Materialien 1968
Briefwechsel
Original-Nachricht
Subject: Re: Schwabinger Krawalle
Date: Sat, 29 Jan 2011 06:59:45 +010
From: Martin Kalb
To: …
Sehr geehrter Herr Gerstenberg,
vielen Dank fuer die Informationen. Ich werde im Mai mit meiner Arbeit fertig sein und demnach wohl nicht mehr auf diese beiden Dokumentationen zurueckgreifen koennen. Ich werde Sie also so geniessen …
Eine kurze (inhaltliche) Frage habe ich: ich befasse mich im Moment mit den Osterkrawallen 1968, v.a. den Auseinandersetzungen am Gewerbehaus in der Schellingstrasse. Dabei bin ich auf der Su-
che nach einem Hinweis zu den Ereignissen am Sonntag, den 14. April 1968. Die meisten Quellen sprechen von den Ereignissen zwischen dem 11. und 15. April, geben aber keine Angaben zum 14. April. Haben Sie vielleicht irgendeinen (Literatur)Hinweis?
Vielen lieben Dank, und schoene Gruesse!
Martin
_ _ _
Sehr geehrter Herr Kalb,
mit Recht fragen Sie, was war eigentlich am 14. April los. Der Tag geht in der ueblichen Chronolo-
gie irgendwie unter. Darauf eine schluessige Erklaerung zu finden faellt schwer.
Ich kann Ihnen nur aus eigener Erinnerung schildern, dass ich an diesem Sonntag – anders als am Freitag, Samstag und Montag – zu Hause bei meinen Eltern in Obermenzing war. Die Familientra-
dition verlangte ein gemeinsames Mittagessen, die ueblichen langweiligen Ostergeschenke und den Nachmittagskaffee. Diesem Ritual konnte und wollte ich mich aehnlich wie vermutlich viele andere nicht entziehen, obwohl die Familie nicht glaeubig war und auch nicht in die Kirche ging. Am Mon-
tag erfuhr ich dann, dass einige Studierende in den Ostergottesdiensten laute Ansprachen hielten und zum Teil mit erheblicher koerperlicher Gewalt aus den Kirchen geschmissen wurden. Wo und wann das geschah, weiß ich nicht mehr.
Vermutlich ist es normal, zur gleichen Zeit einerseits die einen Tabus einzureissen und anderer-
seits den anderen Tabus noch voellig verhaftet zu sein. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen scheint geradezu eine Voraussetzung für Veraenderung zu sein. Prescht der Mensch auf einem Gebiet sehr weit vor, benoetigt er vielleicht auf einem anderen Gebiet das Empfinden von Si-
cherheit, indem er sich an der Konvention festhaelt.
Eine weitere Begruendung für die Unsichtbarkeit des Sonntag duerfte in der Ueberlagerung we-
niger aufregender Vorgaenge durch die Schilderung der spektakulaeren Ereignisse liegen. Auf-
geregtheit und Sensationslust lenken den Fokus der oeffentlichen Aufmerksamkeit und blenden damit anderes aus. Mit Sicherheit trafen sich die wichtigsten Aktivisten in den Stammkneipen nicht weit weg vom Buchgewerbehaus in der Barerstraße, mit Sicherheit wurden Strategien in den Wohngemeinschaften ausgeheckt. Denn Uni und Kunstakademie waren geschlossen, so dass der uebliche Treff- und Verabredungspunkt wegfiel und das Herstellen von Flugblaettern und Plakaten nicht moeglich war.
Bedauerlich, dass ich Ihnen da nicht mehr mitteilen kann. Aber, wie schon der Volksmund sagt, wo nichts ist, hat auch der Kaiser sein Recht verloren.
Ihnen beste Gruesse aus Muenchen
Guenther Gerstenberg
31. Januar 2011