Materialien 1967

Notausgabe

Verteidigung des Notstandes

Der Bundestag hat in erster Lesung die künftige Notstandsverfassung beraten. Sie soll nach dem Willen der Bundesregierung und einer Mehrheit des Bundestages schon im nächsten Jahr für alle Bürger geltendes Recht werden.

Der Entwurf der Bundesregierung sieht nicht nur vor, das Grundrecht der Freizügigkeit und das Post- und Telefongeheimnis aufzuheben, sondern wird den bisherigen Artikel 12 des Grundgesetzes, der die Zwangsarbeit verbietet, durch einen neuen Artikel ersetzen. Der neue Artikel 12 wird erlauben, für Zwecke der Verteidigung (also nicht erst nach der formellen Feststellung des Verteidigungsfalles, sondern praktisch jederzeit) Wehrpflichtige (alle Männer zwischen 18 und 65 Jahren) zu zivilen Dienstleistungen im Bereich der öffentlichen Verwaltung, der Streitkräfte sowie der Versorgung der Bevölkerung (d.h. auch im Bereich der privaten Wirtschaft) zwangsweise heranzuziehen.

Gesetze, die die Möglichkeiten der Heranziehung zur Zwangsarbeit im einzelnen regeln, sind bereits geltendes Recht:

Das Zivilschutzkorpsgesetz, das Selbstschutzgesetz, das Schutzbaugesetz, das Wirtschaftssicherstellungsgesetz, das Verkehrssicherstellungsgesetz, das Ernährungssicherstellungsgesetz, das Wassersicherstellungsgesetz. Da damit noch nicht genug getan ist, hat der Bundesinnenminister Lücke (der sich jüngst im Ausland, vielleicht Spanien?, darüber informiert haben soll, wie man unauffällig Oppositionelle „internieren“ kann) eine Notverordnung über den Zivildienst in seine Schublade gelegt. § 14 dieser Notverordnung bestimmt, dass bei der „Heranziehung“ zur vorgesehenen Dienstleistung die geistige Eignung und die persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen sind. § 16 räumt ein, dass Personen, deren berufliche Tätigkeit im öffentlichen Interesse liegt, vom Zivildienst zurückgestellt werden können.

Künstler und Studenten sind neben Schriftstellern die einzigen, auf deren berufliche Tätigkeit die Öffentlichkeit ohne weiteres verzichten kann. Sie sind im volkswirtschaftlichen Produktionsprozess überflüssig und auf Grund ihrer geistigen Eignung und persönlichen Verhältnisse kaum zuverlässige Stützen einer das Grundgesetz missachtenden scheindemokratischen Ordnung.

Wir begrüßen diese Notstandsverfassung und versprechen, sie auf unsere Art mit ganzer Kraft zu fördern.

Begründung:

Mit der Verabschiedung der Notstandsgesetze ergreift das Parlament endlich die Initiative, die vielgeforderte Integration des Künstlers in die Gesellschaft zu bewerkstelligen. Der Künstler wird aus seinem Elfenbeinturm, aus seiner Spitzwegidylle befreit und darf in den Arbeitslagern am gesunden Gemeinschaftsleben teilhaben. Gemeinschaftsunterkünfte, Gemeinschaftskleidung, regelmäßiges Gemeinschaftsessen, gemeinschaftliche Toiletten und Duschen, gemeinschaftlicher Gesang beim Frühappell und die gemeinsame Tagesarbeit werden ihm einen fruchtbaren Einblick in die gesellschaftliche Wirklichkeit gewähren und ihn in die große Zahl der Schaffenden einreihen. Feste Schutzvorrichtungen der Arbeitslager werden den Künstler vor den wütenden Angriffen, wie sie Horst Antes in Karlsruhe erleben musste, ein für allemal bewahren.

Nur am Rande sei erwähnt, dass die unerfreuliche Sorge vieler Künstler um den Lebensunterhalt vom Staat auf hochherzige Art ausgeräumt wird. Unschätzbare Hilfe bietet die Notstandsverfassung zur Endlösung brennender künstlerischer Fragen. Der angehende Künstler verzweifelt heute vor dem ungesunden Pluralismus der Stile, als da sind:

Pop, Op, Mininumkunst, Janssenismus, Satanismus, hard-edge, Konstruktivismus, neuer Realismus, sozialistischer und kapitalistischer Realismus, Kinetik, Objekt und Antiobjekt, Not-art. Das ist mit der Dienstverpflichtung schlagartig überwunden. Hier sehen wir die Möglichkeit, an die Stelle der schöpferischen Ohnmacht, des Ausgeliefertseins des künstlerischen Individuums eine schöne, staatlich geförderte Kameraderie von Männern zu setzen. In dieser Gemeinschaft gewinnt der Künstler ein ganz neues Bewusstsein, zum erstenmal ist er was. Wir rufen alle Künstler und Kunststudenten auf, konstruktiv mitzuarbeiten. Destruktive Kritik wird kategorisch abgelehnt. Die Lage war noch nie so ernst. Seid keine Notstandsmuffel.

Bejaht die Notstandsverfassung, bevor die Horrorkommune ihre Absicht verwirklicht, Euch „die Finger abzusägen und die Ohren abzuschneiden“.

- – -

Impressum: Herausgegeben von der Gruppe „Geflecht“.
Verantwortlich für den Inhalt: Hark Bohm, 8 München 23, Wilhelmstraße 3.


Holzschnitt: Palle Nielsen — tendenzen. Zeitschrift für engagierte Kunst 46 vom August/September 1967, Rückseite.

Überraschung

Jahr: 1967
Bereich: Notstandsgesetze