Materialien 1970

Wer ist Meulemann?

LEHRLINGE
Wie ein katholischer Priester in einem Münchner Heim Lehrlinge „züchtigt“
von Heinz Rabbow

So fromm geht es zu im Lehrlingsheim in der Münchner Berlepschstraße: „Zu Beginn wird gemeinsam gebetet. Der Erzieher achtet darauf, dass jeder Späterkommende sein Tischgebet für sich verrichtet …“

So sauber: „Da junge Menschen von sich aus nicht den Hang zu größter Sauberkeit mitbringen, ist eine Aufsicht während des Waschens äußerst notwendig …“

Und so brutal: „Nossek war betrunken und musste brechen. Meulemann fragte, warum er so viel trinken müsse, und schlug hemmungslos auf den Lehrling ein.“

Wer ist Meulemann?

Axel Meulemann ist Direktor des Lehrlingsheims München, Berlepschstraße. Axel Meulemann ist außerdem katholischer Priester.

Die Erziehungsmethoden von Hochwürden Meulemann beurteilen seine Zöglinge so: „Wir wenden uns gegen die Willkürherrschaft eines einzelnen, der mit Hilfe eines ausgefeilten Kontroll- und Sicherungssystems jegliche Eigeninitiative und Entfaltung der Persönlichkeit zu unterdrücken sucht. Wir protestieren gegen Prügelstrafe, religiöse Pflichtübung, Essenszwang, Verletzung des Postgeheimnisses, unhygienische Badeeinrichtungen, Schrankkontrollen, Bezahlung von Bußgeldern, minderwertige Verpflegung. Wir wenden uns gegen eine Erziehung, die durch Zwang und autoritären Druck von oben statt durch Diskussion und sachliche Auseinandersetzung aller Betroffenen geleistet wird. Wir wenden uns g gen eine Erziehung, die durch Zusammenarbeit mit Betrieb und Schule, Arbeit und Freizeit total reglementiert und uns zu unkritischen Untertanen und willigen Arbeitskräften macht.“

75 Heimbewohner, die meisten von ihnen Siemens-Lehrlinge, haben die Protestresolution bereits unterzeichnet. Hauptinitiator der Aktion ist der „Arbeitskreis Siemens-Lehrlinge“, der schon Anfang des Jahres mit einer aufsehenerregenden Dokumentation („Es ist an der Zeit, den Betriebfrieden des Hauses Siemens zu stören“) die Ausbildungsmethoden in den Münchner Siemens-Betrieben kritisiert hatte. Die erstaunte Öffentlichkeit erfuhr, dass laut Dokumentation beim prominenten Riesenkonzern geprügelt und gequält, aber nur unzureichend ausgebildet wird. Zwar dementierte Siemens postwendend und stellte klar, die Siemensche Lehrlingsausbildung genieße „einen beispielhaften Ruf im In- und Ausland“. Aber rund 140 Lehrlinge, die damals eine Protesterklärung unterzeichnet hatten, wussten es anders.

Siemens hielt offenbar auch die Erziehungsmethoden im Heim in der Berlepschstraße für beispielhaft. Den Eltern auswärts wohnender Lehrlinge wurde jedenfalls das Meulemann-Haus als eines von mehreren Siemens-Vertragsheimen empfohlen. Warum? Die Antwort der Lehrlinge: „Es besteht eine direkte Verbindung zwischen den Firmen und den Heimen. Sogenannte Verfehlungen der Lehrlinge im Heim werden den Betrieben und umgekehrt gemeldet, was eine doppelte Bestrafung zur Folge hat.“

Doppelte Strafe bedeutete bisher für jeden einzelnen doppelte Angst. Und aus eben dieser Angst hatten die Lehrlinge alle Schikanen jahrelang hingenommen. Zum Beispiel diese: „Ich ging morgens um 6 Uhr zum Frühstück. Meulemann hielt mich zurück, weil ich nach seiner Meinung zu lange Haare hatte. Auf die Bemerkung, er würde sie mir selbst abschneiden, antwortete ich, dass er das nicht dürfe. Daraufhin ohrfeigte er mich das ganze Atrium entlang … Zeugen: meine Zimmerbelegschaft.“

