Materialien 1968
das missverständnis
wenn wir über die autorität diskutieren
spricht man mit uns von oben herab
wenn wir die würdenträger kritisieren
besieht man sich unsere bügelfalten
wenn wir mehr freiheit verlangen
schränkt man das grundgesetz ein
wenn wir die gewalt anprangern
üben wir terror aus
demonstrieren wir gegen die diktatoren
ruft man uns zur ordnung
demonstrieren wir gegen den abwurf von bomben
nimmt man uns unsere rauchkerzen übel
wenn wir den reichtum gerecht verteilt sehen wollen
leben wir von den steuern der armen
da herrscht ein mißverständnis
da versteht man uns falsch
verlangen wir vorsorge für die dritte welt
verlangt man von uns nachsicht für das dritte reich
wenn wir für die unterdrückten demonstrieren
bekommen wir den knüppel zu spüren
wenn wir gegen den hunger demonstrieren
deutet man auf unsere faulen tomaten
wenn wir die dürren abgeschafft wissen wollen
bespritzt man uns mit wasserwerfern
wenn wir die krankheit bekämpft sehen wollen
schlägt man uns die knochen entzwei
fordern wir die öffnung der grenzen
dann stehen wir vor polizeiketten
verlangen wir für alle ein dach über dem kopf
steckt man uns ins gefängnis
da herrscht ein mißverständnis
da versteht man uns ganz falsch
da darf man uns gar nicht besser verstehen
wo wir unsere ansichten vertreten
verlassen wir den boden der demokratie
wo wir gerechtigkeit verlangen
zerstören wir den rechtsstaat
je größer unsere zahl wird
desto weniger gehören wir zum volk
wo wir den kopf hinhalten
halten die anderen die hand auf
wo wir den mund aufmachen
hält man sich die ohren zu
wo wir zwischen den zeilen lesen
lesen die anderen den börsenbericht
wo wir lunte riechen
riechen die anderen lavendel
wo wir schwarz sehen
sehen die anderen farbfilm
wo wir nachdenken
glauben die anderen
wo wir helfen wollen
wird uns abgeholfen
wo wir fragen stellen
werden wir fraglich
wo wir uns sorgen machen
wirds uns besorgt
da herrscht ein mißverständnis
da versteht man uns ganz falsch
da darf man uns gar nicht besser verstehen
da müsste sich etwas ändern
da liegen gründe vor
wir messen das recht nach der gerechtigkeit
die andern messen das recht nach der paragraphenzahl
wir messen die freiheit nach der freiheit für alle
die andern messen die freiheit nach ihrer eigenen
wir messen die menschlichkeit nach dem glück für alle
die andern messen die menschlichkeit nach ihrem nettoeinkommen
wir messen die demokratie nach der herrschaft des volkes
die andern messen die demokratie nach der herrschaft über das volk
da herrscht ein mißverständnis
da herrscht eine minderheit
da herrscht eine falsche ordnung
da herrscht die gewalt
da müssen wir deutlicher werden
da muss sich etwas ändern
da müssen wir aufnehmen
den kampf
roman ritter
1967/68
Roman Ritter, Lyrisches Tagebuch, Zeit-Gedichte 5/1975, 7 f.