Materialien 1967

Kommentar

1. Flugblätter, Aufklärung

Womöglich hätte dieses Flugblatt was dagegen, wiederabgedruckt, kommentiert und so zu einem Stück Chronik fixiert zu werden. Womöglich aber wäre all das ihm ganz egal. Es entstammt einer Welt der Improvisation, des Experiments und der Übertreibung, einer Welt, die sich mit der Vergänglichkeit arrangieren kann, weil sie sich für letzte Wahrheiten interessiert. Was ist schon der Text eines Flugblatts, was ein Text überhaupt, alles ist eitel; aber wenn es mal einem Text zukommt, Aufklärung anzuzetteln, dann muss es der Text eines Flugblatts sein.

Ein Flugblatt ist, schon wenn es entsteht, Dokument und Makulatur zugleich, gedacht für die Idee des Tages, gemacht für das Postulat der Stunde, erfrischend und schnellverderblich. Für den Bücherschrank ist es nicht bestimmt, nicht mal für die Manteltasche; mitnehmen tut es höchstens, wer ein Beweismittel sicherstellen will: Verdacht auf Landfriedensbruch.

Flugblätter werden am besten aus mittlerer Höhe über einer größeren Menschenmenge abgeworfen, sogleich gelesen und mit einem erregten Volksgemurmel beantwortet. Dann dürfen sie den Platz bedecken, von dem aus die Masse debattierend auseinanderstrebt. Der Straßenkehrer nimmt sich ihrer an, er hebt eins auf, liest es, runzelt die Stirn oder wiegt den Kopf und schafft den papiernen Abfall beiseite. Doch in seinem Hirn und in vielen anderen stecken sie fest, die subversiven Gedanken, die von oben auf die Leute herabgeschwebt waren. Aufklärung ist am Ziel, das Transportmittel kommt auf den Müll.

Das Flugblatt spricht ungern von seiner Herkunft. Zwar wird eine Gruppe, ein Verein oder eine Partei als verantwortlich benannt, der individuelle Autor aber meist verschwiegen – nicht nur, weil er so besser geschützt ist, denn manchmal verlassen Flugblätter den Rahmen der Legalität, sondern auch, weil die Meinungsäußerung ad hoc, der Aktionsvorschlag für den Tag fast immer Produkt einer Debatte und nur zufällig die Formulierung eines einzelnen ist; eine Unterzeichnung individualisierte fälschlich, was gemeinschaftlich ausgeheckt wurde. Das Flugblatt ist der Zwischenruf der politischen Literatur: spontan, laut, unverschämt. Und fast anonym, denn nur die Umstehenden können die rufende Person identifizieren. Und doch ist der Zwischenruf in manchen Zeiten der gespanntesten Aufmerksamkeit wert, da er imstande ist, die Ideen und Perspektiven einer Epoche zu pointieren.

Ob sich die Bevölkerung eines Landes in politischer Aufregung befindet, kann u.a. daran ermessen werden, ob Flugblätter im alltäglichen Austausch der Gedanken eine Rolle spielen, d.h. ob es auf den ad-hoc-Kommentar, auf den Zwischenruf ankommt. Zur Zeit sind es hierzulande lediglich »Ränder« der Gesellschaft, die in Gärung begriffen und mit Flugblattproduktion beschäftigt sind, das Zentrum, soweit es aufmüpft, darf seine Meinung im Fernsehen sagen. Die Mehrheit bespricht sich, wenn überhaupt, ruhig und artig und möchte nicht durch Zwischenrufe gestört werden. Vor zwanzig Jahren waren es ebenfalls Minderheiten, die das Flugblatt wiederentdeckten und es auf primitiven Vervielfältigungsmaschinen in großen Auflagen produzierten, aber diese Minderheit fand, anders als heute, einen Weg in die mittlere Höhe. Sie warf ihre Flugblätter gezielt über einer größeren Menschenmenge, genannt Mehrheit, ab und erzeugte in dieser eine gewaltige Unruhe. Im Laufe der wenigen Jahre, in der die Minderheit ihre Abwurfposition halten konnte, hat sie tonnenweise Konterbande über und in die Köpfe der Menge segeln lassen und so manches von dem alten Konsens, der als unerschütterlich galt, zersetzt. Der Zwischenruf ließ eine ganze Nation zusammenfahren und sich umgucken.

