Materialien 1968
Betreffend: Begründung meines Austritts aus der HU
An den Ortsverband München der HU
1. Prinzipieller Einwand gegen die HU:
Zweifellos ist die von Szczesny konzipierte HU ganz entscheidend von einer positivistischen Ideo-
logie geprägt, die sich ihrer gesellschaftlichen Vorbedingungen nicht bewusst wird. Nicht zufällig gibt es in der HU keinen namhaften Soziologen, Psychologen oder Philosophen, der von der mar-
xistischen Theorie her die Gesellschaft in Frage stellt. Obwohl ich es als unbestreitbares Verdienst der HU nach wie vor schätze, dass sie ein Forum ausgezeichneter Wissenschaftler darstellt, die den in Deutschland unterdrückten Wissenschaften Psychoanalyse, Anthropologie etc. zur Geltung ver-
helfen wollen, so ist doch andererseits erkennbar, dass in der internen HU-Diskussion und in ihren Aktionsformen die „absolut ideologische Entscheidung zugunsten eines positivistischen Wissen-
schaftsbegriffs, zum „demokratischen Rechtsstaat“ etc. bereits vollzogen ist. Einige Beispiele:
a) Das strikt formaljuristische Argumentieren in Sachen Konfessionsschule, Kirche und Staat etc. ist unfähig, die ideologische Grundlage unserer Gesetze, auch des Grundgesetzes, zu entlarven.
b) Der naive Formalliberalismus, der glaubt, sich durch reine Toleranz auszuzeichnen, wenn er das gleiche Recht für totalitäre Katholiken wie für liberale Freidenker, für NPD-Mitglieder wie für So-
zialisten fordert. Der repressive Charakter einer solchen Toleranz wird deutlich an dem Faktum, dass von einigen HU-Mitgliedern ernsthaft erwogen wird, NPD-Mitgliedern auch Mitgliedschaft in der HU zu gewähren, um sie dort zu „bekehren“.
c) Die Jahrbücher „Club Voltaire“, die – obwohl formal unabhängig von der HU – doch in gewisser Weise das Denken in der HU reflektieren, geben das als objektiv kritische Rationalität aus, was be-
reits durch den positivistischen Wissenschaftsbegriff gefiltert ist. Zur dialektischen Kritik dessel-
ben siehe Habermas „Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik“ in „Logik der Sozialwissen-
schaften“. Auch die Tatsache, dass im letzten Jahrbuch mit Marxisten diskutiert wird, ist kein Ein-
wand, da es sich symptomatischerweise um eine Diskussion mit orthodox-kommunistischen Mar-
xisten handelt.
d) Die HU hat ihre Mitgliedschaft wie der Ideologie ihrer Mitglieder nach ausgesprochen bürgerli-
chen Charakter. Sie ist unfähig, unser Gesellschaftssystem als unterdrückerisches zu begreifen. Sie ist in ihrer streng kulturpolitischen Beschränkung unfähig, z. B. Eigentumsverhältnisse zu kritisie-
ren oder den Vietnamkrieg der USA zu verurteilen und unterstützt so indirekt bestehende Macht-
verhältnisse.
2. Nicht prinzipielle Einwände:
a) Das autoritäre Vorgehen von Herrn Szczesny und seinen Anhängern sowohl im Münchner Orts-
verband als auch auf Bundesebene.
b) Der elitäre Charakter der HU: Die meisten Mitglieder sind Akademiker oder Angehörige speziel-
ler Bevölkerungsschichten. Der Kontakt zu Arbeitern besteht nicht und wird auch bewusst vermie-
den. Noch heute zieren den Briefkopf der HU eine Reihe von erlauchten Professoren. In solchen Formalien äußert sich auf peinliche Weise eine primitiv-elitäre und ständische Haltung.
c) Die unkritische Behandlung der Notstandsgesetze und vor allem das Faktum, dass sie von der HU nicht prinzipiell abgelehnt werden.
Ich hoffe, mit diesen Ausführungen – wenn auch die Einwände gegen die HU nur stichpunktartig und unvollständig vorgetragen werden – klargemacht zu haben, warum die HU nicht meinen poli-
tischen Vorstellungen entspricht. Ich halte es für sinnvoller und konsequenter, wenn ich meine Ge-
sellschaftskritik innerhalb des SDS nicht nur theoretisch, sondern vor allem auch praktisch reali-
siere.
Hochachtungsvoll
Lutz Wolfert
Mitteilungen der Humanistische Union 35 vom April/Juni 1968, 2.