Materialien 1967

»Rhizom« - Geflechte

»Vor mehr als dreißig Jahren kam ich hierher. Weil ich an der Akademie studieren und in Österreich keinen Militärdienst machen wollte. Zivildienst gab’s damals noch nicht. In meinem Atelier auf 61, im zweiten Hinterhof, waren vorher auch Bildhauer, meistens aus der Henselmannklasse. Wenn einer wegzog oder heiratete, hat er es einem anderen Bildhauer weitergegeben.

Hier die Häuser stammen aus der Jahrhundertwende, einer Zeit, in der Leben und Arbeiten gemeinsam konzipiert war. Die Werkstätten waren für Handwerker gedacht, aber die Kellerräume waren zu feucht für ein Lager, deshalb hat sie der Weller an Künstler vermietet. Ein Glücksfall für uns.

Wir machten also einen Vertrag, einen Gewerbevertrag, das heißt, er ist innerhalb eines Monats kündbar. Nach Jahren hat er die Miete dann um 100 Prozent erhöht. Dafür sei es dann für länger, hat er gemeint. Seither zahle ich diese Miete.

Es war ziemlich feucht, der Putz war von den Wänden gefallen, ich habe das allmählich saniert. Am Anfang gab es eine Ölheizung, wo man sich das Öl kannenweise von einem Brennstoffhändler in der Adalbertstraße holen musste. Fünf Mark teuer und zwanzig Kilo schwer. Da habe ich oft lieber im Kalten gearbeitet.

Nein, Rheuma habe ich noch nicht. Nur Gicht.

Irgendwann habe ich mir einen Ofen gebaut, den man mit Abfallholz heizen konnte: was an Möbeln abfiel, was an der Straße herum war, was ich an Brettern wo vorzog, damit wurde geheizt. Inzwischen sind wir in unserem Hinterhofverbund, da ist Martin, der Polsterer mit seinem gusseisernen Ofen, der Erich, auch ein diplomierter Bildhauer, mit seinem selbergebrannten und gebauten Kachelofen und ich, also inzwischen sind wir schon so vornehm, dass wir gemeinsam Holz kaufen, es zersägen und aufschichten. Zehn Ster. Wir heizen dann ganz herrschaftlich mit Holz aus dem Nymphenburger Schlosspark.

Mein Ofen ist im Prinzip eine Teertonne, die ausgemauert ist und ein Feuerloch hat. Darüber ist eine Kuppel gemauert. Er steht auf einer Art Säule aus zwei Autofelgen. Das Ofenrohr hat spezielle Windungen, dass die Hitze nicht so schnell abpfeift, es sieht aus wie eine Riesenschlange, die sich windet. Dazu gibt es ein Funkengitter und einen Bratrost, dass man nicht nur heizen, sondern auch braten kann.

Der Anblick des offenen Feuers, der Rauch und der Geruch, das sind emotionale Qualitäten.

Es gab schon viele Feste hier, welche, wo wild getanzt wurde oder welche, wo alle ins Feuer gestarrt haben.

Die Feste haben sich überhaupt verändert in der Wohlstandsgesellschaft. Mei, wir sind keine Studenten mehr. Früher hat einer ein Tragl Bier gespendet, dann war das ein herausragendes Ereignis und alle haben sich gefreut.

Oder es hieß: dort gibt es ein Atelierfest! Und alle sind hingeströmt. Auch wenn es bloß Bier gab und Brot und Schmalz. Heute muss man ja schon fast mit verschiedenen Speisefolgen locken.

Unsere großen Hinterhoffeste gibt es nicht mehr, wo alle Hausbewohner kamen und Werkstätten und Ateliers offen waren. Kleinere schon noch. Heute borgt sich auch niemand mehr mein Atelier aus für eine Geburtstagsfeier oder ein Faschingsfest. Sicher war es früher schöner. (lacht)

Die Mieter waren auch andere: echte Hinterhöfler, bescheidene Leute wie die drei alten Schwestern.