2. Revolte, Vietnam

Das Wort »Revolte« ist groß und entsprechend vieldeutig, besser hätte hierhin gepasst: Auflehnung, Empörung, ziviler Ungehorsam, Kritik, Insubordination, Aufsässigkeit, Verweigerung, Widerstand. Aber diese Alternativen treffen sie nur unter jeweils beschränkter Perspektive, jene Bewegung, die das Flugblatt wiedereinführte, und sie haben vor allem den Nachteil, dass sie nicht so oft und so gern von der Minderheit selbst benutzt worden sind wie die allgemeinere und unschärfere »Revolte«. Die Flugblattwerfer, die Zwischenrufer, sie »artikulierten«, wie man damals sagte, die Gründe, Mittel und Ziele sowie das Selbstverständnis eines gegen den politischen, kulturellen und moralischen Status quo gerichteten Aufstandes. Dass Leute, und dann noch Angehörige der gebildeten Elite, sowas in deutschen Landen taten, war unerhört. Bis heute zehren alle Nein-Sager und Nonkonformisten, alle Bürgerinitiativen und Selbsthilfegruppen, die einen öffentlichen Protest gegen irgendeinen Mißstand außerhalb des parlamentarischen Dienstweges vortragen, von dem Vorrat an Mut, Energie, Erfindungsgeist und Regeln für die Regelverletzung (= »Kampfformen«), den die APO aufgehäuft hat. Und woher hat die APO selbst diesen Vorrat bezogen? Was trieb die Kommune I zu ihrer Travestie auf die Sensationsberichte über den Brüsseler Kaufhausbrand?

Da war einmal der Konsens der 50er Jahre, von dem inzwischen bekannt ist, dass er faul war, kompiliert aus Aufbau-Inbrunst, Faschismus-Verdrängung und Umwidmung aller kritischen und empörerischen Potentiale in einen rituellen Antikommunismus. Nichts stimmte. Die Restauration war zu rasch gelungen, die jüngere Geschichte zu rasch vergessen worden und die Weltlage in einer Zwei-Blöcke-Struktur (= »Manichäismus«) zu simpel abgebildet. Jede halbwegs beherzte Jugend hätte Anstoß genommen an dieser blitzblanken Republik, aus deren Kellern es stank. Aber es wäre vielleicht bei einem Generationenkonflikt geblieben, wenn nicht etwas hinzugetreten wäre, was die Revolte es bis zur APO hat bringen lassen, und das war die Ermutigung von außen. Ohne ihren »Internationalismus« im doppelten Sinn, ohne den Ansporn der amerikanischen Vietnamkriegs-Gegner, der französischen und italienischen neuen Linken und ohne das Beispiel Chinas, Kubas, Afrikas, der amerikanischen Black Panthers und eben Vietnams hätte die bundesdeutsche Protestgeneration niemals eine so traumwandlerische Selbstgewissheit und eine so mitreißende Wucht entwickelt. Die Folgen der Dekolonisation führten einer beschämten Jugend vor Augen, dass es das gibt: dass jemand sich auflehnt, dass Völker ein Joch abschütteln, dass (nationale) Freiheit und Selbstbestimmung gegen eine Übermacht verteidigt werden. Die in der westdeutschen Muckerrepublik aufgewachsenen Jugendlichen verachteten jetzt ihr Wohlleben, ihre Angepasstheit, ihre Eltern, die dazu beigetragen hatten, Europa anzuzünden und davongekommen waren, sie verachteten eine fette, apathische Gesellschaft, die kein Mitgefühl im Busen und keine Ehre im Leib hatte. Der zähe kleine Vietkong, der lieber barfuss und unter einem Helm aus Stroh in den Tod zog als vor einer fremden Großmacht in die Knie zu gehen, war der Pate all jener »weltfremden jungen Leute« von damals, all der Entschlüsse von 1967/68, den häuslichen Frieden in der schick und stabil wiederaufgebauten Villa Bundesrepublik aufzukündigen.

Die Revolte riss eine ganze Jugend-Generation hin. Sie beschränkte sich weder auf die Jünglinge noch auf die Mittelklasse noch auf das Bildungsbürgertum. Sie lehrte erstmalig in diesem Jahrhundert heranwachsende Deutsche, die Legitimität der amtierenden politischen Gewalten und der normsetzenden Öffentlichkeit entschieden und tätlich anzuzweifeln und die Autonomie ihres Protests weitgehend gegen alle Umarmungs- und Beschwichtigungsversuche von Kirchen, Verbänden, Parteien und deren Medien zu behaupten. Sie war es, die die öffentliche Meinung erst das Fürchten und dann eine neue Sprache und neue Maßstäbe lehrte. Ihr Gestus und ihr Tonfall waren kühn und radikal, »romantisch und abstrakt«. Es ging der Revolte um globale Übelstände. Die Weltbevölkerung erschien ihr abhängig und unterdrückt, in den Metropolen zusätzlich verhetzt und überfressen. Damit die begriff, musste man sie anschreien. »Vietnam brennt, und ihr pennt.« »USA-SA-SS«. Eure Freiheit? Die der Wahl zwischen Pepsi und Coca. Das Allernächste und das Entlegenste, das Angebot im Warenhaus um die Ecke und der Krieg in Südostasien, der tägliche Konsum und der eiserne Vorhang wurden in ein einziges Menetekel zusammengezogen.

