Materialien 1968
Antwort
Herrn L. Wolfert
München 23
Klopstockstraße 8/II
München, den 2. Juli 1968
de/s
Lieber Herr Wolfert,
Ihren Brief vom 2. Juni 1968 habe ich verständlicherweise mit Bedauern gelesen. Die in der Be-
gründung Ihres Austritts angeschnittenen Fragen sind jedoch nicht nur für die Humanistische Union so bedeutungsvoll, dass ich Ihnen eingehend antworten möchte. Dass dabei eine Verteidi-
gung der Humanistischen Union herauskommt, liegt an Ihrer Fehlinterpretation des Charakters und der Aufgabenstellung der Humanistischen Union.
Der Kern Ihrer Vorwürfe ist die Behauptung, die Humanistische Union stelle eine Art positivisti-
scher Weltanschauungssekte dar. Zunächst darf ich Ihnen sagen, dass ich selber alles andere als ein Positivist bin. Auch ich halte den Positivismus, ohne seine historische und philosophiehisto-
rische Bedeutung zu übersehen, in letzter Konsequenz für ideologisch. Ja, da mythologische Rechtfertigungsideologien immer wirkungsloser werden, ist der Positivismus und seine faktenfe-
tischistische Negierung jeglicher utopischen Horizonte heute die stärkste Bewusstseinsstütze der bestehenden Herrschaftsverhältnisse. Sie sehen, soweit sind wir uns völlig einig, Auch ich bin der Meinung, dass, wenn ein Denken in letzter Konsequenz zwingend ist, dann das dialektische. Und trotzdem bin ich Geschäftsführer der Humanistischen Union!
Ersatzreligion oder Zweckbündnis?
Wie kommt es denn aber zu so unterschiedlichen Urteilen über die Humanistische Union? Das ist zunächst sehr leicht zu erklären. Sie unterstellen der Humanistischen Union einen, wenn auch vielleicht unbewussten, Absolutheitsanspruch. Sie sprechen von „der Ideologie Ihrer Mitglieder“ und bringen sie, logisch konsequent, in eine Konkurrenzposition zum SDS. (Übrigens hat logische Konsequenz etwas mit Positivismus zu tun!) Die Humanistische Union ist aber weder eine Ersatz-
religion noch eine politische Kirche. Dementsprechend vereinnahmt sie ihre Mitglieder nicht mit Haut und Haar und Seele. Sie ist ein reines Zweckbündnis und überlässt es über den Zweck dieses Bündnisses hinaus ihren Mitgliedern, zu sein was sie sein wollen: Positivisten oder Dialektiker, Christen oder Atheisten, Gewerkschaftler oder Arbeitgeber, Offiziere oder Kriegsdienstverweigerer, SDS-Anhänger oder Sozialdemokraten, Nur NPD-Mitgliedschaft duldet sie nicht, denn diese steht im Widerspruch zum Bündniszweck der Humanistischen Union. (Sie sollten in diesem Punkt nicht mit der inkonsequenten Meinung einer Minderheit manipulieren. Ihr Argument des Formallibera-
lismus können wir uns also diesbezüglich schenken.)
So verfehlt Ihr Vorwurf, die Humanistische Union sei ein in sich geschlossenes bürgerlich-ideolo-
gisches Schutz- und Trutzbündnis, bereits deren Gesamtcharakter. Trifft Ihr Vorwurf positivisti-
scher Ideologie aber vielleicht den begrenzten Bündniszweck?
