Materialien 1970

Spieltherapie statt Kinderläden

Wir führten ein Interview mit Winni und Renate, einem Elternpaar das von 1970 – 1977 in zwei Kinderläden mitarbeitete.

Stadtratte: Was war neu an den Kinderläden?

Winni: Wir haben im Rückblick oft gesehen welch brutal unterdrückende Erziehung wir selber genossen haben. Deswegen haben sich auch viele als Erwachsene mit der neuen, freien Kindererziehung befreien wollen. Das war ganz was neues für uns, wenn ich denke, wie wir erzogen worden sind, mit so blödsinnigen Anstandsregeln. Da wurden erst mal Dämme eingerissen. Wenn ich denk; ich bin damals noch mit Krawatte rumgelaufen.

Renate: Wir wollten kleine Gruppen, damit wir mehr eingehen können auf die Bedürfnisse der Kinder.

Winni: Auch mehr Selbstbestimmung. Wenn ich in die Apotheke gegangen bin, und da hat eine plötzlich das Kind so angetatschelt, dann hab’ ich gesagt: Ham Sie gefragt, ob der das überhaupt will? Ich hab’ das selber erst begriffen, dass man die Kinder mehr als eigenständige Personen akzeptieren muss.

Renate: Wir haben versucht, die Räume so zu gestalten, dass sie sich bewegen können, dass vielerlei Material da war, das auch immer zugänglich war. Werkecken, Hammer und Säge gab’s da, das war auch was ganz Neues. Wir haben die Kinder auch mitkochen lassen, man hat sie beteiligt am normalen Alltag. Und wir haben versucht Jungen und Mädchen gleich zu behandeln, zum Beispiel haben auch die Mädchen Säge, Hammer und Nägel in die Hand bekommen.

Stichwort „Sexuelle Revolution“, welche Rolle hat die gespielt?

Winni: Die Kinder hat man (manchmal etwas zwanghaft) nackt ausgezogen.

Renate: Beziehungsweise haben wir die Kinder nicht daran gehindert. Und dann wurden Aufklärungsbücher für Kinder besorgt.

Winni: Es war plötzlich ganz selbstverständlich, dass ein Kind zu seiner Mutter rennt, den Pullover hebt, den Busen rausholt und ganz glücklich dran nuckelt. Deswegen wärst du außerhalb des Kinderladens damals wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses belangt worden. Es war auch so, dass Promiskuität als ganz alltäglich betrachtet wurde – passiert ist ja sowieso viel – aber es sollte bewusst der Besitz an Mann und Frau aufgelöst werden. Gemeinsamer Kleiderschrank, gemeinsames Auto … das waren lauter so Ideen, von einem kollektiven Arbeiten, von einem kollektiven Erziehen. Das allerdings sehe ich heute noch als Ideal an, was damals auch nicht verwirklicht wurde: Dass mehrere Leute an der Erziehung eines Kindes teilnehmen, dass die Eltern immer auch kritisiert werden und die Kinder verschiedene Rollenverhalten bei verschiedenen Leuten sehen. Das haben wir damals sehr verachtet, wenn jemand so gesagt hat: mein Kind.

Renate: Das Kind muss die Möglichkeit haben zu anderen hinzugehen, wenn es mit den Eltern nicht zufrieden ist oder da irgendwelche Fragen nicht beantwortet kriegt. Nicht, dass sich ganz viele auf ein Kind stürzen, wie es bei dieser 1-Kind-Familie ist, wo dann rechts und links noch zwei Großeltern sitzen. Es war auch so, dass die Kinder woanders übernachtet haben. Das war ja früher äußerst ungewöhnlich.

Winni: Vor allem bei so kleinen Kindern. Bei uns waren oft vier bis fünf Kinder im Ehebett. Und die Erwachsenen sind auch nackt vor den Kindern rumgelaufen, manche haben sich zwar noch ein bisschen geniert, wir mussten auch Hemmungen überwinden. Es war ja damals nicht üblich, dass die Eltern mit den Kindern geduscht oder gebadet hätten. Bei Bekannten von uns hat der Sohn seinen Vater mit acht oder zehn Jahren das erste Mal nackt gesehen und hat einen Schreikrampf bekommen.

Hat sich das Elternkollektiv auch eingemischt in die häusliche Erziehung?

Renate: Man hat schon darüber geredet, wenn man zum Beispiel bei jemandem zu Besuch war oder die Kinder zu Besuch waren. Aber manche waren da auch sehr empfindlich.

