Materialien 1965

Die Einmütigkeit ...

erwächst in der Parteienoligarchie als Gemeinschaft aller Parteien, die in ihren Kämpfen unter-
einander um die jeweilige Macht doch solidarisch sein müssen zur Selbstbehauptung ihrer aller Daseins in denjenigen Dingen, die gemeinsamen Interesses sind, nämlich nicht zuerst die Sicher-
heit von Staat und Nation, sondern die Sicherheit dieser Oligarchie betreffen.1 Dazu gehört die Entwicklung von Umgangsformen untereinander, einer »Kollegialität« auch derer, die sich viel-
leicht persönlich als Todfeinde fühlen. Diese Einmütigkeit ist nicht die des Volkes und nicht deren Spiegelbild. Das Schicksal bewahre uns vor dieser Einmütigkeit und vor der »ganz großen Hof-
fnung« Bendas! Es wäre die Konstituierung einer Politikerzunft (der Oligarchie, die schließlich diktatorisch herrscht), die, geschützt durch Geheimnis, bei Minimalisierung der Grundrechte, ihre eigene Sicherheit durch ein Notstandsgesetz fast absolut macht, Staat und Volk mit sich identifizie-
rend, so dass sie nur mit dem Staat und dem Volk selber zugrunde gehen kann, oder vielmehr bei-
de mit sich zieht. Darüber später.

Blickt man auf die Parlamentarier im Ganzen, unsere bundesdeutschen Berufspolitiker, so kann man gerecht nur urteilen, wenn man nicht vergisst, dass der Bundesrepublik das gemeinsame sittlich- politische Fundament heute noch fehlt. Dass es geschaffen wird, ist unsere große Hoff-
nung, die aus der Hoffnungslosigkeit solange sich wiederherstellen wird, als nicht alles verloren ist.

In dieser Debatte wurde es wieder einmal offenbar, dass dieses Fundament noch nicht da ist, aber auch, dass die Parlamentarier eine große Unruhe befällt, wenn dieses Faktum fühlbar wird. Sie sprachen es aus und sie verdrängten es zugleich. Sie entwarfen Fiktionen, die sie in persönliche Bekenntnisse kleideten.

Es ist das Bild einer Gruppe von dem Typus, den wir Deutschen seit hundert Jahren in Abwand-
lungen kennen (seit dem entsetzlichen Gesinnungskollaps der liberalen und daher föderalistischen und parlamentarischen Menschen 1866 auf Grund des Waffenerfolgs bei Sadowa-Königgrätz und der realen Chancen einer machtvollen, nicht-föderalistischen, scheinkonstitutionellen, politisch unfreien Reichseinheit). Sie besinnen sich nicht mit radikaler Ehrlichkeit, sondern ringen mit sich, um das heimlich Verworfene zu akzeptieren. Waren die im Bundestag Bekennenden mit sich zu-
frieden, weil sie die andere Stimme in sich zu übertäuben oder bis zur Unhörbarkeit verschwinden zu lassen vermochten?

Es ist zum guten Ton geworden, gilt als gehörig, viele peinliche Dinge, wie seit 1945 und so jetzt, nun endlich zu vergessen, jedenfalls mit Stillschweigen zu übergehen. Man spricht gern in Allge-
meinheiten. Man versteht sich auf das Nichtreden im Reden. Man vermeidet das Konkrete und nennt nicht gern bei Namen. Daher war die Ausnahme so fühlbar, als von der >Nationalzeitung< als einem Symptom gegenwärtiger deutscher Realitäten gesprochen wurde. Es herrschte eine At-
mosphäre, die immer wieder anderes Ungesagtes im Hintergrund fühlbar bleiben ließ. Ein nicht radikaler Wille zur Wahrheit lässt dies Ungeklärte stehen, behandelt es, als ob es nicht da wäre. Aber dieser halbe Wille zur Wahrheit lässt ihn bei wohlanständigen Leuten doch als unwahrhaft erscheinen und stiftet daher in ihnen Unruhe, Abwehr und Trotz …


Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik? Tatsachen. Gefahren. Chancen, Stuttgart/Ham-
burg 1966, 115 f.

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1 Jaspers bezieht sich auf eine Bundestagsdebatte, in der die Abgeordneten aller Fraktionen ihrer Begeisterung über die Rede des jungen Kollegen Benda Ausdruck verleihen.

Überraschung

Jahr: 1965
Bereich: Notstandsgesetze