearbeitet hatte, hatte bereits im April 1965 auf dem in München stattfindenden «Konzil» ihrer verschiedenen Sektionen die Trennung von der Gemein-
schaft für Wissenschaftlichen Sozialismus beschlossen und auch Dieter Kunzelmann nicht zuletzt wegen seiner engen An-
lehnung an die Gemeinschaft für Wissenschaftlichen Sozialismus ausgeschlossen.“ – Der DGB-Kreisvorsitzende Ludwig Koch schreibt in seinem regelmäßigen verschickten Rundbrief an die gewerkschaftlich organisierten Betriebs- und Perso-
nalratsvorsitzenden in München am 25. Mai 1965: „… Die 1.Mai-Kundgebung in München (Königsplatz) und in den DGB-Ortskartellen sind, dank Eurer Werbung, erfolgreich und gut abgelaufen. Wenn schon Presse und Rundfunk von 50.000 Teilnehmern auf dem Königsplatz berichten, so war dies eine stärkere Beteiligung als am 1. Mai 1964. Die Ansprachen von Oberbürgermeister Dr. Vogel und Kollegen Ludwig Linsert fanden, gemessen am Beifall, allgemein Zustimmung. Auch der Besuch des Maitanzes in der Waldwirtschaft Großhesselohe war erfreulich gut besucht. Wir danken ebenso für den Verkauf der Mai-Abzeichen (68.000 Stck.). Ihr werdet bemerkt haben, dass bei der Münchner Kundgebung eine Gruppe junger Leute als ‚Aktion der Rätesozialisten’ durch eine Flugblattverteilung und durch Aufziehen von Transparenten in Erschei-
nung trat. Aus den Antworten der Flugblattverteiler, die von den Ordnern gestellt wurden, und ihrem Verhalten ist zu schließen, dass es sich mehr um Studenten und ‚Hausfrauen’ handelte. Die drei Unterzeichner waren uns bis dahin unbe-
kannt. Im Flugblatt wird u.a. versucht darzustellen, dass ‚Gewerkschaftsfunktionär’ und ‚Arbeiterdemokratie’ ein Gegensatz ist. Zur Argumentation bediente man sich dabei provokatorisch des alten Wortschatzes der NSBO (Nazis), wie ‚Bonzen’ und ‚arbeiterfeindlich’. Wo die Leute politisch zuzurechnen sind, ist uns noch nicht klargeworden. Sie können linksverdreht syndikalistisch (siehe Namen) ebenso sein wie getarnte Neonazis (siehe Sprache). In der Gewerkschaftsarbeit kennen sie sich nicht aus, weil ihnen offensichtlich unbekannt ist, dass sowohl die ehren- als auch hauptamtlichen Gewerkschaftsfunk-
tionäre gewählt sind und immer wieder zur Wahl stehen. Unbekannt sind ihnen die Funktionen der Tarifkommissionen und, dass Streiks allein durch eine demokratische Urabstimmung beschlossen werden. Jedenfalls traf sich zeitlich die Ak-
tion dieser demagogischen Abwertung jahrzehntelanger Organisationsarbeit recht eigenartig mit anonymen NS-Pamphle-
ten, die neuerdings in Briefkästen verteilt werden, mit dem Aufkommen der NDP (einer neuen Partei, die aus 60 Prozent alten Nazis besteht), den Unternehmer-Zeitungsannoncen und nicht zuletzt mit dem CSU-Sonderinformationsdienst ‚Ar-
gumente’ mit Auslassungen über gewerkschaftliche Unternehmungen (dazu kommt in nächster Zelt eine aufklärende Schrift heraus). Wir bitten für diese und ähnliche Erscheinungen um Eure Aufmerksamkeit!“ Flugblattsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung.