Materialien 1963
Gesellschaft – Sexualität – Verbrechen
„Die Reinheit und Gesundheit unseres Geschlechtslebens (ist) eine außerordentlich wichtige Voraussetzung für den Bestand des Volkes und die Bewahrung der natürlichen Lebensordnung …“
So steht es in der „Bundestagsdrucksache lV/650“ vom 4. Oktober 1962 (dem Regierungsentwurf für ein neues Strafgesetzbuch), die noch in dieser Legislaturperiode die Grundlage für wichtige Entscheidungen über das künftige Sexualstrafrecht geben soll.
Weiter heißt es darin: mehr noch als auf irgend einem anderen Gebiet (muss man) die sittlichen Grundanschauungen berücksichtigen und sich darüber klar sein, dass jeder Fehlgriff geeignet ist, zwischen der allgemeinen Überzeugung und dem Gesetz eine Kluft aufzureißen und das sittliche Empfinden des Volkes zu trüben und zu verwirren …“
Die „natürliche Lebensordnung“ bewahren, das „sittliche Empfinden des Volkes“ berücksichtigen, das sind die Ziele, die von den Verfassern dieses neuen Gesetzentwurfs angestrebt werden.
Sehen wir uns also die Vorstellungen, die diese Autoren vom „gesunden Volksempfinden“ haben, einmal näher an. Im ganzen Gesetzentwurf findet sich keine Erklärung, was unter dem „sittlichen Volksempfinden“ eigentlich verstanden werden soll. Dafür finden sich in dem Text massenhaft moralische Werturteile und nebulöse Begriffe wie „allgemeines religiöses Empfinden“, „allgemei-
nes Schamgefühl“, „Sauberkeitsgefühl“, „wollüstige Absicht“, „Abartigkeit“; wir erfahren, dass es „ästhetische Wertmaßstäbe“ gibt; es existiert allem Anschein nach ein „öffentlicher Anstand“, der allen klar machen soll, was „pflichtwidrig“ und „verwerflich“ ist, was einen „Verstoß gegen Zucht und Sitte“ darstellt; wir lesen von „sittlicher Verwahrlosung“, „sittlicher Gefährdung“ und von „Un-
zucht“, „Sitte“, „Sittlichkeit“, denen „Zucht“ und „Zuchthaus“ gegenüberstehen.
Sieht so die Wirklichkeit aus? Lesen wir, was Prof. Dr. Wolfgang Hochheimer, Direktor des West-
berliner Instituts für Pädagogische Psychologie der Pädagogischen Hochschule dazu berichten kann:1
° „Nach einer Umfrage der Zeitschrift WOCHENEND vom Jahre 1950 erklärten von 1.000 reprä-
sentativ befragten bundesdeutschen Männern unter 30 Jahren zu der Frage intimer Beziehungen zwischen unverheirateten Menschen 22,2 % solche für notwendig, 75,6 % für zulässig, 2,2 % für verwerflich; es waren also 97,8 % ‚dafür’.“
° „Dreiviertel aller befragten 20jährigen jungen Männer gaben zu, Geschlechtsverkehr gehabt zu haben. Nach einer entsprechenden Berliner Umfrage vom Jahre 1958 gaben 60 % zwanzigjähriger Mädchen geschlechtliche Erfahrungen zu; bei der Eheschließung waren es 75-80 % im Unterschied zu einer (stichhaltigen?) Vergleichsstatistik des Jahres 1912 von 12 %.“
° „Kinsey stellte fest, dass ‚mehr als 99 % der Jungen unmittelbar nach ihrer Erstejakulation (im Mittel im Alter von 13,88 Jahren) ein reguläres Geschlechtsleben beginnen’. Erwähnen wir nach Kinsey nur, dass mit 15 Jahren schon 40 % aller Frauen petting-Erfahrungen hatten; mit 18 Jahren zwischen 69 % und 95 %.“
° „W. Fischer stellt soeben zum Generationsproblem fest, dass auch hinsichtlich vorehelicher Ent-
haltsamkeit, ‚was jahrhundertelang undiskutierbar als gut galt, heute vielfach für jung und alt zu zweifelhaftem Wert relativiert worden’ sei.“
° „Nach Terman werden bei Fortsetzung des derzeitigen Abfalls der Virginitätsziffern alle um 1950 und später geborenen Mädchen nicht mehr unberührt in die Ehe kommen.“
° „Saller (Professor für Anthropologie an der Universität München – Anm. d. Red.) bestätigt ent-
sprechende Statistiken aus Österreich und Dänemark; aus einer amtsärztlichen Vergleichsunter-
suchung zu Kinsey wird von dem gleichen Autor aus Berliner Schulen berichtet, von den 13- bis 14jährigen Mädchen hätten schon 25 % geschlechtliche Erfahrungen gehabt. ,Das Geheimnis’, stellt Saller fest, ,ist der „Liebe ohne Furcht“ und dem „Genuss ohne Reue“ gewichen’.“
° „Von der Allensbacher demoskopischen Umfrage berichtet v. Friedeburg, 92 % der 1.010 reprä-
sentativ Befragten hätten nichts gegen Sexualität gehabt, 66 % hätten kein Lebensglück ohne Sexualität gesehen, und deren Notwendigkeit für eigenes Glück hätten 58 % bekannt. Verheiratete Männer gaben vor ihrer Ehe 89 % Intimbeziehungen zu, 10 % stritten sie ab; von den Frauen in derselben Umfrage bejahten 70 % solche Beziehungen und 28 % bestritten sie. Von den unverhei-
rateten befragten Männern gaben 89 % Intimbeziehungen zu. 6 % waren dagegen: von den Frauen ergaben sich hier 68 % zu 28 %.“
° „Zahlreiches entsprechendes Material, aber auch zahlreiche bestätigende Berichte aus ersten Quellen im freien Gespräch, in der Beratungs- und Behandlungspraxis belegen uns immer wieder in entsprechenden Größenordnungen diese Wirklichkeit von Gesinnung wie Auslebung und Hand-
lung.“
Nach Kenntnisnahme dieser Zahlen, die in so krassem Widerspruch zu der gesetzlich unterstellten Moral stehen, fühlt man sich unangenehm an einen Mann erinnert, der unter Umständen „Meier“ heißen wollte. Er sagte einmal: „Wer Jude ist, bestimme ich!“ Bestimmt heute „der Gesetzgeber“, was „Moral“ ist? Und das „gesunde Volksempfinden“, ist es beschrieben in einer „geheimen Bun-
desakte“? Ist „allgemeine Sittlichkeit“ nicht Sittlichkeit der Allgemeinheit, ist diese Allgemeinheit nicht identisch mit der überwiegenden Mehrheit unseres Volkes? Hier weitere Tatsachen:
° „Die Allensbacher Befragung ergab nach v. Friedeburg: Ehebruch wird verurteilt von 25 %, 11 % sind sich unklar, 26 % billigen ihn bei ernsten Gründen, 31 % billigen ihn, 7 % billigen ihn aus-
drücklich. Demnach sind 64 % Bundesdeutsche dafür!“ (Hochheimer in ,,Sexualität und Verbre-
chen“, a.a.O., S. 99).
° „Schließlich erwähnen wir hierzu aus derselben Umfrage noch, dass 86 % der Befragten sich für eine Scheidungsmöglichkeit aussprachen!“ (wie angegeben, S. 100).
Und dann zum Problem der Geburtenregelung:
° „Nach Saller liegen die Schätzungen der Sachverständigen von Abtreibungen in den USA laut Ro-
binson bei einer Million pro Jahr, laut Rice bei 1,8 Millionen, nach Clark allein in New York City bei mindestens 100.000 pro Jahr; für Österreich wird die Zahl der Abtreibungen auf das Dreifache der Geburten geschätzt, nach Kepp (Gießen) ebenso für Deutschland. Es kommen aber auch höhe-
re Schätzungen vor, etwa 4 Abtreibungen auf eine Geburt.“
° „Nach v. Friedeburg erklärten sich in der Allensbacher Intimbefragung nur 16 % für die völlige Abschaffung des Abtreibungsparagraphen, 8 % für eine Verschärfung, 36 % für Beibehaltung der bisherigen Form, 39 % für die Aufrechterhaltung in gelockerter Form. Dagegen waren zwei Drittel dieser Befragten für eine Empfängnisverhütung, und nur 16 % hiergegen. Von der zuletzt bei uns befragten ‚Allgemeinheit’ würden demnach nur 8 Prozent für die Fassung des Abtreibungspara-
graphen sein, die im Interesse der ‚Allgemeinheit’ im Entwurf festgelegt wurde!“ (wie angegeben, S. 102).
Wir haben in dieser Arbeit nicht vor, unseren Standpunkt zu Fragen der Sexualität darzulegen. Wir können hier nur im wesentlichen auf die Kluft zwischen Gesetz und Wirklichkeit hinweisen. Dem Leser wird inzwischen aufgefallen sein, wie sehr der kritisierte Gesetzentwurf von einer wirklich-
keitsfeindlichen und volksfremden Ideologie durchsetzt ist, die zur Zerstörung des Menschen und der Menschlichkeit führen kann. Es lohnt sich, diese Ideologie näher zu untersuchen. Wortwahl und Inhalt kennzeichnen sie als die Ideologie des Bürgertums, besonders des Kleinbürgertums.
Die Haltung des Kleinbürgers ist nämlich allen lebensbejahenden Äußerungen des Menschen feind. Sie findet ihren Ausdruck in so unklaren Begriffen wie „allgemeine Sittlichkeit“, „Verstoß ge-
gen Zucht und Sitte“, „öffentlicher Anstand“ und dergleichen. Er, der Kleinbürger, muss grund-
sätzlich sein Verhalten als das „normale“ und „natürliche“ Verhalten „des Menschen“ hinstellen. Alles, was diesem Verhalten zuwiderläuft, ist für ihn „abartig“ und „verwerflich“. Weil er nie so „frei“ war, seinen Gefühlen Rechnung zu tragen, sind sie ihm nicht geheuer, so oft er ihnen bei anderen wiederbegegnet. So kommt ihm die Doppelfunktion des Dieners und Wachhundes der herrschenden Klasse zu. Er muss alles als fremd und feindlich betrachten, was seinen trostlos verschwommenen und mystischen Vorstellungen, seinen unwissenschaftlichen und wirklichkeits-
fremden Ideen von „Blut und Boden“, von „Erbbiologie“, von „Volksgesundheit“, „Wirtschafts-
wunder“ und „Vorsehung“ zuwiderläuft.
Diese Grundhaltung steht in engem Zusammenhang mit dem Erziehungsschema, das dem Klein-
bürger in unserer Gesellschaft zukommt, die in soziale Klassen gespalten ist. Das „brave“ Kind, das „anständige“ Kind ist die Freude seiner Eltern. „Brav“ sein und „anständig“ sein bedeutet aber: sich nicht nach eigenen Möglichkeiten entwickeln, sondern nach den Befehlen und Vorstellungen der Eltern. Wer kennt nicht das Kind, das „so lieb“ auf seinem Stühlchen sitzt, sich mit nichts befassen darf und nicht muckst; wer hat nicht schon die entzückten Ausrufe Erwachsener angesichts eines solchen Kindes gehört: „Mein Gott! Wie brav es ist, wie goldig!“
Jeder moderne Wissenschaftler kann aber beweisen, dass der Mensch schon in frühester Kindheit eine maximale Entfaltungsmöglichkeit braucht, damit er ein freier Mensch – und das heißt, im allumfassenden Sinne des Wortes „frei“: ein gesunder Mensch – werden kann. Das aber bedeutet, dass ein Kind, zwar unter zurückhaltender Anleitung, aber immer selbst seinen Körper, seine Umwelt und sein Verhältnis zu dieser Umwelt in Erfahrung bringen, kennen lernen und bestim-
men muss; es muss die Dinge in seiner Umgebung im wahrsten Sinne des Wortes erfassen, begrei-
fen – selbst wenn dabei etwas in Scherben geht.
Die Erziehungsmethoden des Kleinbürgers aber bewirken das Gegenteil. Alle vitalen Bedürfnisse des Kindes werden in enge Schranken verwiesen. Jede Äußerung von Lust gilt bereits als Vergehen. So lernt der kleinbürgerlich erzogene Mensch nie, seine Bedürfnisse anzumelden und zu befriedi-
gen. Darum ist er voll von Misstrauen gegenüber seinen eigentlichen Bedürfnissen und erst recht voller Argwohn und Hass gegenüber den Menschen, die es wagen, etwas zu leben, was man ihm in langjährigen Dressurakten verboten hat. So wird ein Mensch gezüchtet, der in der Knechtschaft Befriedigung findet, der nach oben buckelt und nach unten trampelt.
Um seine von ihm selbst immer wieder wahrgenommene Verkümmerung vor sich und der Welt zu rechtfertigen, findet er „seine“ Ideologie. „Anstand“, „allgemeine Sittlichkeit“ und „Zucht“ haben für ihn einen mystischen Inhalt, der keiner exakten Beschreibung bedarf. Weil er selber unfrei ist, fühlt er sich bemüßigt, die Umwelt seinen Verhaltensweisen und Maßstäben zu unterwerfen, ist er peinlich darauf bedacht, dass keiner „aus der Reihe tanzt“. Darum erfüllt er auch die Aufgabe, die ihm in unserer Gesellschaft zugewiesen ist.
Betrachten wir nun wieder einige Stellen aus dem Gesetzentwurf und vergleichen wir sie mit der Wirklichkeit.
§ 221:
„Wer in einer Sitte oder Anstand verletzenden Weise
1) Mittel oder Verfahren, deren Zweck ganz oder überwiegend die Verhütung von Geschlechts-
krankheiten, von Krankheiten oder Leiden der Geschlechtsorgane oder der Empfängnis ist, öffent
lich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11, Abs. 3) ankündigt oder an-
preist oder
2) solche Mittel an einem allgemein zugänglichen Ort ausstellt oder sonst zugänglich macht,
wird mit Gefängnis bis zu drei Jahren, mit Strafhaft oder mit Geldstrafe bestraft.“
§ 224:
„Wer öffentlich in auffälliger Weise oder in einer Weise, die geeignet ist, die Allgemeinheit oder einzelne andere zu belästigen, zur Unzucht anlockt oder sich dazu anbietet, wird mit Strafhaft be-
straft.“
§ 222:
„Wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11, Abs. 3) eine Mitteilung macht, die dazu bestimmt ist, unzüchtigen Verkehr herbeizuführen, wird mit Gefängnis bis zu einem Jahr, mit Strafhaft oder Geldstrafe bestraft.“
Wie eine solche „Sitte und Anstand gefährdende Weise“ allerdings aussieht, erfährt man im Text – wie könnte es anders sein – an keiner Stelle. Sie wird vielmehr dem Ermessen des Gerichts anheim gestellt, und die Mehrheit des Volkes wird den Vorstellungen unterworfen, die der Richter von Sitte, Anstand und Moral hat.
Auch ein Vergleich der Strafmaße, die zur „Ahndung“ bestimmter Taten vorgesehen sind, sprechen so sehr für sich selbst, dass wir auf einen Kommentar verzichten können:
„Bezüglich der angedrohten Höchststrafe (‚Gefängnis bis zu zwei Jahren’) stehen die folgenden Vergehen auf einer Stufe: Unerlaubte Veranstaltung einer Lotterie (§ 357), Beischlaf zwischen Geschwistern (§ 192), heterologe Insemination (d.i. künstliche Befruchtung mit Spermatozoen eines Mannes, der nicht der Ehemann ist – Anm. d. Red.; § 203), fahrlässiger Falscheid (§ 437) und Bruch des Steuergeheimnisses (§ 473). Schwerer bestraft, nämlich im Höchstfall mit Gefäng-
nis bis zu drei Jahren, werden die ärztlich unbegründete Unterbrechung einer Schwangerschaft (§ 157), Beschimpfung einer Religionsgemeinschaft (§ 188), Unzucht mit Tieren (§ 218), Entziehung elektrischer Energie (§ 243), Jagdwilderei (§ 276) und die Beleidigung des Bundespräsidenten (§ 377), die der Gotteslästerung (§ 187) und der Unzucht zwischen Männern (§ 216) gleichgestellt ist. Diese Taten verfallen allerdings einem geringeren „sittlichen Werturteil“ (S. 92) als etwa die schwere Jagdwilderei (§ 277), die beispielsweise des Nachts oder unter Anwendung von Schlingen erfolgt.“ (Prof. Dr. Peter R. Hofstätter, Direktor des Psychologischen Instituts der Universität Hamburg, in „Sexualität und Verbrechen“, wie angegeben, S. 119).
Wie widersprüchlich die Haltung des Gesetzgebers ist, zeigt sich besonders an Vorschriften, die einerseits die künstliche Befruchtung, andererseits die Abtreibung betreffen:
§ 203:
„(l) Wer eine künstliche Samenübertragung bei einer Frau vornimmt, wird mit Gefängnis bis zu drei Jahren bestraft.
(2) Eine Frau, die eine künstliche Samenübertragung bei sich vornimmt oder zulässt, wird mit Gefängnis bis zu einem Jahr oder mit Strafhaft bestraft.“
Die Begründung dafür ist recht fragwürdig. Es heißt dort unter anderem:
„Da die künstliche Samenübertragung an die Wurzeln des menschlichen Zusammenlebens rührt, kann ein modernes Strafgesetzbuch an der Frage nicht vorübergehen … Allerdings bedeutet auch bei der homologen Insemination (künstliche Befruchtung mit dem Samen des eigenen Mannes, Anm. d. Red.) die Mitwirkung des Arztes einen Einbruch in die Intimsphäre der Ehegatten.“ Wird die künstliche Samenübertragung „bei einer Ehefrau mit Sperma eines anderen als des Ehemannes vorgenommen, so gleicht sie einem Ehebruch“.
