Materialien 1968

Erklärung der „Jungen Sektion der Partei der Arbeit“ zu den Ereignissen in der Tschechoslowakei

Ende August 1968

Die Sowjetunion, welche die revolutionäre Erhebung der französischen Studenten und Arbeiter im Mai dieses Jahres desavouiert hat, die es zulässt, dass ein sozialistisches Land durch amerikanische Bomben dem Erdboden gleichgemacht wird, die in Afrika politischen Einfluss gewinnen will, in-
dem sie zusammen mit den englischen Imperialisten die Waffen für einen Völkermord liefert, die zusammen mit den USA-Imperialisten die Waffen für einen zukünftigen Völkermord nach Persien liefert, die zusammen mit den USA-Imperialisten reaktionären Diktaturen in Lateinamerika Kredi-
te gewährt, die die kommunistischen Parteien in Lateinamerika dazu anhält, die revolutionären Guerillas zu verraten, die als eines der ersten Länder das faschistische Regime der Generale in Griechenland anerkannt hat, diese Sowjetunion ist nun unter den lächerlichsten Vorwänden in die Sozialistische Tschechoslowakische Volksrepublik eingefallen, um dort die vielversprechende Ent-
wicklung zu einem demokratischen Sozialismus zu ersticken. Sie hat damit genau das getan, was sich die Reaktionäre der ganzen Welt gewünscht haben, sie hat damit der internationalen Arbeiter-
bewegung einen schweren Schlag versetzt. Selbst wenn es zutreffen sollte, dass im Zuge der Demo-
kratisierung der tschechoslowakischen Gesellschaft revisionistische oder antisozialistische Tenden-
zen zu Worte kamen, bleibt der militärische Eingriff der fünf Warschauerpakt-Staaten ein Verbre-
chen.

Diese Sowjetunion, deren autoritär-bürokratische Innenpolitik und deren revisionistische Außen-
politik von Peinlichkeiten und Akten des Verrates an der internationalen Arbeiterbewegung ge-
zeichnet ist, ist heute – kein Marxist kann es leugnen – keine revolutionäre Macht mehr, sondern eine Großmacht, die ihre nationalistischen Staatsinteressen permanent über die Verpflichtungen des proletarischen Internationalismus stellt.

Jede revolutionäre Bewegung, die für eine bessere sozialistische und demokratische Zukunft kämpft, hat heute nicht nur mit den USA, sondern auch mit der UdSSR als Gegner zu rechnen, denn jede Hoffnung der Menschen auf wahrhaft sozialistische Zustände gefährdet nicht nur das System des imperialistischen Kapitalismus, sondern auch die unterdrückerische, geistlose und unmarxistische Herrschaft der sowjetischen Bürokraten und Technokraten, bei denen auch nicht mehr die geringste Spur vom Geiste Lenins vorhanden ist. In Zürich schrieb Lenin in seinem Ar-
tikel über die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Völker: „Nie kann ein Volk, das andere unterdrückt, frei sein.“

Sowohl die Regierung der USA wie auch die derzeitige Regierung der UdSSR wollen nichts anderes als die Aufrechterhaltung des Status Quo in einer Welt, die voller Unterdrückung und Ausbeutung ist und in der sie anderen Ländern ihren politischen Willen aufzwingen können. Um in aller Ruhe ihre technokratischen Ziele verwirklichen zu können. hat die Sowjetunion die Revolution des Pro-
letariats abgeschrieben, beschränkt sie ihre internationalistischen Pflichten zumeist auf pseudore-
volutionäre Phrasendrescherei. Diese erbärmliche Haltung auf Kosten aller übrigen Völker kann nicht mehr länger mit dem Schlagwort „Friedliche Koexistenz“ verschleiert werden. Friedliche Ko-
existenz, die sich als Verrat an den revolutionären Bewegungen äußert, ist nichts anderes als Part-
nerschaft mit dem Imperialismus.

Der Kampf zwischen Bürokratie und sozialistischer Demokratie ist auch in der Sowjetunion selbst im Gange. Es ist in Grunde genommen der Kampf um die einst von Stalin abgewürgte und seither niemals nachgeholte Kulturrevolution. Gerade die Brutalität und kleinbürgerliche Dummheit, mit der die autoritäre Bürokratie die Demokratisierung auf allen Gebieten zu verhindern versucht, zeigt, wie schwach schließlich die Stellung der Bürokraten ist. Ein Gedicht, ein Theaterstück, die Abschaffung der Zensur bringt sie in die allergrößten Schwierigkeiten. Ihre einzige Stütze ist ihre angemaßte Autorität, die in ständigem Widerspruch zu den marxistischen Grundprinzipien steht.

Die Bürokraten und Technokraten der Sowjetunion fürchten nicht nur die Kulturrevolution im eigenen Lande, sie fürchten sie auch, wenn sie in einem anderen sozialistischen Lande zum Durchbruch kommt, denn sie wissen, wie leicht der revolutionäre Funke überspringt. Mit der Besetzung der Tschechoslowakei haben sie die Entwicklung zum wirklichen Sozialismus vielleicht hinausgezögert, aber sie haben aller Welt einmal vor Augen geführt, wie notwendig die Rebellion gegen die Mächtigen ist.

Wie können wir dem tschechoslowakischen Volke helfen?

Das reaktionäre Bürgertum in allen Ländern der kapitalistischen Welt versucht nun auf den roten Flammen des Genossen Dubcek sein eigenes, braunes, antikommunistisches Süppchen zu kochen. In kaum verhehltem Triumph wittern sie die Morgenluft des Kalten Krieges, versuchen sie die öf-
fentliche Meinung von den Schandtaten der USA-Imperialisten abzulenken, den revolutionären Teil unserer Arbeiterbewegung zu isolieren und spielen sich als die großen Freunde unserer tsche-
chischen Genossen auf. Sie, die General Pattakos Bankkredite geben, in Südafrika investieren, über Spanien, Portugal und Angola schweigen und den Völkermord in Vietnam rechtfertigen, vergießen nun Krokodilstränen über die Unterdrückung der Tschechoslowakei. Indem wir diese Komödian-
ten demaskieren und ihre heuchlerischen Tränendrüsen-Aktionen zu politisch bewussten, revolu-
tionären Aktionen umfunktionieren, helfen wir dem tschechoslowakischen Volk.

Die heutige Sowjetunion ist genau jene Sowjetunion, die sich unser Bürgertum wünscht. Wir, die revolutionären Sozialisten und Kommunisten, können die herrschenden Kreise der sowjetischen KP nicht mehr als Genossen betrachten. Wir werden im Gegenteil jede antiautoritäre, kulturrevo-
lutionäre Bewegung in der UdSSR, die das Ziel hat, diese herrschenden Kreise in der Partei zu stürzen, unterstützen.

Die größte Hilfe, die wir jedoch dem tschechoslowakischen Volk und der Kulturrevolution in den sozialistischen Ländern bieten können, ist die Verwirklichung eines revolutionären, demokrati-
schen und unabhängigen Sozialismus in unserem Lande.

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ohne Impressum, handschriftlich: »USG 26.8.68«


Flugblattsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung

Überraschung

Jahr: 1968
Bereich: Internationales

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