Oder diese: „Bei einem Zimmerdurchgang um 21 Uhr stellte Herr Meulemann fest, dass die Schuhe im Zimmer unter dem Bett standen und nicht in dem dafür vorgesehenen Schuhschrank. Daraufhin warf er alle Schuhe, die er fand, vom 2. Stock auf die Straße. Am nächsten Tag konnten sich die Betroffenen die Schuhe wiedersuchen, falls sie nicht jemand mitgenommen hatte.“

Auch die Aufpasser des Heims, die sogenannten Präfekten, ließen sich zum Teil von Axel Meulemanns pädagogischen Erziehungsvorstellungen („Diesen theoretischen Kram können wir in der Praxis nicht brauchen“) leiten: „Merkl kam ca. 10 Uhr abends nach Hause und machte Licht. Präfekt Bauereis stürmt ins Zimmer, schreit, warum hier noch Licht brenne, und schlägt unbeherrscht Merkl, der die Situation noch gar nicht begriffen hat, zusammen … Zeugen: das ganze Zimmer II 5.“

Insgesamt 16 solcher bezeugter Vorfälle haben die Heimbewohner in ihrer Dokumentation angeführt. Aber nicht nur das mussten sie schlucken. In den Aufnahmebedingungen für das Lehrlingsheim heißt es: „Der Erziehungsgedanke steht an erster Stelle. In Zusammenarbeit mit dem Elternhaus und den zuständigen Stellen wollen wir den uns anvertrauten Jungen nicht bloß Kost und Wohnung bieten, sondern sie auch religiös-sittlich, körperlich und beruflich betreuen und weiterbilden. Vorbild ist uns das Leben in einer christlichen Familie.“

In einer christlichen Familie geht es demnach so zu: „Beim Glockenzeichen zum Frühstück sollte der Erzieher schon vor dem Speisesaal stehen. Ein Erzieher kontrolliert die Mittagsbrotzeit, der 2. Erzieher kontrolliert die Schuhe. Punkt 6 Uhr bzw. 6.55 Uhr wird die Speisesaaltür verschlossen, und das Frühstück beginnt. Die Jungen stehen. Ein Erzieher bringt eine kurze, aber treffende und verständliche Lesung aus der Heiligen Schrift. Der andere Erzieher spricht das Morgengebet und schließt mit den Worten: ,Es segne uns und unser Tagewerk der allmächtige Gott, der Vater, der Sohn und der HI. Geist! Amen.’“

Und das ist nur das Frühstück in der christlichen Familie. Ein junger Aufpasser, der das Heim inzwischen verlassen hat: „Meine Tätigkeit bestand fast ausnahmslos darin, den großen feinausgeklügelten Kontrollapparat arbeiten zu lassen. Immer hatte man irgend etwas zu beobachten, aufzuschreiben, abzuhaken, anzumerken, zu beanstanden, aufzupassen.“

Warum in der Berlepschstraße jahrelang ungestraft gedrillt und geprügelt wurde, bleibt ungeklärt. Die Verantwortlichen verfuhren offenbar nach dem Motto: Was ich nicht weiß …

Der Heimeigentümer, der „Verein Lehrlingsschutz e. V.“, hatte bereits vor einiger Zeit anlässlich eines anderen Heimskandals erklärt: „Niemals wurde in 21 Jahren dem Vorsitzenden des Lehrlingsschutzes von einem Jugendlichen gesagt, dass er geschlagen oder misshandelt worden wäre. Bei einem Gespräch mit den Lehrlingen wurden strenge Konsequenzen zugesagt.

Das Stadtjugendamt, dem von der Regierung Oberbayerns die Heimaufsicht übertragen wurde, wusste bislang ebenfalls von nichts und will nach Auskunft der Sachbearbeiterin für Heimwesen („Nun muss ich ganz ehrlich sagen, dass ich nichts sagen kann“) erst eine Stellungnahme Direktor Meulemanns abwarten. Was letzterer sagen wird, ist abzusehen. Bei einem Gespräch mit dpa wies er alle Vorwürfe der „renitenten Burschen“ aufs schärfste zurück. Diese Klarsteilung für dpa hält Priester Meulemann offenbar für ausreichend. Bei einer telephonischen Nachfrage zeigte er sich zwar gottesfürchtig, aber wortkarg: „Fragen Sie die dpa – grüß Gott!“


konkret. Monatszeitung für Politik und Kultur 13 vom 18. Juni 1970, 12 f.

Überraschung

Jahr: 1970
Bereich: Jugend

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