Weiter ist im Gesetzentwurf die Rede von einem „Menschenrecht, zu wissen wer sein Vater ist“, was durch die künstliche Befruchtung „planmäßig vereitelt“ wird. „Vor allem“, so heißt es weiter, „schließt aber die heterologe Insemination bei Unverheirateten die Gefahr in sich, dass hierdurch die Ehe in ihrer Bedeutung als sittlich vorgegebene Keimzelle des Volkes und der Menschheit allmählich immer mehr untergraben und entwürdigt wird.“ Und dann noch: „Hinter dem Kind“ – gemeint ist hier wieder das sogenannte „Kunstkind“ – „steht nicht die Liebe zweier Menschen.“
In dieser Begründung taucht plötzlich die Sexualität als eine Wurzel des menschlichen Zusam-
menlebens auf, was doch sehr verwundert, da dieser Gesetzentwurf eine ausgesprochen anti-
sexuelle Grundtendenz aufweist. Merkwürdiger aber ist bei diesen Paragraphen, dass die „künst-
liche Befruchtung“ durch einen Mann, der nicht der Ehemann ist, mit Begründungen abgelehnt wird, die bei vielen Abtreibungen überhaupt erst der Grund der Abtreibung sind.
Die „Liebe zweier Menschen steht nicht hinter dem Kind“, es hat „ein Recht zu wissen, wer sein Vater ist“. In den Paragraphen über Abtreibung spielt das alles keine Rolle. Selbst bei Vergewalti-
gungen wird die Schwangerschaftsunterbrechung verboten, obwohl unsere Gesellschaft ausge-
sprochen kinderfeindlich ist. Jeder, der schon mal versucht hat, „mit Kind“ eine Wohnung zu be-
kommen, kann ein Lied davon singen.
Prof. Hochheimer erwähnt in dem mehrfach genannten Buch hierzu folgendes:
„Für die soziale und eugenische Indikation (Schwangerschaftsunterbrechung auf Grund schlechter sozialer Verhältnisse bzw. zur Verhinderung von Erbschäden – Anm. d. Red.) versteht sich das nach der Grundhaltung des Entwurfes von selbst. Auf Grund dieser bemerkenswerten Selbster-
kenntnis wird außer der Ablehnung sozialer und rassehygienischer Gesichtspunkte auch die ‚ethische Indikation’, d.h. Unterbrechung einer durch ein Sittlichkeitsverbrechen entstandenen Schwangerschaft ausdrücklich abgelehnt. So finden wir auch hier wieder einen betont hartnäcki-
gen Kurs. Kurz darauf folgt einer der besten Sätze des ganzen Entwurfes: ‚Die Kriminalistik zeigt, dass Überhöhung der Strafandrohung, die den Rechtsanschauungen der Allgemeinheit wider-
sprechen, in der Praxis durchwegs wirkungslos bleiben.’ Bildet diese beachtlich richtige Feststel-
lung nicht eine einsame Insel inmitten von Strafen und Strafverschärfungen, gerade auf dem Gebiete des Sittenrechts? Unklar bleibt hier wieder der Begriff der ‚Allgemeinheit’. Wie würde diese wohl hier entscheiden?"
Immer wieder ist es also die „Allgemeinheit“, die herhalten muss, um dieses Gesetz ideologisch abzusichern. Eine „Allgemeinheit“, die es, wie die Tatsachen beweisen, überhaupt nicht gibt.
Auch den Jugendschutz lässt sich der „Gesetzgeber“ angelegen sein. Hierbei wird der Jugendliche grundsätzlich als ein asexuelles Wesen betrachtet. Dass die moderne Wissenschaft längst bewiesen hat, dass die Sexualität beim Kind bereits sehr früh beginnt, schert die Verfasser des Gesetzes nicht. Das Kind hat asexuell, also „unschuldig“ zu sein und zu bleiben, weil das Gesetz es so will. Es wird auch nie danach gefragt, wie ein Kind aufgeklärt und ihm die Möglichkeit zur Entfaltung einer reifen Sexualität gegeben werden soll. Aber alle Möglichkeiten sexuellen Tuns durch Kinder, mit Kindern, wird mit Strafe belegt. Die Kinder sind daher in der Entwicklung auf sich und auf die Straße angewiesen. Die doppelte und enge Moral zwingt sie, vor den Erwachsenen auf keinen Fall sexuelle Regungen oder Interesse an der Sexualität zu zeigen. Ihnen wird die sexuelle Lüge aufge-
nötigt, und sie sind schutzlos der Aufklärung durch die Straße ausgesetzt. Wann immer Kinder in unserer Gesellschaft heranreifen, bekommen sie die erste „Aufklärung“ durch Witze oder zweifel-
hafte Erzählungen. Ihr Verhältnis zur geschlechtlichen Liebe wird von Hause aus verformt, und ihre Einstellung zur Sexualität ist dementsprechend. Wie viel Tragik dem Menschen in unserer Gesellschaft daraus erwächst, lässt sich in dieser Arbeit gar nicht darstellen. Es wird dem Leser nicht schwer fallen, durch sein eigenes Verhältnis zur Sexualität im besonderen und den ge-
schlechtlichen Regungen im allgemeinen, sich eine Vorstellung zu verschaffen.
