Materialien 1970

Wie man die Jeunesse um den Prix brachte

Ein monopolistisches Lehrstück

Ulrich Chaussy und Franz M. Sonner, seinerzeit noch Schüler und Mitarbeiter des inzwischen abgesetzten kritischen Jugendmagazins „Bildstörung“, waren beim Prix Jeunesse 1970 Mitglieder der Jugendjury. In ihrem Bericht darüber, wie und warum dieses „Jugendforum“ genannte Gremium sogleich wieder abgeschafft wurde, bleiben sie jedoch nicht beim Anekdotischen stehen, sondern werfen die grundsätzliche Frage auf: wieviel Einfluss will das Medium eigentlich seinen (jugendlichen) Zuschauern erlauben?

Historischer Abriß

Nach der Gründung der Stiftung „Prix Jeunesse“ im Jahre 1964, in dem auch der erste Wettbewerb stattfand, wurde 1965 das „11. Internationale Prix Jeunesse-Seminar“ unter dem Motto „Die Bedeutung des Fernsehens für junge Leute von heute, die Erwachsenen von morgen“ abgehalten. In diesem Rahmen nahm der Prix Jeunesse erstmals eine ausführliche Diskussion über sein Verständnis der Rolle des Fernsehens in der Gesellschaft in Angriff und legte deren Ergebnisse in 24 Empfehlungen nieder. Diese blieben Grundlage der künftigen „Prix-Jeunesse“-Veranstaltungen, was nicht zuletzt daran zu erkennen ist, dass beim „Prix Jeunesse“-Colloquium 1969 die erste Einbeziehung der Jugendlichen mit eben diesen Thesen begründet wurde.

1969 also waren die Jugendlichen zum ersten mal direkt am „Prix Jeunesse“ beteiligt. Der damalige Generalsekretär der Stiftung „Prix Jeunesse“, Siegfried Magold, stellte in seiner Eröffnungsrede fest, dass man heute, dreieinhalb Jahre nach der Veröffentlichung der Empfehlungen des Seminars von 1965, noch weit von deren Verwirklichung entfernt sei. Magold weiter: „Die Unruhe, die seit Jahren durch die Jugend der Welt geht und sich in vielen Formen des Aufbegehrens, des Protests und der Revolte Luft macht, hat viele Ursachen … Eine gemeinsame Wurzel ist überall, dass die etablierte Gesellschaft den jungen Leuten keine überzeugende Antwort auf dringende Fragen zu geben vermag. In dieser Situation darf sich das Fernsehen als einflussstärkstes Massenmedium nicht entziehen … Es muss mit seinen Mitteln den Dialog zwischen den Generationen fördern.“

Die Einbeziehung der Jugendlichen ins Fernsehen, 1965 neben anderem gefordert, erschien den Verantwortlichen notwendig; auf dem Colloquium 1969 wurde sie mit den teilnehmenden Jugendlichen durchgehend diskutiert. Beim „Prix Jeunesse“-Wettbewerb 1970 war den Jugendlichen eine institutionalisierte Rolle zugesprochen: Das Jugendforum sollte einen eigenen Preisträger unter den Wettbewerbsbeiträgen auszeichnen. Daneben bestand selbstverständlich die Erwachsenenjury weiter. Das Jugendforum aber lehnte diese Jury-Rolle ab und weigerte sich, einen Preis zu vergeben. Stattdessen wurde ein Forderungspapier erarbeitet, auf das wir unten eingehen werden.

Zum Zusammenhang zwischen Fernsehen und Gesellschaft

Die Empfehlung Nr. 2 des 11. Internationalen „Prix Jeunesse“-Seminars von 1965 lautet:

„Das Seminar ist sich darin einig, dass das gesamte Fernsehprogramm inmitten einer überwiegend konservativen und konformistischen Haltung der Gesellschaft ein dynamischer Faktor für die Entwicklung dieser Gesellschaft sein sollte. Deshalb sollen Fernsehsendungen dazu beitragen, die Jugend zur aktiven Mitarbeit an der Entwicklung der Gesellschaft und zur selbständigen Gestaltung ihres eigenen Lebens herauszufordern. Die Rundfunkanstalten sollten sich nicht scheuen, gerade die für die Jugend geeigneten Sendungen zu benutzen, den Konformismus des allgemeinen Fernsehens zu durchbrechen und unter anderem bestimmte gesellschaftliche Tabus zur Diskussion zu stellen.“

Untersucht man diese Empfehlung auf ihre Implikationen, so fällt auf, dass sie dem Fernsehen einen Unabhängigkeitsspielraum zumessen, der es ihm ermöglicht, die Rolle des „dynamischen Faktors“ zu spielen. Wenn das Medium aber dem allgemeinen historischen Stand der Gesellschaft vorauseilen kann, dann stellt sich die Frage, warum sich das Fernsehen als besondere Sphäre der Gesellschaft gegenüber begreift. Zugleich muss das Fernsehen als zur Entwicklung der Gesellschaft relevanter Faktor Gegenstand öffentlichen Interesses sein – ein Sachverhalt, der sich im übrigen schon in der Eigenschaft des Fernsehens als Massenmedium zeigt und sich zum Beispiel im Rundfunkrat als repräsentativer gesellschaftlicher Querschnitt institutionalisiert wiederfinden sollte.

