Materialien 1965

Alexander Mitscherlich: Die Unwirtlichkeit unserer Städte

Vor ein paar Monaten wurde dem Schlagersänger Ralf Bendix von der Arbeitsgemeinschaft „Rationalisierter Mauerwerksbau“ für den Erfolg des von ihm vorgetragenen bundesdeutschen Aufbausanges „Schaffe, Schaffe, Häusle baue …“ ein, wenn schon nicht schwarz-rot-goldener, so doch immerhin goldener Mauerstein überreicht. Eine sinnige Belohnung. Trug der Schlager nach Ansicht der Preisverteiler doch offensichtlich dazu bei, den deutschen Bürger noch stärker als bisher zu ermuntern, jene „Einfamilienweiden“ – um einen Ausdruck Mitscherlichs zu gebrauchen-, die an der Peripherie unserer Städte ohnehin kilometerweit ins Land hinauswabern, noch um einiges zu vergrößern.

Hätte Mitscherlich vor Abschluss seines Manuskripts von dieser Ehrung noch erfahren – ein gebührender Platz wäre ihr in seiner Analyse sicher gewesen.

„Die Unwirtlichkeit unserer Städte“ heißt das Buch, das hier besprochen werden soll. Mitscherlich selbst bezeichnet es als Pamphlet, dem er gleich zu Anfang voraussagt, dass seine „Seiten vergilben werden wie Manifeste und Pamphlete vor ihnen“. Das zu verhindern sollte jeder bemüht sein, der das Buch einmal zur Hand genommen hat.

Alexander Mitscherlich, Direktor der Psychosomatischen Universitätsklinik in Heidelberg, schreibt als Psychologe und Soziologe. Das wird die zahlreichen Anhänger einer strikten Trennung der wissenschaftlichen Disziplin zunächst befremden, wenn nicht verärgern. Mitscherlich aber weiß und er beweist es schlüssig anhand der Misere, in die der deutsche Wiederaufbau nach dem 2. Weltkrieg geraten ist, dass man heute nicht mehr allein Architekten, Verwaltungsfachleuten, Hoch- und Tiefbauingenieuren überlassen kann, mit den Problemen fertig zu werden, die bei einer modernen Städteplanung auftreten. Diese Erkenntnis ist nicht so neu. Ähnliche Gedanken finden sich bereits in dem 1928 abgefassten Schlußcommunique der CIAM, der Vereinigung aller fortschrittlichen Architekten von Gropius bis Corbusier, da heißt es u.a.: „Die unterzeichneten Architekten, Vertreter der Landesverbände moderner Architekten, bekräftigen die Übereinstimmung ihrer Ansichten über die Grundfragen der Architektur und über ihre beruflichen Verpflichtungen. Besonderes Gewicht legen sie auf die Tatsache, dass „Bauen“ eine elementare, engstens mit dem Ablauf des Lebens verbundene Tätigkeit ist. Sie bekräftigen heute die Notwendigkeit einer neuen Konzeption der Architektur, die in der Lage ist, die materiellen, gefühlsmäßigen und spirituellen Anforderungen des Lebens unserer Zeit zu befriedigen … Sie sind in der Absicht zusammengekommen, nach einer Harmonisierung der Bestandteile der modernen Welt zu suchen und die Architektur wieder in ihren eigentlichen Wirkungskreis hineinzustellen, der ökonomisch und soziologisch ist und als Ganzes im Dienste des Menschen steht.“

Die Chance, im Geist dieser Männer gemeinsam mit Psychologen und Soziologen an den Wiederaufbau zu gehen, war 1945 gegeben. Sie wurde – das ist allgemein bekannt – vertan. Das Ergebnis kennen wir alle: jene fast inhumanen Wohnsilos, die Mitscherlich einmal mit „zu ungeheurer Größe herangewachsenen Bahnwärterhäuschen“ vergleicht, verstopfte Straßen, fehlende Grünflächen und Plätze, die dem überbeanspruchten Städter Spiel-Raum geben könnten, die immer größer gewordenen Entfernungen zwischen Arbeitsplatz und Wohnstätte und so fort.