Hier wieder einige Tatsachen, die zeigen, wie es um die Jugend-Sexualität in Wirklichkeit bestellt ist. Hierbei müssen wir jedoch berücksichtigen, dass es sich um Tatsachen handelt, die auf eine große Dunkelziffer hinweisen. Unter „Dunkelziffer“ versteht man die große Zahl der Fälle, die statistisch nie erfasst wurden, weil die Beteiligten ja darauf bedacht sein müssen, dass „nichts herauskommt“.
„Es sind Häppchen aus der Dunkelzifferkiste“, schreibt Prof. Hochheimer, „wenn wir in unseren Zeitungen von Einzelfällen lesen, in denen beispielsweise 12jährige Mädchen Mütter werden, in denen solche werdende Mütter Folgen und Beweise ihrer ,Schande’ abtrieben, in denen Jugend-
liche wegen ,Nötigung zur Unzucht’ vor Gericht kamen, in denen jugendliche Mädchen – früher Kinder genannt – der geheimen Prostitution verfielen. Aus aktenkundiger Statistik ergibt sich hier, dass z.B. 1960 jedes zehnte uneheliche Kind von einem schulpflichtigen Mädchen geboren wurde, dass alle acht Tage in einer deutschen Schule ein Mädchen wegen Entbindung fehlt; dass an der Nötigung zur Unzucht Jugendliche mit 40 % beteiligt sind; dass 1956 von je 100 ,herausgekom-
menen’ Sittlichkeitsverbrechen 11,8 % von Jugendlichen begangen wurden; dass 1950 von den geheimen Prostituierten der Bundesrepublik fast 16 % unter 14 Jahren gewesen sind; dass nach einer USA-Statistik 31 % aller Vergewaltigungen von Jugendlichen erfolgten; dass der Anteil der Jugendkriminalität an der Gesamtkriminalität der Bundesrepublik während der letzten 20 Jahre um das dreifache anstieg. Die überwiegenden Delikte sind dabei ‚Unzucht mit Kindern’. In der Bundesrepublik werden jetzt jährlich etwa 3.000 Männer, täglich zehn, wegen Unzucht mit Kin-
dern verurteilt, darunter auch jugendliche Väter. Von Verbrechen an Kindern unter 14 Jahren wurden 1947 820 Fälle aufgeklärt, 1952 waren es 5.500! Aber von den 13- bis l4jährigen Mädchen-Kindern sind ja auch etwa 25 % bereits defloriert (entjungfert, Anm. d. Red.), und dieser Anteil nimmt offenbar immer noch rapide zu.“
Jeder, der nur ein wenig Einsicht hat, muss nach allem erkennen, dass die Kluft zwischen der Wirklichkeit und diesem Gesetzentwurf unüberbrückbar ist. Diese Kluft – oder sprechen wir lieber von Widerspruch – ist jedoch nichts anderes als das Ergebnis der Widersprüche unserer Gesell-
schaft überhaupt.
Der Widerspruch zwischen Warenausstoß und Kaufkraft, der Widerspruch zwischen den vielsei-
tigen Entfaltungsmöglichkeiten, die gerade durch den technischen Fortschritt für alle Menschen gegeben wären, und der tatsächlichen allgemeinen geistig-seelischen Verkümmerung, spiegeln sich in dem eindeutigen Widerspruch zwischen dem vorliegenden Gesetzentwurf und der Wirklichkeit wider.
Dass diese Widersprüche nicht ohne Veränderung unseres Wirtschaftssystems beseitigt werden können, wird verständlich, wenn man weiß, dass unser Wirtschaftssystem keineswegs auf die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse ausgerichtet ist. Dem Menschen wird in unserem Wirt-
schaftssystem die Rolle des Konsumtierchens zugewiesen, und die von der kapitalistischen Pro-
duktionsweise bestimmten Vorstellungen haben selbstverständlich vor der Sexualität nicht halt ge-
macht.