Jetzt wohnt hier mehr das akademische Proletariat, also ich will sagen, auch noch bescheidene Leute, aber nicht mehr so naiv. Die sind ja früher aus ihren vier Wänden nicht herausgekommen, außer bis zur Ludwigskirche oder zum Friedhof. Die haben auch nie Urlaub gemacht. Da gab es welche, die hingen den ganzen Tag am Fenster und beobachteten, wer hinein- und herausging.

Als ich hier einzog, vor gut 25 Jahren, war die Stimmung im Hinterhof ziemlich repressiv. Die Mauer war total rußschwarz, es gab kein einziges Gräschen, auf der grauen Betondecke durfte kein Blatt liegen. Jeder lebte irgendwie einzeln und verschreckt vor sich hin, noch ganz in der Nachkriegssituation. Es gab keine Kommunikation, irgendwie beobachtete man einander misstrauisch.

Niemand wollte mit jemandem etwas zu tun haben, weil das Schlechte ja von außen kam. Deshalb hat man sich eingeigelt. Als dann der Brandauer1 den Elserfilm2 bei uns gedreht hat, im Hof, im Hauseingang, in Martins Lager und Werkstatt und in Erichs und meinem Atelier, als er das Jahr 1939 nachgestellt hat, da hat mich die Stimmung stark daran erinnert, wie es war, als ich einzog.

Das hat sich über die Jahre stark verändert, vor allem auch durch die Hinterhoffeste. Da konnte man merken, als man miteinander geredet hat, dass alle ganz freundlich und umgänglich waren. Trotzdem prallten da zwei verschiedene Auffassungen von Leben und Fest aufeinander.

Da gab es einmal ein Fest bei mir im Atelier, so in Richtung Happening und Performance; Fleisch wurde im Kamin gebraten, jeder hatte sein Stück mitgebracht. Ein Freund hatte ein Riesenrinderherz dabei und der bildete sich so eine Aztekenzeremonie ein, so ein Herzopfer. Er hat sich also das Herz in Bratfolie um den Leib gebunden und sich auf den Boden gelegt. Es wurde wüst getrommelt und er war gerade dabei, das Herz aus der Bratfolie herauszuholen, als eine der Pollerer-Schwester hereinkam und bat, wir mögen doch ein bisschen leiser sein, weil ihre Schwester im Sterben liege. Das war eine ganz makabre Situation.

Passiert ist hier alles, was sich aus Spaß entwickelt hat. Nicht so konzipierte Schweinereien wie beim Nitsch. Wenn einer nacket herumgehüpft wäre, hätte niemand was gesagt, aber es war nicht das Konzept von vornherein.

Nach der Gründung der HSK an der Akademie, die sich am Anfang eher wie ein Geheimbund verstand, wurde viel Theorie gemacht in Arbeitsgruppen. Die tagten dann in den Meisterschülerateliers oder im Astaraum. Es gab ein Bildungsbedürfnis, das nicht vom Lehrplan gedeckt wurde. Die Frage, wo man als Künstler in der Gesellschaft stand, gab’s gar nicht. Die Gruppe >Spur< brachte dann über den Situationismus ganz andere Ideen herein, frischere Luft: Dass man eben Kunst direkt ins Leben tragen müsse.

Weil ich in dieser turbulenten Zeit nicht oft in meinem Atelier arbeitete, habe ich es manchmal auch für Arbeitsgruppen zur Verfügung gestellt. Da ist schon einmal der Philosoph Böckelmann hereinmarschiert und die Hanna Schygulla. Der Faßbinder lief sowieso die ganze Zeit in der Gegend herum. Da gab es dann eine Fluktuation von wildfremden Leuten im Hinterhof, was den Hausbewohnern allmählich unheimlich wurde, zumal weil ich nicht immer dabei war. Da wurde mir angedroht: Wenn das nicht aufhört, fliegst du raus!

Zum >Situationismus<, der eigentlich aus Frankreich kam, dann aber zu einer internationalen Bewegung wurde. Da ging es um >Kunst und Leben<: Dass die Künstler nicht mehr nur produzieren sollten, sondern direkt in der Gesellschaft arbeiten. In spielerischer Form, als Happening. Es ging um die Aufhebung der Arbeitsteilung: dass es keine Berufe mehr gibt, dass jeder alles sein konnte.