Die ideologische Legitimation des Fernsehens als „unabhängige Sphäre“ erbringt das Rundfunkgesetz: Als von Sonderinteressen Unterschiedenes soll sich das Fernsehen (bzw. der Rundfunk) auf allgemeine übergeordnete Interessen beziehen. Dies impliziert die Verpflichtung zu „Überparteilichkeit und Objektivität“. Siehe Rundfunkgesetz z.B. des Bayerischen Rundfunks: „Die Sendungen des Bayerischen Rundfunks … sollen von demokratischer Gesinnung, von kulturellem Verantwortungsbewusstsein, von Menschlichkeit und Objektivität getragen sein und der Eigenart Bayerns entsprechen.“ (Artikel 4, Absatz 1).

„Die Angestellten des Bayerischen Rundfunks dürfen bei der Programmgestaltung weder einseitig einer politischen Partei oder einer Gruppe noch Sonderinteressen, seien sie wirtschaftlicher oder persönlicher Art, dienen. Sie können jedoch in eigenen Kommentaren und in Sendungen, die kritisch Stellung nehmen, ihre persönliche Meinung äußern.“ (Artikel 4, Absatz 5).

Von der Forderung nach Objektivität usw. abgesetzt, kann in „als solchen gekennzeichneten Sendungen kommentiert und kritisch Stellung genommen werden. Daraus ergibt sich das Paradoxon, dass Kommentare keine Richtigkeit beanspruchen können, ist diese doch Eigenschaft von Objektivität und Überparteilichkeit.

Als individuelle Qualifikation eines Journalisten treten uns diese Ansprüche als für die Mitarbeit am Medium entscheidend gegenüber – ein eklatanter Widerspruch angesichts der Tatsache, dass auf politischer Ebene diese Gesellschaft „den freien Interessenausgleich der konkurrierenden Individuen“ austrägt. Ein Teilnehmer des „Prix Jeunesse“ 1969, selbst Mitarbeiter einer Rundfunkanstalt, definierte in einer Diskussion um nichtprofessionellen Journalismus die herrschenden Spielregeln wie folgt:

„Glauben Sie, dass es damit getan ist, dass man weiß, wie man die Kamera bedient … oder würden Sie auch noch andere Dimensionen des journalistischen Tätigwerdens berücksichtigen, die man nicht in zwei Tagen lernt …, solche Dinge wie Verantwortung, solche Dinge wie Ausgewogenheit, solche Dinge wie Gründlichkeit der Recherche. Dinge, die zum Handwerklichen, aber auch zum Ethischen gehören.“

Das Scheitern des Jugendforums

Das 1970 als Jury berufene Jugendforum arbeitete gemäß den Empfehlungen des Seminars 1965, Jugendlichen die aktive Teilnahme am Fernsehen zu ermöglichen, einen weiterführenden Forderungskatalog aus. Das Jugendforum wollte seinem Auftreten und seinen Forderungen gemäß repräsentativ für die Jugend sprechen. Nach solchen Kriterien wurden die Jugendvertreter auch ausgewählt. Diese Illusion, Jugend könne als spezifische Interessengruppe auftreten, hat den Verlauf des „Prix Jeunesse“ 1970 entscheidend geprägt. So wird in Punkt sechs des Forderungskatalogs vom Jugendforum postuliert:

„Die Arbeitsgruppen erarbeiten bis zum Colloquium 1971 Vorschläge, wie Jugendlichen wirksame Positionen in verschiedenen Abteilungen der Stationen eingeräumt werden, damit sie in eigener Verantwortung Jugendprogramme gestalten können, wobei die einzelnen Rundfunkanstalten aufgefordert sind, ihrerseits Vorschläge für die Realisation dieser Forderungen anzubieten.“

Diese Forderung, wenn auch aus einer Illusion heraus gestellt, stellte konstitutive Elemente des Fernsehens in Frage, beanspruchte das Jugendforum doch, als gesellschaftlich relevante Gruppe und nur als diese legitimiert, selber Programme machen zu können. Hätte der Apparat das akzeptiert, hätte er nicht bleiben können, wie er war: die bisherige Rollenverteilung in Bezug auf das Medium wäre aufgehoben worden.

So ergab denn auch eine Fragebogenaktion, die das Sekretariat des „Prix Jeunesse“ kurz nach dem Wettbewerb 1970 unter den teilnehmenden Produzenten veranstaltete, die einhellige Meinung: das „Jugendforum“ muss wieder weg! Und 1971 tagte der „Prix Jeunesse“ dann in Klausur …

Ulrich Chaussy/Franz M. Sonner


tendenzen. Zeitschrift für engagierte Kunst 90 vom August/September 1973, 22 ff.

Überraschung

Jahr: 1970
Bereich: Jugend

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