Die Sexualität ist – wie alles in unserer Gesellschaft – dem Gesellschaftlichen, und das heißt in diesem Falt: dem Mitmenschlichen entfremdet. Man liebt nicht, man konsumiert den anderen. Aber damit ist – genau wie beim Warenkonsum – keine wirkliche menschliche Befriedigung zu erreichen. Und das ist schließlich der wahre Grund für das allgemeine Unbehagen, dem man zu entfliehen sucht, einmal durch den Kauf immer neuer Waren (so man das Geld dazu hat), und zum anderen durch gesteigerten sexuellen Konsum. Der Mangel an zwischenmenschlicher Bindung kann jedoch nicht durch Moralvorstellungen und Wertmaßstäbe ausgeglichen werden, die aus der Mottenkiste vergangener Jahrhunderte stammen – und erst recht nicht durch Gesetze, die völlig an der Wirklichkeit unseres heutigen Lebens vorbeigehen!
Wenn diese Gesetze überhaupt einen Sinn haben, dann besteht er darin, den an unseren gegen-
menschlichen Verhältnissen leidenden Menschen in Schuld zu verstricken und ihn damit noch mehr zu manipulieren. Es gibt nur einen Weg aus dieser Situation. Er führt über eine neue Soli-
darität der tatsächlichen Allgemeinheit gegen jene herrschenden Kräfte, die mit aller Gewalt an Fesseln und Zwangsmitteln festhalten wollen, durch die das Menschliche in unserer Gesellschaft immer mehr zerstört wird.
Wenn der Mensch fähig sein soll, zu lieben, dann muss seine freie Entfaltung das höchste Ziel der Gesellschaft sein. Die Wirtschaftsmaschine muss ihm dienen und nicht umgekehrt. Er muss in die Lage versetzt werden, mit anderen die volle Lebensfreude schöpferischer Arbeit zu genießen – und nicht, wie heute, die Rolle des Konsumtierchens zu spielen (und im übrigen nur gut funktionieren-
des Teilchen in einer ihm fremd gewordenen Maschinerie zu sein). Die Gesellschaft muss so orga-
nisiert werden, dass die soziale, auf Mitmenschlichkeit gerichtete Natur des Menschen nicht mehr zerstört wird, sondern im Gegenteil die Grundlage des Zusammenlebens bildet; dass er seinen eigenen Leistungen und Kräften nicht entfremdet ist und sie nur noch in der Anbetung neuer Göt-
zen – Staat, Produktion, Konsum – in fetischhafter Form erlebt. Nur in einer Gesellschaft, in der – wie Karl Marx sagte – die volle menschliche Entfaltung des Einzelnen die Bedingung der vollen Entfaltung aller ist, kann auch die Sexualität eine gesellschaftlich anerkannte Verhaltensweise sein – frei von Prüderie und von menschheitsfeindlichen Einflüssen.
Zwei Meldungen, die zufällig auf derselben Zeitungsseite standen (SÜDDEUTSCHE ZEITUNG vom 7. März 1962), zeigen – hintereinander gelesen – die ganze Heuchelei und Doppelbödigkeit der staatlich dekretierten Moral. Die erste ist eine AP-Meldung aus Glasgow und lautet: „Der Staatssekretär für Schottland hat energisch den Antrag abgelehnt, zu langen Haftstrafen Verurteil-
ten gelegentlich zu gestatten, in der Strafanstalt eine Nacht mit ihren Frauen zu verbringen. Der Antrag stammt von einer Frau, deren Mann eine Zuchthausstrafe von zehn Jahren wegen eines Überfalls verbringt. Frau Christine Neill hatte einem Labour-Abgeordneten vorgeschlagen, die gelegentlichen Ehenächte in einer Sonderzelle zu gestatten. Die Ablehnung kommentierte sie mit den Worten: ,Die Frauen von Häftlingen halten das für sehr unfair, nicht nur unseren Männern, sondern auch uns Frauen gegenüber.’“
Die zweite kommt von UPI aus Hannover: „Ein l4jähriges Mädchen und zwei Burschen im Alter von 14 und 18 Jahren wurden in Hannover überführt, drei Raubüberfälle begangen zu haben. Unter anderem hat das Mädchen einen Geschäftsmann in einen entlegenen Stadtteil gelockt, wo sie und ihr l4jähriger Kumpan dem Mann mit Gaspistolen ins Gesicht schossen. Der Geschäfts-