Dass menschenunwürdige Arbeit von Robotern gemacht würde und der Mensch frei wäre für kreative. Dass alle Leute Künstler sind. Im Max Emanuel hat der Heimrad Prem von der Gruppe >Spur< die >weißen Feste< initiiert. Die waren schon anarchisch konzipiert, da ging’s auch um sexuelle Befreiung. Dahinter stand die Idee, dass eigentlich das ganze Leben ein Fest sein sollte.

Wer nackt erschien, hat hundert Mark bekommen, ein Wahnsinnsgeld damals. Richtig nackt waren sie aber gar nicht, nur weiß angemalt. Die Feste waren sehr ausgelassen und erlangten Berühmtheit weit über die Stadtgrenzen hinaus. Es gab acht weiße und ein schwarzes Fest. Was danach kam, trug zwar noch den Namen, war aber total durchkommerzialisiert.

Der Prem hat sich dann umgebracht. Mit seiner Freundin. Er wollte irgendwie auf der Höhe seines Lebens sterben. Das waren so Kamasutra-Ideen. Da haben sich die beiden so quasi im Liebesakt vergiftet. Ganz exzessiv leben und dann freiwillig abtreten.

An der Akademie war es damals muffig und eng. Deshalb ging ich mit meinem damaligen Freund Gilly nach England. Jetzt ist er weltberühmt, Gilbert and George aus Südtirol. Die englischen Lehrmethoden schienen uns viel sinnvoller als unser Klassensystem hier mit seinen Hierarchien, Hackordnungen und daraus resultierend, diesem Duckmäusertum.

In den englischen privaten Kunstschulen gingen freie Künstler herum und unterhielten sich nur mit Studenten, mit deren Arbeiten sie etwas anfangen konnten. Alles war viel einleuchtender und demokratischer als bei uns. Bei uns waren die Klassen abgeschottet, die Disziplinen hatten nichts miteinander zu tun, außer ein Bildhauer fing etwas mit einer Malerin an.

Die Akademie war eine Ideenküche, in der viel herumschwirrte. Der Henselmann war mit der konventionellste Bildhauer, aber wenn er merkte, dass irgendwie Energie und Streben dahinter steckte, dann ließ er einen machen.

Ich habe an der Akademie einiges gelernt, wenn auch nicht notgedrungen von meinem Professor.

Im Faschismus galten die modernen Künstler ja als >entartet<, sie bekamen Berufsverbot oder mussten auswandern. Viele gingen nach Amerika. Von dort ist dann der abstrakte Expressionismus wieder zu uns zurückgekommen. Die, die zurückkamen, gingen nicht gerade an die Akademie.

Bei uns war die Tradition der Moderne abgebrochen. Jeden Vormittag gab’s bei uns noch Modellieren mit Modell. Früher sogar noch nach alten Gipsmodellen. Wir Studenten mussten praktisch das Bügeleisen noch einmal erfinden. Wir kämpften darum, abstrakte Kunst machen zu dürfen, und vielleicht war’s ja im nachhinein gar nicht so schlecht, dass man sich gegen etwas durchsetzen musste. Es war eine harte, aber vielleicht gute Schule: dass man sich hineinkniet in etwas, sich nicht drausbringen lässt, gegen Widerstände etwas durchsetzen lernt.

Es ist eigentlich immer das gleiche: wenn Kunst gelehrt wird, gerät sie leicht in Gefahr, formalisiert zu werden, zum Akademismus zu erstarren. Dann gibt es die anderen, die dem Zeitgeist auf der Spur sind und ganz andere Sachen machen, die gesellschaftlich nicht so akzeptiert sind.

Und meist ist es dann so: dass die gesellschaftlich akzeptierten nach einiger Zeit vergessen sind und die anderen, die vorher eine auf die Finger gekriegt hatten, plötzlich ausgepackt werden.

