Materialien 1970

Nach allen Regeln der Polizeikunst

Das Kindertheater als vorbeugende Anstalt
von Melchior Schedler

Seit Schüler und Lehrlinge sich zu organisieren beginnen, gibt es in der Bundesrepublik eine neue Art von Jugendtheater: Mit Kasperl, Räuber und Wachtmeister versucht es, seinen Zuschauern eine primitive Ideologie von Ruhe und Ordnung einzuhämmern. Gleichzeitig unterschlägt es mit Erfolg das, womit Kinder täglich konfrontiert werden: Doktorspiele und Donald Duck, Hinterhof und Gastarbeiter, Reklame und Rassenhaß, Schule, Prügeleltern, „Eltern“-Eltern …

Kindertheater – bis vor zwei, drei Jahren gab es das bei uns eigentlich gar nicht. Jedenfalls nicht in einer Form, die diesen Namen verdiente. Wie in den sozialistischen Ländern, in Schweden und den Niederlanden oder den USA.

Plötzlich aber kann man aus den Dramaturgenbüros der Stadt- und Staatstheater hören: „Die jun-
gen Zuschauer von heute sind unser erwachsenes Theaterpublikum von morgen. Es wäre nicht nur leichtfertig, sondern dumm, wollte das Theater die hier gegebene Chance nicht voll ausschöpfen.“ Die Branche hat ihr Herz für die Kinder entdeckt.

Das war geschehen: In den Rezessionsjahren 1966 und 1967 hatten mehr Zuschauer ihre Abonne-
ments gekündigt, als die Branche verkraften konnte. Aus ihrer subventionierten Überheblichkeit bumste sie herunter auf den harten Boden der Rentabilität. Und da sie sich von ihrer freiwilligen Kundschaft im Stich gelassen sah, beschloss sie, sich an der unfreiwilligen schadlos zu halten. Bei denen, die schon immer ungefragt in den Zuschauerraum kommandiert worden waren: den Kin-
dern. Und so legte denn der „Deutsche Bühnenverein“, der Verband der Intendanten, auf seiner Jahreskonferenz 1967 den Theatern programmatisch ans Herz, sich schleunigst um die neue Zielgruppe zu kümmern.

Am Anfang des westdeutschen Kindertheaters also stand der Kommerz. Aber alsbald zeigte sich, dass das frisch etablierte Kindertheater nicht nur der Kasse guttat, sondern auch für andere Zwecke eingespannt werden konnte. Und musste.

Denn vom Kindergarten über die Haupt-, Berufs- und Oberschule bis hin zu Erziehungsheim und Universität blieb keine pädagogische Institution mehr von Kritik verschont. Schüler und Lehrlinge muckten allenthalben auf und organisierten sich. Und sogar die bürgerliche Presse und das Fern-
sehen fingen an, Familien- und Erziehungskritik zu treiben und sozialistische Gegenmodelle in Augenschein zu nehmen.

In einer Front mit Heintje

In solcher Bedrängnis kam das Kinder- und Jugendtheater als musisches Rollkommando gerade recht. In breiter Front mit Heintje und „Bravo“, mit „Eltern“ und „Lassie“, mit „Spielen und Ler-
nen“ und „Bonanza“ wurde eine konzertierte Aktion gestartet, die den Nachwuchs mit kindertü-
melndem Glamour einnebeln soll, bevor er an der Schwelle der Pubertät zu ahnen beginnt, was Konsumindustrie und Obrigkeit mit ihm vorhaben.

Die kulinarische Erziehung zur glotzenden Passivität zahlt sich politisch aus. Wer bereits als Kind gelernt hat, schweigend und bewegungslos im mystischen Dunkel des Schauspielhauses hell ange-
strahlten Deklamatoren zu lauschen, die anzureden und zu unterbrechen sich nicht gehört und zu denen aufs Podium zu steigen bei Strafe verboten ist – der wird später als Erwachsener auch außerhalb des Theaters den ihm vorgesetzten Akteuren nicht dreinzureden wagen.