Winni: Ich kann mich an Abende erinnern, wo man sehr auf Kohlen saß, weil die Erzieherin und die Eltern Kind für Kind. durchgehechelt haben, und da musste zu jedem Stellung genommen werden. Das war schon manchmal sehr peinlich – muss ich gestehen -, man hat so Kritik nicht gern gehört. Warum man ein Kind angeplärrt hat, wieso man sie soundso lang der Oma übergeben hat, wie die Kinder leiden unter irgendwelchen blödsinnigen Freizeitvergnügungen der Eltern.

Welche politische Ansprüche verbanden die Eltern mit dem Kinderladen?

Renate: Erst einmal waren in den Erziehungskonzepten Lernziele: Solidarität, gegen Konkurrenzverhalten, kritischer Konsum, Mädchen- und Bubenrollen auflösen. Viele Eltern aus dem Kinderladen sind zusammen mit den Kindern zu Demos gegangen oder waren auch außerhalb des Ladens zusammen politisch aktiv. Aber nicht mehr so, dass man direkt gemeint hat, man kann mit dem Kinderladen die Revolution erreichen, wie es in den Anfangszeiten war. Aber antikapitalistische Erziehung gab’s schon, da gab’s auch wieder Eltern, die da furchtbar Angst gehabt haben vor Indoktrination. Es wurde der Baggerführer Willibald gesungen. Natürlich wieder eine männliche Identifikationsfigur.

Winni: Es gab die alternativen Bremer Stadtmusikanten, rote Märchen – das wurde damals alles umfunktioniert – und wir sind mit den Kindern in Theaterstücke vom Grips-Theater gegangen.

Was waren die Auswirkungen der Kinderläden?

Winni: Sie haben ein völlig anders Bild der Erziehung aufgezeigt. Wer hat denn vorher von Reformpädagogik geredet? Die ist im 3. Reich erledigt worden. Die Namen waren gar nicht bekannt, die waren ja zum Teil vergast und wir sind alle erzogen worden wie im 3. Reich.

Renate: Von den Kinderläden sind ganz starke Impulse ausgegangen, die die üblichen Kindergärten verändert haben und auch die Schulen. Zum Beispiel gab’s das ja vorher kaum, dass Elternbeiräte sich in der Schule oder im Kindergarten eingemischt haben.

Winni: Aber wenn ich mir heute Eltern anschaue, dann sehe ich oft einen grausamer Rückfall in biederste, reaktionäre Erziehung. Die Vorstellung einer kollektiven Erziehung ist weg. Man sucht sich hochwissenschaftlich zu bilden bei der Erziehung, aber man lässt sich in keiner Weise reinreden.

Renate: Dafür gibt es immer mehr Kinder, die in Spieltherapie oder in sonst irgendwelche Therapien gehen müssen.


Mädchen lasst euch nichts erzählen!
Ein Lied aus dem Theaterstück „Mensch, Mädchen“ (GRIPS-Theater)

Mädchen, lasst euch nichts erzählen!
Wehrt euch, traut euch, bis es glückt!
Lasst euch länger nicht befehlen,
was sich für ein Mädchen schickt.
Mädchen, lasst euch nichts verbieten,
was ein Junge machen darf!
Sagt, wovor soll’n wir uns hüten?
Grad auf sowas sind wir scharf!

Wenn’s uns Spaß macht,
können wir Raketen bau’n,
klettern über jeden Zaun,
rennen, ringen, raufen, rotzen,
Fußballspielen, motzen, klotzen,
Spiel- und Bandenführer sein.
So wird’s sein!

Wer hat sich das wohl ausgedacht,
was „man“ als „braves Mädchen“ macht?
Häkeln, sticken, backen, putzen,
nur das Kleidchen nicht beschmutzen.
Haare kämmen, Püppchen wiegen,
weil wir sonst kein Männlein kriegen.

Mädchen, lasst euch nichts erzählen!
Wehrt euch, traut euch, bis es glückt!
Lasst euch länger nicht befehlen,
was sich für ein Mädchen schickt.
Mädchen, lasst euch nichts verbieten,
was ein Junge machen darf!
Sagt, wovor soll’n wir uns hüten?
Grad auf sowas sind wir scharf!

Text: Volker Ludwig, Musik B. Heymann, nach Liederkarren
Hrsg.: Student für Europa e. V.


Stadtratte 5 vom März/April 1991, 14 f.

Überraschung

Jahr: 1970
Bereich: Kinder

Referenzen