Als junge Künstler haben wir nie gedacht, dass wir unser Zeug einmal verkaufen könnten. Man dachte nur an hehre Kunst und dass man sich nie prostituieren wollte damit. Irgendwann hat man aber dann doch Interesse, dass man seine Kunst verkauft. Es gibt Künstler, die betrachten ihre Werke als Kinder, die sie nicht weggeben können. Bei mir ist das eine andere Sache: ich muss manchmal Plastiken kaputtmachen, weil ich sie nicht mehr lagern kann. Oder dass ich sie umarbeite. Oder Bilder übermale. Das ist doch wie bei einer Überpopulation von Ratten, die ihre Jungen zusammenbeißen, um selber überleben zu können. (Lacht)

Wovon ich überlebe? Zu einem Teil von meinen Bildern, zu einem anderen von Auftragsarbeiten, Brunnen, Skulpturen, Möbel und dann vom freien Kunstunterricht.

Da gibt es das Kinderforum der Galerie van de Loo, das, auf die Ideen der 68er zurückgeht: Kunst und Leben, wie kann sich der Künstler in die Gesellschaft einbringen. Der sinnvollste Weg geht da über die Kinder. Nicht, dass sie indoktriniert werden, sondern dass sie den Prozess des Kunst-Machens lernen. Dazu gehört ein Moment von Freiheit und viele Momente von Leidenschaft und Liebe. Zu Dingen und Ideen. Dass vielleicht einmal eine demokratischere Gesellschaft entsteht oder der Widerspruch gegen Zwang, autoritäres Verhalten und Intoleranz wächst.

Die Jugendlichen aus dem Kinderforum sind alle Kriegsdienstverweigerer geworden, haben mit Schwerbehinderten gearbeitet. Die Räume des Kinderforums waren früher eine Galerie für Happenings: da hat es eine >Fluxus<-Ausstellung gegeben und da hat der Nitsch einmal sein Orgien- und Mysterientheater aufgeführt. Die Kunst war voller Aktionen. Nichts, um an die Wand zu nageln. Sie war vergänglich.

Als das mit den Aktionen weniger wurde, hat der van de Loo die Galerie den Kindern zur Verfügung gestellt.

Da gab es Künstler, die in der Baracke der Akademie einen Kindergarten aufgezogen hatten, einen antiautoritären. Von denen waren welche dabei. Andere kamen später, die sich für Gesellschaftsproblematik interessierten, politischer, soziologischer, psychologischer Art.

Kinderforum hieß es, weil die Kinder dort machen durften und sollten, was sie wollten. Wo man mit den Möglichkeiten der Stadt spielte, künstlich Erlebnisse herstellte: gezielt Feuer legte, was für Stadtkinder ziemlich fremd war, Sachen mit Wasser machte, mit Farbe, mit Ton. Das Programm wurde gemeinsam von Erwachsenen und Kindern gemacht. Die Betreuer hatten fürs Material zu sorgen, dass alles gruppendynamisch ablief und didaktisch aufbereitet war.

Viel lief über den bildnerischen Bereich, das Erlernen von Maltechniken.

Da gab es Kinder, die mit sechs reinkamen und mit 24 raus gingen. So gut hat es ihnen gefallen.

Deshalb haben wir es umgetauft in Forum für Kinder und Jugendliche. Mühelos konnten wir zwanzig Jahre immer etwas Neues bringen oder gleiches auf einer schwierigeren Ebene. Da haben wir Filme gemacht, Theater gespielt und Überraschungsaktionen inszeniert. Wie die auf dem Marienplatz.

Es war wunderschönes Wetter und wir sind mit einer Gruppe von Kindern mit Farbkreiden auf den Marienplatz. Da haben wir angefangen, auf dem Pflaster zu malen und haben die Leute aufgefordert, doch mitzumachen. Viele haben sich anstiften lassen. Da war plötzlich der ganze westliche Marienplatz ein Riesenfeld, das Haufen von Leuten bemalt haben. Das war eine Stimmung, das kann man sich gar nicht vorstellen.