Mithin gibt das Kindertheater „den Heranwachsenden nachhaltige Impulse für die gesellschaftli-
che Integration mit auf den Weg“, so Nürnbergs Kulturreferent Hermann Glaser, und deshalb ist ihre öffentliche Förderung „eine wertvolle Investition für die Zukunft“.

Die neuen Stücke, die der Kindertheater-Boom der letzten zwei Jahre hervorgelockt hat, geben Glaser recht: zum Beispiel der „Räuber Hotzenplotz“ von Otfried Preußler. Aus diesem Top-hit
der vergangenen Spielzeit eine bezeichnende Kostprobe: In der Schlußszene nimmt Kasperl den Räuber Hotzenplotz fest, der Großmama eine Kaffeemühle mit eingebautem Glockenspiel („Alles neu macht der Mai“) geklaut hat:

Kasperl: Los, los, los, Herr Wachtmeister! Wollen Sie ihn nicht fesseln und abführen?

Wachtmeister: Fesseln und abführen? Selbstverständlich wird er gefesselt und abgeführt! Und wie ich ihn fessle, den Burschen! Nach allen Regeln der Polizeikunst! So – fertig! Aber nun ab durch die Mitte, dass du auf Nummer Sicher kommst!

Kasperl: Was geschieht nun mit ihm?

Wachtmeister: Der Halunke wird dreimal am Strick durch die ganze Stadt geführt, dann kommt er fürs erste ins Spritzenhaus.

Kasperl: Und fürs zweite?

Wachtmeister: Fürs zweite werden wir ihm den Prozess machen. Abmarsch! Übrigens, Kasperl – ich will dafür sorgen, dass ihr gleich morgen vom Herrn Bürgermeister eine Belohnung für eure mutige Tat bekommt. (Ab unter den Klängen eines martialischen Marsches.)
_ _ _

Maulschellen für Lehrjungen

Auch die SA führte ihre politischen Gegner bekanntlich „am Strick durch die ganze Stadt“: Wachtmeister und Kasperl als Handlanger des gesunden Volksempfindens.

Wie Hotzenplotz stammen auch die anderen Räuber des Kinderstücks von den romantisierten Libertiner-Schnapphähnen der Volksepen ab, von Rinaldo Rinaldini, Fra Diavolo und Robin Hood: der Erziehlichkeit wegen müssen sie jetzt jedoch als Bösewichter herhalten. Für das Kind von heute deckt sich aber der Profi-Räuber mit keiner erfahrbaren Wirklichkeit mehr. Es kennt aus dem Boulevardblatt nur Amateur- und Gelegenheitsüberfälle. So kommt das von der Bühne herab verkündete Postulat, fiktive Räuber der Obrigkeit auszuliefern, unten als Aufforderung an, Minderheiten schlechthin ausradieren zu helfen: Für „Räuber“ kann das Kind einsetzen, wen immer man ihm madig macht. Was Kriminalität strafrechtlich und politisch eigentlich ist, wer sie als solche definiert und auf Grund welcher gesellschaftlicher Setzungen – im Kinderstück kommt es nicht einmal nebenbei ins Bild; simpel und undifferenziert pumpt es Law-and-order-Ideologie in die Köpfe seiner kleinen Zuschauer. Und gibt mit seinem „Hotzenplotz“, mit „Robinson soll nicht sterben“ und „Emil und die Detektive“ den Heranwachsenden nachhaltige Impulse für die Integration in die Gesellschaft der Littmanns und Kurrasses, der Sauber- und Eichmänner mit auf den Weg.

Der liebste Schauplatz ist dem Kinderstück die Kleinstadt. Denn in dieser idyllischen Enge gibt es nur überschaubare Bezüge: die ständige Kontrolle eines jeden durch jeden. Der Fremde wird da zwangsläufig zum „Hergelaufenen“, zum Landstreicher und Asozialen.