Nachgeholte Aufklärung
Dass die Deutschen ihre verpasste bürgerliche Revolution in den Philosophenstuben kompensiert haben, ist eine alte Weisheit Sie gilt auch und besonders für die Aufklärung. Politisch hat diese im deutschen Bürgertum nicht stattgefunden. Wenn Sie den Zweck der Humanistischen Union ganz allgemein fassen wollen, so besteht er darin, die bürgerliche Aufklärung politisch nachzuholen. Sie könnten das für ein museales Unternehmen halten und meinen, sozialistisches Denken habe daran kein Interesse mehr. Das hielte ich für einen kapitalen Irrtum. Denn jede sozialistische Demokratie hat, wenn sie ihrem Ethos treu bleiben will, die bürgerliche zur Voraussetzung, So weit denkt die Humanistische Union nicht und kann sie ihrem Bündnischarakter entsprechend nicht denken. Aber die Sozialisten in der Humanistischen Union können so denken. Allen Mitgliedern gemein-
sam ist das Bewusstsein, dass, aus welchen Gründen auch immer, in Deutschland die bürgerliche Aufklärung politisch in zweierlei Hinsicht nachzuholen ist: institutionell und bewusstseinsmäßig. Auch Ihnen sollte bewusst sein, dass erst die Institutionen der bürgerlich-demokratischen Verfas-
sung zur vollen Entfaltung gebracht sein müssen, bevor man weiterdenkt. Gestatten Sie mir, Ha-
bermas auch zu zitieren: „Die Taktik der Scheinrevolution kommt schließlich in einem Verhalten zum Ausdruck, das die Polarisierung der Kräfte um jeden Preis sucht. Diese kurzfristige Perspekti-
ve schließt Bündnispolitik, schließt die präventive Vermeidung künftiger Risiken, schließt die Re-
spektierung immer noch Freiheit und Recht garantierender Verfassungsinstitutionen aus. Sie führt zur illusionären Beschwörung der Einheit von Studenten und Arbeiterschaft, Sie führt dazu, die Grenzen des Aktionsspielraums zu verkennen, die auf der einen Seite durch Massenmedien und auf der anderen Seite durch den Gewerkschaftsapparat definiert sind.“
Historische Kontinuität
Sie wissen, dass in Zeiten gesellschaftlichen Umbruchs das Bürgertum zum Faschismus tendiert. Je unaufgeklärter es ist, um so stärker. Nicht umsonst kam Hitler gerade in Deutschland an die Macht; Ist es nicht eine Aufgabe für den Sozialisten, zusammen mit dem liberalen Bürger einer solchen Entwicklung entgegenzuwirken? Noch wichtiger aber ist es, der Masse der Bevölkerung ein aufgeklärtes Bewusstsein zu vermitteln. Denn selbst dieses fehlt ihr, geschweige denn, dass sie ein sozialistisches hätte. Noch einmal lasse ich Habermas Ihnen antworten; „Niemand darf sich prä-
sumtiv mit einem in Zukunft hervorzubringenden Bewusstsein aufgeklärter Massen identifizieren, um heute schon stellvertretend für sie zu agieren.“ Sie könnten der Auffassung sein; dass sich auch hier die Phase bürgerlicher Aufklärung überspringen ließe. Das hieße jedoch, ihre historische Funktion verkennen, und Hegels Sentenz von der Vernunft alles Seienden gilt, ihres idealistischen Bezugspunktes entkleidet, auch heute. Und gerade dialektisches Denken darf diese Erkenntnis bei Strafe seiner Selbstaufgabe nicht verleugnen. Genau das tun Sie aber, wenn Sie die bürgerlich-formalen demokratischen Grundsätze einfach negieren, statt sie erst in ihrer vollen Entfaltung dialektisch aufzuheben. Auf diese Weise wird Ihnen die Transformation zur sozialistischen Demo-
kratie nie gelingen, sondern bestenfalls (wenn wir alle Pech haben) eine neue Ideologie und eine neue Herrschaftsstruktur. Doch solche Kritik ist nur aus einer selbst sozialistischen Perspektive möglich. Für die Humanistische Union als Organisation (wenn Sie mir so etwas wie Organisati-
onsbewusstsein als Hilfskonstruktion einzuführen erlauben) ist sie, nach allem was gesagt wurde, irrelevant.