Die Polizisten sind rumgegangen und haben keinen Ton gesagt, weil es außerhalb ihres Denkens war, dass so eine Aktion nicht angemeldet sein könnte. War sie aber nicht.

Wir sind nur die ganze Zeit zum Kaufhof gelaufen und haben neue Kreiden geholt und verteilt.

Oder die andere Aktion auch auf dem Marienplatz: da haben die Kinder vom Forum die Leute gefragt, ob sie ihnen nicht Modell sitzen würden, sie hätten kein Modell. >Wenn’s sein muss!< haben dann die Leute gesagt und sich hingesetzt. Dann haben die Kinder angefangen zu malen, jeder eine andere Stilrichtung, das war ausgemacht. Sie waren von einem Wust von Zuschauern umgeben und der, der die Modelle nackt zeichnete, hat am meisten Anklang gefunden.

Wie es zum> Kollektiv Herzogstraße< kam? Das hieß am Anfang gar nicht so und war eigentlich als Diskussionsforum für Kunstschaffende aller Sparten gedacht. Anno 1967. Als dann 72/73 vollkommen klar war, dass es in Deutschland keine Revolution geben würde, kam die Idee des Marsches durch die Institutionen. Da musste sich also die Theorie in der Praxis beweisen und manches ist ja auch kläglich gescheitert. Da hat jeder seine eigenen Erfahrungen gemacht.

Und da gab es ein paar Künstler, die sich formierten und sagten: Die Gesellschaft ist noch nicht so weit, dass die Kunst nahtlos ins Leben übergeht. Die Künstler stehen wieder als Fachidioten da. Darüber wollten wir diskutieren. Und weil die meisten Maler waren, wurde die Diskussion mit dem Pinsel weitergeführt.

1977 machten wir einen Malaufenthalt in Schweden, beim Bruder von Asger Jorn, Jörgen Nash. Der hatte ein Riesenatelier in einem Bauernhof und uns war klar, dass wir gemeinsam Bilder malen würden. Wir gingen das zunächst einmal theoretisch an, mit Büchern. Wir wollten ganz demokratisch malen. Wir waren 15, die da zusammen lebten, kochten, malten. Da sagte ein Galerist: Ihr seid ein Kollektiv! Und weil wir unser erstes Atelier in der Herzogstraße hatten, hieß es dann >Kollektiv Herzogstraße<.

Die Maler, die später auf den Bauernhof kamen, scherten sich einen Dreck um unsere Diskussionen und fingen einfach das Malen an. Das hat sich dann ganz urwüchsig entwickelt.

Jeder hatte sein Malzeug dabei. Große Bilder haben wir gemeinsam entwickelt, kleine allein gemalt. Oder man hat einfach den Platz gewechselt und beim anderen weitergemalt. Da hat sich dieser besondere Stil entwickelt. Dass es da einfache Elemente gibt wie Fläche und Pinselstriche, dass da aber die Farbe läuft, sich frei entfaltet oder lasierend wirkt.

Am Anfang ist’s einfach: da ist viel Weiß und viel Platz. Doch dann gibt’s einen Punkt, wo es in verschiedene Richtungen weitergehen kann. Das wurde dann diskutiert: der eine wollte so, der andere so. Da hat man dann zum Beispiel Gegenstände angemalt, eine Latte, zum Beispiel, hat sie ins Bild gestellt und weiterdiskutiert. Da hat man sie auf einmal nicht mehr gesehen, weil sie im Bild verschwunden war. Nur wenn du entlanggegangen bist, bist du darüber gestolpert.

Mich hat immer der Raum interessiert, der reale Raum und der Farbraum: gelb springt nach vorn, blau geht zurück. Dann gibt es den illusionistischen Farbraum: obwohl flach, meinst du, das Bild hat Tiefe. Den realen Raum mit dem Farbraum zu kombinieren hat mich immer interessiert. So bin ich als Bildhauer immer mehr zum Malen gekommen.