Bevölkert wird dieser Spitzweg-Kosmos von den Figuren des Kolportageromans des 18. und frühen 19. Jahrhunderts (Waisenmädchen, Blumenmädchen, Räuber), des vormärzlichen Zaubertheaters (Hexenmeister, Exote, Alchimist, Fee) und einer mittelalterlich-Lortzingschen Bürgerfauna (Stadt-
schreiber, Handwerksmeister, Schultheiß). Die Ordnungsmacht hat mit Pickelhaube und Schnurr-
bart ihren festen Platz, das Proletariat ist nur als Bäcker- und Schusterjunge zugelassen. Klassen-
antagonismen gibt es nicht, wenn da etwas rumort, dann stets nur von oben nach unten: zur rech-
ten Zeit verpasst der Meister seinem Lehrjungen eine bejubelte Maulschelle. Die Zunftordnung der Frühbourgeoisie herrscht im Kinderstück noch immer unangefochten, und sozioökonomisch traut es sich über die vorindustrielle Epoche mit Heimarbeit und Manufakturwesen nicht hinaus.

Die einzige Staatsform, die das Kinderstück sich vorstellen kann, ist die Monarchie. Streng hierarchisch geht es überhaupt zu, bis hinein in die Familie, die noch immer die wichtigste gesellschaftliche Ordnungszelle ist. Dass sie immer mehr in Zerfall gerät und als Agentur der Unterdrückung kenntlich wird: das Kinderstück ficht es nicht an. Zwar entscheiden sich seine Autoren auffallend oft für Waisen und Findelkinder als Dramenhelden. Die haben es aber nur deswegen zu solcher Prominenz gebracht, weil sie aus der schützenden Ordnung der Familie herausgefallen sind: bedauernswerte Entwurzelte, die zum happy end allemal in eine bergende Sippe zurückverfrachtet werden.

Tanzrehe im Wunderwald

Aber das Kindertheater tut auch etwas für die Phantasie. Wie etwa in Michael Endes „Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer“. Die beiden Titelfiguren fahren in einer Szene auf ihrer Dampf-
lok von China ins Drachenland und singen dabei:

Im Tausend-Wunder-Wald,
im Tausend-Wunder-Wald,
da gibt es viel, was man kaum glauben könnt!
Die Bäume und das Gras
sehn aus wie buntes Glas,
und wer hier durchfährt, wundert sich nicht schlecht.

Da gibt es Eulen mit Zylinderhüten
und Blumen gibts mit Seifenblasenhüten.
Tanzrehe drehn sich schnell
mit rosarotem Fell
beim Ringelreihn
im Tausend-Wunder-Wald.
Und jeder Papagei
hat einen Schirm dabei.
Das gibt es halt
im Tausend-Wunder-Wald.

Eine skurrile, verspielte Welt des Diminutivs, in der das Gespräch über gläserne Bäume ein Schweigen über so viele Realitäten einschließt, an denen Phantasie produktiv werden könnte. Denn: „wenn sie ohne Aufsicht waltet, bringt die Phantasie Bilder hervor, welche zu sehr an Freiheit, an Fülle des Lebens erinnern, nicht aber den Interessen der Gesellschaft, also ihrer Dirigenten, dienende Wunschträume und ,Leitbilder’ (Ernst Fischer).“ Dass sie deshalb „gegängelt, angeleitet, manipuliert werden müsse, damit sie nicht zum Bewusstsein ihrer befreienden Kraft erwache“, lässt das Kindertheater sich nicht zweimal sagen: Mit seinen Märchen-, Zauber- und Abenteuerstücken errichtet es ihr Reservate einer gesellschaftlich garantiert unwirksamen Utopie.

Und unterschlägt zugleich alle Wirklichkeiten, mit denen Kinder tagtäglich konfrontiert sind: Doktorspiel, Donald Duck, Oswalt Kolle, Bettnässen, Schule, Gastarbeiter, Fernsehen, Onanie, Politik, Rassenhass, Reklame, Pubertät, Homophilie, den Faschismus der Kleinbürgerei, Stechuhreltern, Prügeleltern, „Eltern“-Eltern, Hinterhof, Klassenkampf.

