Materialien 1968
Studentenkrawalle - Schülerkrawalle
Die Wortwahl zeigt, wie peinlich berührt der „staats-erhaltende“ ältere Durchschnittsbürger von den, vielleicht teilweise entartenden, Jugenddemonstrationen der letzten Zeit ist. Er fragt nicht einmal, ob nicht auch peinliche Gründe der Anlass zu ihnen sind, und ob nicht Grund und Form dieser Demonstrationen seiner Generation anzulasten sind.
Die unmöglichen Zustände in unserem Bildungswesen, unter denen unsere Jugend leidet, sind so wenig zu leugnen wie die Tatsache, dass es auch einen breiten – wenn auch leider schweigenden – Teil unserer älteren Generation mit Schrecken erfüllt, dass sich keine unserer großen Organisationen kompromisslos gegen das mit entsetzlichen Mitteln durchgeführte Engagement Amerikas in Ostasien ausspricht, gegen die Versuche, unsere demokratischen Grundrechte einzuschränken, und gegen eine Politik, die Unsummen für Rüstungsausgaben verwendet, während auf dem Bildungssektor Notstand herrscht und der Abbau der Sozialleistungen begonnen hat, und die es möglich macht, dass unser Land in freundschaftlichem Gespräch mit undemokratisch-faschistischen Staaten steht. Gerade solche Tatsachen, die unsere ältere Generation weder verhindern noch in das Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen konnte, waren aber Gründe für die „Krawalle“.
Und was die Form der Demonstrationen angeht: Haben wir unserer endlich wieder zum Engagement bereiten Jugend geeignetere Mittel zum Durchsetzen von Vorstellungen und zum Aufzeigen von Mißständen an die Hand gegeben? Was kann nun neben einem Ausbau sowie einer äußeren und inneren Reform unseres Bildungswesens ohne Kosten durchgeführt werden, um uns in Zukunft ähnliche (un)liebsame Überraschungen durch unsere Jugend zu ersparen? Wir haben die politische Bildung vom Fach zum Unterrichtsprinzip zu erheben und z. B. endlich die Schüler- und Studentenmitberatung, Mitverwaltung und Mitbestimmung einzurichten. In fortschrittlichen Gemeinden wie München muss das Aufgabe des Fachberaters für Politische Bildung werden. Es ist nicht nur in einigen Fächern notwendig, Grundfertigkeiten zu üben und Grundlegendes zu „begreifen“; was der Schülerversuch in den Naturwissenschaften ist, muss die Grundtätigkeit in der Schüler- und Studentenmitverwaltung und in der politischen Bildungsarbeit an den betreffenden Institutionen werden. Wir müssen Arbeitserziehung auch in Politischer Bildung praktizieren, Gemeinschaftserziehung und Selbstverwaltung auch an Schule und Universität als geübte Lebens- und Staatsform, um so einen Ansatzpunkt auch für die politischen Lebensformen zu schaffen.
Wir brauchen die Sozialübung mit den gleichen Kriterien wie im Arbeitsunterricht der anderen Fächer: Was von den Lernenden getan wird, muss wirklich und erreichbar sein, Politik machen, erzieherischen und pädagogischen Wert haben sowie Erkenntnisse fördern; ganz bestimmte Grundsätze und Werte des demokratischen Gemeinwesens zum Thema nehmen und ganz bestimmte Fähigkeiten fördern. Voraussetzung für die Lösung aller Aufgaben muss die Information aus erster Hand sein, damit Fähigkeiten gebraucht werden, die die Problematik der Meinungsbildung und -durchsetzung zeigen.
Die Sozialübung, die von der Lehrkraft vorbereitete, aber außerhalb der Schule geleistete Gruppenarbeit ist, muss durch die Sozialstudie und die soziale Dienstleistung erweitert werden, die von den Schülern selbständig getragen wird, echte mitbürgerliche Erziehung, weil ihre Probleme in das Politische greifen.
Diese Mittel machen in Theorie und Praxis mit Machtbildung, Machtbeeinflussung und Widerstand gegen Macht vertraut. Ohne diese Entdämonisierung läuft unsere Jugend Gefahr, der Verlockung der Macht oder einem Ohnmachtsgefühl ihr gegenüber zu erliegen, das zur Passivität führt. Vergessen wir hier nicht, dass für unsere Demokratie der Extremismus nur in Verbindung mit der breiten Front der politisch nicht Engagierten gefährlich ist.
Die Darstellung der Persönlichkeiten des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus als Leitbilder des Gewissens und die Erörterung politischer Themen wenden diese Gefahr nicht ab. Gerade wir Älteren haben erfahren, dass soziale Gesinnung und Gruppengeist allein kein Mittel gegen politische Verführung sind.
Nur das Erkennen und Erfahren von Macht sowie die theoretische und praktische Beherrschung der Macht können den Bürger formen, der geübt und gewöhnt ist, wachsam zu sein, sich für das verantwortlich zu fühlen, was in der Öffentlichkeit vorgeht, sich zu entscheiden und zu engagieren bzw. distanzieren, und der fähig ist, zum richtigen Zeitpunkt politisch mit den richtigen Mitteln zu arbeiten.
Wolfgang Graf
Münchner Merkur vom 25. März 1968
Ingelore Pilwousek (Hg.), Otto und Wolfgang Graf. Leben in bewegter Zeit 1900 – 2000, München 2003, 247 f.