Das Kollektiv Herzogstraße hatte eine Ausstellung in der Amalienpassage, als nach dem Bau noch nicht alle Läden vermietet waren, weil sie zu teuer waren. Ich hatte Plastiken in weiß aus Latten gemacht, damit man sie später einmal bemalen könnte. Wir wollten dort die erste Stadtteilgalerie machen, aber obwohl der Kulturreferent zur Eröffnung kam, hat es nicht geklappt.

Wir sind dann zu mir ins Atelier, Mitglieder vom Kollektiv, und haben den ganzen Sommer über im Hinterhof weitergemacht. Bis der ganze Hinterhof mit Plastiken zugestellt war.

Dann mussten die Leute eben darüber steigen. Das wurde nicht nur akzeptiert, sondern hat den Leuten sogar Freude gemacht. Weil sie dachten: aha, das ist der Heini. Der macht das halt. Der spinnt ja nicht. Das wird schon einen Sinn haben.

Die Berta Kattaloher, die Frau vom Bert, dem Polsterer, hat da etwas Lustiges gesagt: Sie würde mich im Testament bedenken, weil es ihr so leid tut, dass ich immer über die Bildränder hinaus malen würde.

Das waren die gestischen Bilder und sie hat gemeint, ich hätte eine Störung in der Feinmechanik. (lacht)

Das ist eben die Tradition des abstrakten Expressionismus, der inzwischen seinen Platz in der Münchner Kunstgeschichte hat. Viele gute Besprechungen, viel Ehr’ und wenig Geld.

Unsere Sachen sind irgendwie auf Hilfe angewiesen. Ein Künstler auf freier Wildbahn ist ja einer, den die Gesellschaft nicht zu brauchen scheint. Dazu braucht er einzelne oder Institutionen, die ihn fördern. Damit er sein Publikum findet. Wir haben uns ja zu einer Zeit der Karriere verweigert, wo andere strebsam draufzugegangen sind. Wir haben etwas gemacht, wir waren an der Spitze, wir haben eine Richtung geprägt.

Andere, die zu langweilig und zu ängstlich waren, die immer nach der Ecke eines Podiums schielten, um sich daransetzen zu können, diese ganzen Arschkriecher sind heute Professoren. Uns war es egal, was mit uns passierte.

So ist es eben: die einen halten den Kopf hin und kriegen eine drauf, bringen aber das Ganze weiter, und die anderen suchen die Pöstchen, finden sie, sahnen ab und bremsen alles.

Aber vielleicht ist das nicht so wichtig. Klar hätte man inzwischen auch gern die Aussicht auf ein Einkommen oder eine Pension.

Was mir aber geblieben ist: Immer das zu tun, was einem das Gewissen sagt. Was man für richtig hält. Dann findet man auch immer Wege zum Überleben. Ich kann mich ja wirklich nicht beklagen: ich habe Galerien, die mit meinen Arbeiten auf Messen gehen, ich habe Kataloge von vielen Ausstellungen, es wird über mich publiziert.

Ich habe mich in eine Richtung begeben und kann jetzt nicht einfach aus dem Zug aussteigen. Das hat man sich selber eingebrockt. Da kann man mit über fünfzig nicht mehr heraus. Wahrscheinlich will man auch gar nicht.

Das Interessante der Studentenbewegung war ja, dass da alle zur gleichen Zeit den gleichen Wissens- und Diskussionsstand hatten. Und die Polizei dachte immer im Rädelsführerprinzip: einer musste der Verantwortliche sein! Da hat es keinen Oberpapa gegeben, der dir gesagt hat: jetzt musst du das so machen! Es war eher ein kollektives Denken, Fühlen und Handeln.

Wie auch in der Kunst. Das Kollektiv Herzogstraße machte einmal eine Ausstellung >Rhizom<. Rhizom, das ist eine Art Geflecht wie ein Schwammerl, wo in jedem Teil die gleiche Information steckt. Da kannst du etwas wegschneiden, da wächst dasselbe wieder heraus. Jeder wusste dasselbe und jeder konnte es machen.

