Materialien 1967

Ich wollte eine Abendzeitung klauen

… Das war damals der Brauch. Ich näherte mich dem AZ-Kasten, Ecke Leopold-Georgenstraße. Da stand ein dicker Mann. Ein sehr dicker Mann. Ein Pykniker mit Vollbart. Unmöglich angezogen. Unter der Trevira(?)-Hose undefinierbarer Farbe schaute ein Pyjama-Unterteil (gestreift?) hervor. Neben dem Mann, der in aller Ruhe die Abendzeitung las, standen zwei mit losen Papieren prall gefüllte Plastik-Einkaufstaschen. Ein Gammler? Ein Penner? Ein Provo? Ich trat an ihn heran, interessiert. Er hob die Augen einen Moment über den Zeitungsrand. Was er sah, schien ihm nicht zu gefallen. Er las weiter. Ich sagte: Entschuldigen Sie bitte, und holte mir mein Freiexemplar. Ich ging ein Stück weiter. Da war eine Bank. Ich schlug die Zeitung auf. Ich las. Der dicke Mann ebenfalls. Da er früher angefangen hatte, war er schneller fertig. Doch anstatt die gelesene AZ verächtlich in den nächsten Papierkorb zu stopfen, schlug er ordentlich Seite für Seite um, faltete und glättete das Blatt, bis es wie neu aussah, hob den Deckel des Verkaufskastens und legte das Exemplar zum Weiterverkauf zurück. Ich glaube, in diesem Augenblick habe ich das Prinzip des ökologischen Anarchismus begriffen. Ich las meine Zeitung fertig und tat es dem dicken Manne nach, der längst, eine Plastiktasche in der Rechten, die andere in der Linken, seiner Schwabinger Wege gegangen war.

Es muss irgendwann im Jahr 1967 gewesen sein, als ich dann zusammen mit meinen Freunden Hanns Zischler und Lukas Liebl auf der schmalen Treppe stand, die abwärts in den Kellerraum führte, den die Künstlergruppe Spur gemietet hatte und der uns, der nach eben jenem Keller benannten Schleißheimer Gruppe, als Ort der Forschung, Lehre, Kommunikation und Konspiration diente. Vor uns die Treppe hinab standen, wie es auch der lebensgeschichtlichen Hierarchie entsprach, die Damen und Herren der subversiven Aktion, diejenigen also, die, dem legendären Max-Bense-Seminar über Marx und Lenin entwachsen, versuchten, im Wettstreit mit der situationistischen Internationale neue Formen der politischen Praxis zu entwickeln. Es waren dies insbesondere die Herren Kunzel- und Böckelmann, der Soziologe Goeschel, der Bakunin-Fan Wetter, und während sie sich mit einem dicken Mann, der immer noch zwei Plastiktüten mit sich schleppte, über das mir gänzlich unbekannte Gesetz der tendenziell fallenden Profitrate verständigten, glotzten wir Youngsters die unirdisch schöne Malerin Anita Albus an, bereit, auf ihren kleinsten Wink jedweden Tyrannen auf diesem Erdball schwerstens zuzusetzen.

Doch die Göttin ignorierte uns einfach. Sie unterhielt sich mit Dagmar aus der Kommune 1 über Frauenangelegenheiten. Dagmar war die Referentin des Abends und berichtete über die Situation der beiden Berliner Kommunen. Irgendwann machte ein Joint die Runde, der den kurzen geselligen Teil des Abends eröffnete. Rolf, der als „der Genosse aus Wien, der grade den dritten Doktor macht“, vorgestellt wurde, lud zu einem Armeleute-Essen in Anitas Wohnung in der Türkenstraße ein. Fünfzehn Gänge für 5 Mark pro Person. Das konnten sogar wir uns leisten. Ich zahlte gleich für meine hedonistische Freundin mit.

Rolf und ich hatten zufällig denselben Heimweg. Ich wohnte damals in einem Doppelzimmer der Arbeiterwohlfahrt in der Gravelottestraße in Haidhausen. Mein Mitbewohner war Vertreter für schnapsgefüllte Pralinen. Davon lebte ich im wesentlichen, denn die Wuchermiete für die höchstens zehn Quadratmeter betrug hundertachtzig Mark. Aber es lag so, dass ich in langen Fußmärschen meine geliebte Monika in Giesing besuchen konnte, die dort mit ihrer Großmutter lebte, weswegen ich nicht die ganze Nacht bleiben durfte.

Rolfs Gegenwart ließ zudem den frivolen Gedanken an eine Taxifahrt Richtung Haidhausen gar nicht erst aufkommen. Ich kann mich an die Einzelheiten unseres nächtlichen Gesprächs nicht mehr erinnern, aber ein Gefühl blieb, nämlich das, trotz meines geringen Wissensstandes in Sachen Profitrate etc. von diesem monströsen, aber höchst liebenswürdigen Außenseiter akzeptiert zu werden in meiner ganzen damaligen Wirrköpfigkeit. Während es andere aus der Gruppe selten unterlassen konnten, sich an uns Youngsters zu profilieren, was leicht genug war, griffen Rolf und meistens zu unserer Freude auch Anita mit Witz und Grütze häufig zu unseren Gunsten ein, was unsere heimliche Verehrung nur vergrößerte.