Der Fetischcharakter des Gesamtzusammenhangs
Sie könnten nun einwenden, der Zweck, zumindest bürgerlich-demokratischen Grundsätzen auf möglichst breiter Mitgliederbasis Anerkennung zu verschaffen, sei zwar löblich, verkenne aber, dass ein solcher Aspekt aus dem Gesamtzusammenhang der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht herausgelöst werden kann. Dieses Argument unterschlüge einen Begriff, der für dialektische Ge-
sellschaftskritik zentral ist: den Begriff der Arbeitsteilung. Ich brauche Ihnen den Zusammenhang von Arbeitsteilung und Herrschaftsstruktur nicht zu erläutern und weiß sehr wohl, dass das, was irgend in Zukunft sich Revolution nennen kann, Abschaffung bürgerlicher Arbeitsteilung sein müsste. Aber diese Einsicht berechtigt uns doch nicht, die Arbeitsteiligkeit unserer Gesellschaft einfach zu leugnen. Ihr arbeitsteiliger Charakter ist nicht durch bloße Beschwörungen zu beseiti-
gen. Dem trägt die Humanistische Union Rechnung, indem sie um der Effektivität willen nur einen begrenzten, allerdings wesentlichen, Bereich des Politischen zu ihrem Anliegen macht. Ihr deswe-
gen systemstabilisierende Wirkung zuzuschreiben, ist ungefähr so intelligent, wie einem Fabrikar-
beiter heute vorzuwerfen, dass er nicht neben seinem Beruf Hegel liest.
Auf derselben Ebene liegt Ihr Vorwurf einer angeblich „primitiv-elitären“ Haltung der Humanisti-
schen Union. Zum letztenmal sei mit Habermas geantwortet: „… Ohne Unterstützung durch Grup-
pen mit privilegierten Einflusschancen ist der Zugang zur breiten Öffentlichkeit, der von den Mas-
senmedien kontrolliert wird, nicht zu gewinnen …“ Auch die elitäre Struktur unserer Gesellschaft beseitigt man nicht durch das bloße Adrakadabra gutgemeinter sozialistischer Programme, son-
dern in einem langen politischen Prozess dialektischer Aufhebung. Ihre in diesem Zusammenhang gemachte Bemerkung, die Humanistische Union vermeide bewusst den Kontakt zu Arbeitern, ist schlicht unwahr. Das die Mehrheit der HU-Mitglieder der Intelligenz zuzuzählen ist, hat dieselben soziologischen Gründe wie die soziale Zusammensetzung des SDS. Wieviel Arbeiterkinder sind unter seinen Mitgliedern? „Mit der Verschärfung der Manipulation … haben sich die Intellektu-
ellen quasi als der Punkt erwiesen, an dem das Durchbrechen der Manipulation noch möglich ist. Es ist in diesem Zusammenhang gewiss kein Zufall, dass sich in den spätkapitalistischen Ländern … die Studenten und Intellektuellen immer mehr als die bestimmende, oft einzig lebendige oppo-
sitionelle Kraft herausbilden.“ Dieses Zitat können Sie im Organ Ihres Verbandes „Neue Kritik“ Nr. 41/67 auf Seite 27 nachlesen.
Kritik oder Dogmatismus
Lieber Herr Wolfert, ich hoffe, Ihnen gezeigt zu haben, wie unberechtigt Ihre Vorwürfe sind. Sie treffen nicht das angebliche Fehlverhalten der Humanistischen Union, sondern resultieren aus einem tendenziös sich ausbreitenden Dogmatismus, der trotz aller Berufung auf Marx hinter des-
sen Dialektik und auf die idealistische Position der Junghegelianer zurückfällt. Kritik, die nicht durch die gesellschaftliche Wirklichkeit hindurch geht, sondern ihr unvermittelt eine Zukunftsvi-
sion entgegenstellt, ist heute weder revolutionär noch dialektisch, sondern einfach idealistisch und dogmatisch. Lassen Sie mich mit einem anzüglichen Zitat schließen: „So z.B. macht die kritische Kritik aus der Kritik, als einem Prädikat und einer Tätigkeit des Menschen, ein apartes Subjekt, die sich auf sich selbst beziehende und darum kritische Kritik ein ,Moloch’, dessen Kultus die Selbst-
aufopferung, der Selbstmord des Menschen, namentlich des menschlichen Denkvermögens ist.“ (Karl Marx, Die heilige Familie).
Mit freundlichen Grüßen
Ihr
Leo Derrik
Mitteilungen der Humanistische Union 35 vom April/Juni 1968, 3 f.