So weit war die Gesellschaft aber damals noch nicht. Der Geniebegriff geisterte da noch herum, und kollektive Kunst konnte per se gar nichts sein. Nur ein Individuum konnte es schaffen. Und ich sehe die Aufgabe des Künstlers, je verwalteter und technisierter das Leben wird, darin, die Verbindung zum alten Stammhirn wiederherzustellen: dass Herz und Hirn zusammengehen. Dazu male ich kleine Bilder, die wie Fenster sind und Einblicke in geistige Welten verschaffen. Oder begehbare Plastiken, die Ausblicke verschaffen auf die Gefühle der Zeit. Man muss nicht immer kritische Kunst machen. Gerade das Schöne kann ein Protest sein, weil es im Widerspruch zur Realität steht.

Jedesmal, wenn ich von einer Reise zurückkomme, aus einem anderen Kulturkreis, empfinde ich es hier als Heimat, die man plötzlich mit neuen Augen sieht. Dabei sind das hier doch völlig schlichte Häuser und belebte Kreuzungen. Aber irgendwie hängt das Herz daran. Ganz eigenartig.

Man projiziert seine Stimmung gern auf die Straße. Sie könnte aber ihren Charme verlieren, wenn sie ausschließlich zum Vergnügungsviertel verkäme. Wo jetzt Autos mit Landsberger Nummern nicht mehr in die Feilitzschstraße oder zum Bahnhof fahren, sondern hierher, weil’s hier noch persönliche Kommunikation gibt.

In den Semesterferien kann man jedes Mal erfahren, was die Türkenstraße sein könnte. Da lichtet sich’s, da entdeckt man wieder Leute und die eigenartigsten Querverbindungen. Man grüßt sich, redet, winkt sich zu.

Es ist wie ein kleines Dorf, wo man die gleichen Leute trifft, mit denen man etwas anfangen kann.

Ich bin gegen Entmischung. Wenn du in ein Lokal gehst und siehst nur junge Leute, die alle dieselben Kleidung und Sprachregelung haben, dann wird’s langweilig. Auswechselbar. Ich kann ein Talent mitbekommen haben, das unter anderen Umständen vielleicht unterdrückt worden wäre. Ich könnte mir aber auch vorstellen, etwas ganz anderes zu machen. Verschiedene Leben zu leben. Wenn ich Lust habe auf etwas Naturalistisches, eine Figur, ein Bild, dann mache ich es einfach.

Oder die Idee mit den Segelplastiken, die mir in Schweden gekommen war. Eine Ausstellung im Freien mit farbigen Tüchern in der Luft. Dass das Bild räumlich entsteht, so ein Farb-Form-Gewebe. Die Farbe ist lichtdurchlässig, leuchtet, hat eine Transparenz wie ein Kirchenfenster. Inzwischen haben wir, der Armin Saub und ich schon mehrere Installationen gemacht. In München und außerhalb.

Was mir abgeht? Dass ich nicht genügend vor Aufgaben gestellt werde, an denen ich wachsen kann. Dass ich auf Lösungen komme, aus denen dann wieder neue Ideen entstehen. Bewähren können müsste man sich. Man kann nicht alles allein im Kämmerchen erfinden, die Aufforderungen müssten von außen kommen.

Es ist schön, im Atelier zu meditieren, zu nichts verpflichtet zu sein als nur sich selber und seinen Ideen. Aber das Spannende ist dann, sie wieder aussetzen zu können.

Ich bin für mein Leben dankbar, dass ich als Augenmensch so viel sehe, in unserer und fremden Kulturen. Das, was früher Theorie war, wandelt sich zum gelebten Wissen. Die schnelle Lösbarkeit, das gibt es nicht mehr. Alles ist viel längerfristiger. Ein Thema ist eigentlich nie erledigt.«

Heini Weld

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1 Klaus Maria Brandauer, Schauspieler und Regisseur.

2 Johann Georg Elser, der Bürgerbräuattentäter von 1939.


Hella Schlumberger, Türkenstraße. Vorstadt und Hinterhof. Eine Chronik erzählt, München 1998, 448 ff.

Überraschung

Jahr: 1967
Bereich: Kunstakademie