Mitscherlich fragt jetzt: warum ist es soweit gekommen? Und er nennt zwei Gründe: ein, wie er sagt, „rastlos Druck ausübendes und ein retardierendes Moment“. Das erste, die Vermehrung und gleichzeitige Ballung von Menschen mit all den Verkehrsproblemen, wird immer wieder gern genannt und beredet. Das zweite, bremsende, ist ein Tabu, – das Tabu des Privatbesitzes, der Fetisch von der Unantastbarkeit und Heiligkeit des eigenen Grund und Bodens. Dieses Tabu, an das niemand zu rühren wagt, stellt Mitscherlich in den Mittelpunkt seiner Analyse. Hier – zeigt Mitscherlich – sind die Ursachen zu suchen, warum ein großzügiger Wiederaufbau in Deutschland von vornherein eine Unmöglichkeit war. Natürlich ist er sich dessen bewusst, sofort als Kommunist gebrandmarkt zu werden. Der Hinweis auf die Regelung der städtischen Bodenbesitzverhältnisse im Mittelalter, die genau seinen Forderungen entspricht, dürfte ihm dabei kaum als Entlastung angerechnet werden. Ebenso hätte er das holländische Grund- und Bodengesetz aus dem Jahre 1901 anführen können, das der Stadt die Möglichkeit gibt, großzügig und human zu planen.

Mitscherlich weiß, welche Reaktion sein Pamphlet hervorrufen wird. Aber er setzt sich bereitwillig der Anfeindung aus. Denn es geht ihm um die Sache; um jene neue von den Unterzeichnern des CIAM-Communiques geforderte Konzeption der Architektur, „die in der Lage ist, die materiellen gefühlsmäßigen und spirituellen Anforderungen des Lebens unserer Zeit zu befriedigen.“ Es geht ihm darum, dass Wohnungsbau und Städteplanung nicht länger abhängig sind von Privatleuten und Interessenverbänden, für die es – wie er sagt – lediglich „Wohnungssuchende und Wohnungsinhaber, registrierte Anwärter und Mieteinkünfte“ gibt. Auf deren Kosten nicht zuletzt – ich zitiere – jene „geplanten Slums“ kommen, „die man gemeinhin sozialen Wohnungsbau nennt“. Kein Wunder, folgert Mitscherlich, dass in einer solchen Situation die moderne Großstadt niemals zu einem lebendigen Biotop werden kann, d.h. zu einem Platz, an dem sich Leben verschiedenster Gestalt ins Gleichgewicht bringen lässt. Zu einem lebendigen Organismus, an dessen Entwicklung der Einzelne bereit ist mitzuarbeiten; dass sie stattdessen ein zufälliges Konglomerat von Wohnsilos, Vergnügungsstätten und Verwaltungskörpern bleibt, ein gesichtsloses bedrohliches Etwas, in dem jene für seine Bewohner charakteristischen Aggressionen und Neurosen entstehen, von denen Mitscherlich im letzten Teil seines Pamphletes spricht, genauso wie andererseits der Traum vom eigenen „Häusle“, der sich, ad infinitum realisiert, wieder zerstörerisch für das Gesamtbiotop auswirken wird. Dass zur Rettung dieser Situation, die heute für fast alle unsere Großstädte charakteristisch ist, eine entscheidende Änderung der Grund- und Bodenverhältnisse notwendig wäre, hat übrigens vor Mitscherlich schon ein anderer in aller Entschiedenheit festgestellt.

Ich zitiere: „Wir sind die erste deutsche Generation, die Großstadtleben wirklich durchlebt hat. Das Ergebnis kennen sie alle. Wir leiden nach meiner tiefsten Überzeugung in der Hauptsache an der falschen Bodenpolitik der vergangenen Jahrzehnte. Ich betrachte diese falsche Bodenpolitik als die Hauptquelle aller physischen und psychischen Entartungserscheinungen, unter denen wir leiden … Die bodenreformerischen Fragen sind nach meiner Überzeugung Fragen der höchsten Sittlichkeit“.

Der das gesagt hat, war unser Altbundeskanzler Dr. Konrad Adenauer, allerdings nicht während seiner Amtszeit als Kanzler, sondern vor dem zweiten Weltkrieg als Oberbürgermeister von Köln.

Rudolf Vogel


tendenzen. Zeitschrift für engagierte Kunst 36, 1965/66, 306 ff.

Überraschung

Jahr: 1965
Bereich: Stadtviertel

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