3. Provokation, Satire

Bis heute wirft man den Rebellen von 67/68 mindestens Einseitigkeit vor. Ganz im Unrecht seien sie nicht gewesen, aber sie hätten die Proportionen nicht gewahrt. Dass sie z.B. die Amerikaner – Vietnamkrieg hin und her – mit Faschisten in einen Topf geworfen hätten, sei nicht zu verzeihen. Solche Kritik verkennt die satirischen und exemplarischen Elemente, die dem Protest der Studenten von Anfang an innegewohnt haben, vielleicht sagt man besser: innewohnen mussten. Man darf die Texte der Revolte nicht einfach wörtlich nehmen.

Die Kommune I,   der SDS, die ad-hoc-Gruppen an fast sämtlichen Universitäten, später dann die zahllosen Initiativen von den sozialistischen Kindergärtnerinnen bis zu den umherschweifenden Haschrebellen, sie alle lebten in einem befriedeten, wohlhabenden, leidlich auch Freiheiten gewährenden Land; ihr Protest wurzelte »außerhalb«, örtlich und zeitlich: in der Empörung über den Genozid in Vietnam, im Faschismus. Über beide Katastrophen schwieg das bundesdeutsche Establishment, und wenn es redete, dann gewunden apologetisch oder offen sympathisch, und diese Indolenz ließ den Protest nach Hause zurückkehren. Damit hatte er eine weite Reise hinter sich, war nicht mehr einfach und gradewegs auszudrücken. Nicht umsonst hieß, wo immer die akademischen Revolutionäre ihre Strategie besprachen, das Hauptstichwort »Vermittlung«. Zur Vermittlung gehört die Provokation, in Schrift und Aktion, und die war fast notwendig häufig satirisch. Die Soziologie-Studenten, die an vielen Universitäten die Revolte anführten, wussten schließlich, dass Symbole in primitiven wie in hochkomplexen Gesellschaften eine große, nicht immer durchschaute Bedeutung besaßen, und sie nutzten dieses Wissen spontan aus. Dass die Kommune I für Flugblätter vom Stile des hier vorgestellten mit Ermittlungen wegen Anstiftung zu Straftaten überzogen wurde, ist ein Beleg dafür, dass dem Establishment damals tatsächlich soziologisches Grundwissen abging, dass es nichts vom Symbolwert einer Coca-Flasche oder eines Kaufhauses begriffen hatte. Inzwischen sind wir weiter – dank der Revolte.

Um aus den disparaten Gründen ihrer Auflehnung den Text für einen sinnvollen historischen Zwischenruf herzustellen, mussten die Studenten, die Rebellen, Entlegenes und Naheliegendes zusammenziehen, Tendenzen zu Trends, Ähnlichkeiten zu Identitäten schärfen, mussten sie auf Differenzierungen verzichten, mussten sie mit dem Meißel statt mit dem Stichel arbeiten. Vergleichbare Techniken wendet die Satire an. Um zu treffen, muss sie zu weit gehen. Sie ist, sub spezie Ausgewogenheit, immer falsch, im Lichte aeternitatis dafür aber im Recht. Geradeso verhielt es sich mit den Pamphleten und Fußnoten, die die Studentenbewegung dem offiziösen Diskurs der Jahre hinzufügte: einerseits war’s nicht zu halten, andrerseits das einzig richtige Wort im Falschen. Auf so viel sture Lügen und offene Skandale konnte die renitente Jugend nicht mit einer schlichten Gegendarstellung, sondern nur mit einem verklausulierten, verrückten, verspielten, verbitterten Einspruch reagieren, mit einem Einspruch, der so schräg und grotesk klang wie die Konstellation seiner Anlässe es nahelegte. Und doch war er es, war es der Zwischenruf, der die Wahrheit bekannt gab.

Barbara Sichtermann


Freibeuter. Vierteljahreszeitschrift für Kultur und Politik 36/1988, 103 ff.

Überraschung

Jahr: 1967
Bereich: Militanz

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