Das Essen war gigantisch. Fünf Stunden hatte Rolf Anitas Küche schon benutzt, bevor der erste Gang auf den Teppich kam, um den wir den alten Römern gleich akkubierten. Dazwischen Wasser, Wein und manchen Joint. Im Hintergrund Jefferson Airplane oder Velvet Underground oder Led Zeppelin oder Hendrix. Besser konnte Bohème nie gewesen sein. Als dann die Revolution misslungen war und nur noch die enttäuschten Fanatiker den bewaffneten Kampf propagierten, hatte sich die Schleißheimer Gruppe längst aufgelöst. Die Frage lautete: What can a poor boy do? Und genau das tat ich dann. Einer der ersten, die mitspielen wollte, war Till. Julius Schittenhelm hatte ihn geschickt. Till brachte eine Platte mit, auf der er mitgewirkt hatte – als Publikum im Studio. Die Platte hieß Lieder zur Kindertrommel und zeigte einen mir gut bekannten Sänger. Dass er sang, hatte ich die ganze Zeit davor nur am Rande mitgekriegt. Klar, dass ich die Band mit Till machte. Sparifankal. Klar, dass wir auf unserer ersten Platte dem großartigen Rolf unsere Reverenz erwiesen.

I lis in meina Zeidung bis in de sinkad nachd
wos de sei Regierung fiaran Scheisdreg machd
I lis den Schmarrn und i wea ned fro
wei mia mia schdingda sowiso
I bin mid so an Zeig ned zfrin
i bin mid so an Zeig ned zfrin
weil i ned lewadamisch bin

De Groskopfadn zoang da wia ma d weid regiad
und wan da des ned basd na woasd scho wos da bliad
Du griagsd a wengal Freiheid in dei Gfris neigschlong
und wan da des ned glangd kosd gean no mera hom
De Groskopfadn hoitn unsaoan fia bled
und moana das dea Sauschdoi ewig weidaged
Das mir den Scheisdreg schlucka grod wiasn uns seawian
do hom sa de fei brend des weans scho no kapian

Wir lebten in einer Kommune und machten Musik, und bald besuchte uns ein Gnom aus Highdelberg und der kannte den Rolf auch, und dann hörten wir irgendwann, er sei jetzt Professor geworden, irgendwo im Hessischen – für Devianzforschung. Wir lachten uns eins und fanden das köstlich.

Dann lasen wir wieder in seiner Theorie der Subkultur oder in den Modellen zur Radikaldemokratie, zwei Büchern, die neben Ronald D. Laings Knoten, Brückner/Agnolis Transformation, Abbie Hoffmanns Steal this Book und Jerry Rubins Do it den Grundstock unserer hippen Bibliothek bildeten. Manchmal bekam ich Post von Rolf. Einladungen zum Jour fixe in München. Aber wir lebten inzwischen weit weg auf dem Land, und ich kann mich nur an einen Vortrag erinnern, nach dem wir uns kurz sehen. Aber trotzdem flog ich nie aus Rolfs Verteiler, obwohl ich kaum jemals die Fragebögen ausfüllte, die er beilegte (ich habe ein Problem mit Fragebögen).

Und dann kamen die Achtziger. Die Band hörte auf. Alles änderte sich. Eines Tages stand ich in Kassel im Schnee, und der Schnee brannte lichterloh wegen Gisela. Und Rolf war auch da. Und Eugen Pletsch. Das war der Ursprung einer Viererbande, die dann ein Seminar im schönen Josefstal schwer verunsicherte. Der Vorgang ist dokumentiert, denn wie aus dem Nichts tauchte jener freundliche Gnom aus Highdelberg dort auf und schnitt das alles mit für seine Transmitter-Reihe. Nur wenige Auserwählte haben diese Tapes gehört. Nicht alles ist für alle. Und manches bleibt für immer unbegreiflich. Zum Beispiel, dass auch Leute wie wir fünfzig werden. Rolfs Konsequenz aus diesem Faktum war eine Festwoche in Wien, sich selbst zu Ehren und in Gesellschaft vieler Freunde.

Eugen und ich machten zusammen Musik. Für Rolf. Es gibt ein Video davon, aber nur wenige Auserwählte…. (s.o.) Irgendwann in diesen dreißig Jahren sind Rolf und ich emotional Freunde geworden. Dass es verbal nicht so recht klappt, liegt nur an mir. Ich spreche nicht gut Fach und auch nicht Theorie. Aber ich glaube, wir beide wissen voneinander, dass wir wissen, worum es geht.

Immer noch und immer wieder und heiter weiter. Ich mag Rolf Schwendter einfach gern. Sogar, wenn er bei Phettberg auftritt. Aber in echt noch viel mehr.

Carl-Ludwig Reichert


Vorwort zu: Rolf Schwendter, Rosa Luxemburg im botanischen Garten und weitere Lieder zum freien Gebrauch – Buch zur CD (1997?).

Überraschung

Jahr: 1967
Bereich: Jugend

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