Materialien 1961

Der Zeitnehmer

Sein Reich ist die Fabrik. Des Zeitnehmers Uhr stoppt der Menschen Schweiß und Atempausen. Sie ist das unerbittliche Auge, das den arbeitenden Menschen in jeder Sekunde überwacht und verfolgt, wohin er sich auch wendet.

Des Zeitnehmers Auftraggeber ist die Wirtschaft. Die Wirtschaft kennt keine Seele, sondern nur Mechanik. Ihr Ziel ist der Gewinn.

Der Zeitnehmer verbürgt den Gewinn.

In der Fabrikhalle eilt er von Maschine zu Maschine, von Mensch zu Mensch. Er nickt zufrieden, wenn Mensch und Maschine wie geölt laufen.

Einmal gab es eine Stockung. Eine Maschine setzte aus, weil ein Mensch plötzlich ausgesetzt hatte. Die Ambulanz bettete den Unglücklichen auf eine Tragbahre.

Der Zeitnehmer rechnete, wie viel kostbare Zeit durch den Ausfall verloren gehen würde.

Da bemerkte er einen Fremden. „Wer sind Sie?“ fragte er ihn überrascht.

„Ich bin Zeitnehmer“, antwortete dieser.

Der Frager erbleichte. „Wie …“, stotterte er“, hat Sie der Chef geschickt? Ich trage an der eingetretenen Verzögerung keine Schuld!“

„Ich weiß“, winkte der andere ab, „aber Ihr Chef schickt mich nicht …“

„Was wollen Sie dann hier?“

„Ich messe nur des Verunglückten Zeit“, antwortete der Fremde und beugte sich über die Tragbahre.

„Dafür bin aber ich angestellt“, brauste der Zeitnehmer auf. „Ich dulde keine fremde Einmischung! Dieser Arbeiter hier hat sechsunddreißig Jahre gearbeitet, das sind zehntausendachthundert Arbeitstage oder sechsundachtzigtausendvierhundert Arbeitsstunden! Er hätte sein Soll erfüllt, wenn nicht …“

„Ihre Zahlen stimmen nur zu genau“, unterbrach ihn der Fremde mit müder Stimme. „Aber ken-
nen Sie auch meine Zahlen? Dieser Unglückliche hat während seiner fünfzigjährigen Lebenszeit kaum vierundzwanzig Stunden Zeit gefunden, um über den Sinn des Lebens und seines Erdenda-
seins nach zu denken! Er hat kaum für eine Stunde seinen Blick zu den ewigen Gestirnen erhoben! Er hat nie der Stimme des Meeres gelauscht! Nie den Hauch der Berggipfel geatmet! Er hat nie die Wahrheit in den schönen Künsten gesucht! Er hatte von all dem, was Menschenherzen und Men-
schengeist für Menschen wie ihn gedacht und geschaffen haben, kaum eine Ahnung! Denn er stand ein Leben lang an der Maschine! – Es wäre besser gewesen, er wäre nie geboren worden …“

„Wer sind Sie eigentlich, dass Sie über des Unglücklichen Dasein so genau Bescheid wissen?“

„Ich sagte es Ihnen schon … Ich bin des Toten Zeitnehmer – sein betrogenes Leben …“

Und der Fremde ging traurig davon.

Wilhelm Binder


Simplicissimus 19 vom 6. Mai 1961, 302.