mann konnte entkommen. Anfang März hat das Mädchen einen älteren Mann in eine Gartenko-
lonie gelockt und ihn mit einem Ätherbausch betäubt. Anschließend raubten die Burschen dem Bewusstlosen die Geldbörse mit 140 Mark.“
Einerseits werden also die Ehefrauen für etwas, was nicht sie, sondern ihre Männer getan haben, zusammen mit diesen zu langjähriger sexueller Enthaltsamkeit verurteilt – oder zu etwas getrie-
ben, was die Gesetze wiederum als „Ehebruch“ verurteilen. (Oder sollen die Frauen die Scheidung einreichen? Wie verträgt sich das mit der bürgerlichen „Familienpolitik“?) Andererseits darf sich ein Geschäftsmann mit 14jährigen Mädchen einlassen, ohne dass ihm der geringste Vorwurf ge-
macht wird – schließlich ist er ja „Geschäftsmann“. Im Gegenteil: der betrogene „Liebhaber“ darf in seiner Empörung der vollen Unterstützung der Behörden sicher sein, die ein solches „Flittchen“ schon in Gewahrsam bringen werden! (Gibt es nicht ein Gesetz: „Wer ein Mädchen unter sechzehn Jahren dazu verführt, mit ihm den außerehelichen Beischlaf zu vollziehen …“?) Wieder einmal be-
weist sich die Existenz der alten jesuitischen Regel: „Quod licet Jovi, non licet Bovi“ – oder anders ausgedrückt: Die „öffentliche Moral“ ist für das niedere Volk da. Filmstars, Bankiers, Industrieka-
pitäne, Politiker, „Geschäftsleute“ haben ihre eigene.
Rolf Gramke
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1 „Sexualität und Verbrechen“, herausgegeben von Fritz Bauer, Hans Bürger-Prinz, Hans Giese und Herbert Jäger, Frank-
furt/Main: Fischer Verlag 1963.
„Die als so gefahrenanfällig behauptete „allgemeine Sittlichkeit“ im Volksempfinden erweist sich oft genug psychologisch als Kulturtünche und religionspädagogischer Import in die Kollektivseele. Das kollektive Volksempfinden besteht aus Irrationalismen, aus emotionalen Elementen, aus Vorurteilen. Es besteht aus Abwehrhaltungen gegenüber Fremd- und Andersartigkeit und den verschiedenen anderen Primitivismen, aus abergläubischen Elementen, aus animalischen In-
stinkten radikalster, grausamster Art.“
Prof. Dr. Wolfgang Hochheimer in „Sexualität und Verbrechen“, Seite 97.
„Westermarck schreibt in ‚Ursprung und Entwicklung der Moralbegriffe’: ‚Kaum weniger schwankend als die Moralbegriffe über die Ehe sind jene, welche die geschlechtlichen Beziehungen nichtehelicher Art betreffen.’ In der Kulturgeschichte der Völker begegnen wir der Einehe, der Vielehe der Männer, der Vielehe der Frauen, bald dem Gebot der Inzucht, bald ihrem Verbot, der Anerkennung oder Ablehnung der Homosexualität, der freien Liebe und der Ehelosigkeit. Ähnlich wie Wester-
marck äußert sich Pascal in seinen ‚Pensées’ zu den Gesetzgebungen der Staaten. ‚Drei Breitengrade näher zum Pol stellen die ganze Rechtswissenschaft auf den Kopf, ein Längengrad entscheidet über Wahrheit. Eine spaßige Gerechtigkeit, die von einem Fluss begrenzt wird! Wahrheit diesseits der Pyrenäen ist Irrtum jenseits.’ Für weite Teile des Sexualstrafrechts gelten seine weiteren Gedanken. ‚Man begeht Verbrechen, weil der Gesetzgeber es beschließt (Seneca). Früher waren es Laster, heute sind es Gesetze, die uns zu schaffen machen (Tacitus). Die Gewohnheiten allein macht das ganze Recht; dass es über-
liefert ist, ist sein einziger Grund; das ist die mythische Grundlage seiner Autorität. Wer nach seinen Entstehungsgründen fragt, wird sie so schwach und nichtssagend finden, dass er sich über ihren Mangel an Berechtigung wundert, es sei denn, dass er gewohnt ist, die Wahnvorstellungen der Menschen zu kennen.“
Prof. Dr. Fritz Bauer in „Sexualität und Verbrechen“, Seite 11.
„Angeblich war jedermann einmal jung, doch fehlt dafür oft die Bestätigung.“
Jan Sztaudynger
Heute 5/1963, 7 ff.