Der Zustand und die Eigentumsverhältnisse dieser Gesellschaft lassen es nicht zu, dass wir uns der Kinder so umfassend annehmen, wie es ihnen gebührte. Das hat zur Folge, dass wir uns von ihnen ständig überfordert, tyrannisiert und belastet fühlen. Hineingepfercht in Kleinfamilien und Kleinwohnungen, müssen wir den Kindern einen ihnen gemäßen Verwirklichungsraum schuldig bleiben. Und statt uns an die Veränderung dieses mörderischen Systems zu machen, kehren wir unsere Aggressionen gegen sie: In einem einzigen Jahr werden in der Bundesrepublik neunzig Kinder von ihren Eltern totgeprügelt; nur jeder zwanzigste Totschlag aber wird überhaupt ruchbar.

Das Kind ist unser natürlicher Feind, dem wir nicht zugestehen wollen, was ihm gebührt und was es braucht, weil wir es ihm nicht zugestehen dürfen. In seinem Pamphlet „Wider die Jugend“ schreibt Robert Poulet: „Die streng angewandte Logik würde erfordern, … dass die Erwachsenen die Kinder einfach krepieren ließen“, und er hat recht. Anschließend entwirft er das Wunschbild einer Welt ohne Kinder, einer glücklichen, in sich ruhenden Welt der Stille, Harmonie und Unver-
änderlichkeit, und er hat wieder recht. Denn an den Kindern erbost uns uneingestanden das Moment der drohenden Veränderung.

Was bleibt uns da in unserer biologischen und politischen Ohnmacht, als ihnen eben das zu vermiesen, was sie uns so schamlos voraushaben: die Zukunft. Der Erwachsene kann nur dann gefasster seinem Abgang entgegensehen, wenn er den Kindern eingebläut hat, was der Nachwelt erfreulich Übles blüht.

Wie solche Schwarzseherei auf dem Kindertheater aussieht, zeigt Horst Jüssens „Planet Hagel-
korn“. Im Jahr 3000 verirren sich zwei Astronauten auf einen unbekannten Planeten, den sie von lebenden Maschinen beherrscht finden. Zwei Schreibmaschinen dienen dem Tyrannen des Plane-
ten, einem elektrischen Küchenquirl, als Leibgarde.

Küchenquirl:
Sie kommen uns wie gerufen. Endlich haben wir nun ein paar Menschen, die wir benutzen können als Kegel, Farbband und Buchstaben.

Schreibmaschinen und Küchenquirl:
Einmal kommt der Tag,
da beherrschen wir die Welt,
bestimmen die Gesetze,
drucken nur für uns das Geld,
fahren selbst in unseren Autos,
trinken den Kaffee,
der in uns gekocht wird, selber.
Wenn wir wollen, auch Tee!
Jetzt kommt bald die Zeit der Maschinen!

Jetzt kommt die Revolution!
Die Menschen dürfen sich unserer
nicht mehr bedienen
in der totalen Automation,
in der totalen Automation.
Opposition?

In der totalen Automation.
Welche Situation!
In der totalen Automation.
In der totalen Automation -
Automation – Automation -
Automation – Automation -
Automatiooooon!

Astronaut:
Ich habe es ja immer gesagt, dass es eines Tages so enden würde.

Als Gegenposition zur Hegemonie der Maschinen baut das Stück ein von wandelnden Zimmerlinden bewohntes Großmutter-Stübchen auf: Marlitt-Idylle im Jahr 3000.

Denn Glück kann sich das Kinderstück nur in der Gartenlaube vorstellen, als mindestens 80 Jahre zurückprojizierte Geborgenheit in kleinbürgerlichem Quietismus. Und wenn es sonst alles unter-
nimmt, moderne Zivilisation und Technik zu diffamieren. Antiquiertes technisches Gerät hat stets gute Aussichten, sentimental geliebt zu werden. Mehr noch: frühindustrielle Fossilien werden oft sogar humanisiert. So lässt etwa Volker Ludwig in „Stokerlok und Millipilli“ einer uralten Dampf-
lok ein Wiegenlied singen:

Pffffchchchen ruh dich aus
Pffffchchch bist ja zuhaus
Schlafe süß auf deinem Schlummerschienchen
Du mein kleines Lokomobienchen.

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Böser Dämon Technik

Georg Kerschensteiners polytechnische Erziehung, deren Programm in den 20er Jahren bereits fertig ausformuliert war, hat das Kindertheater bislang standhaft ignoriert. Entschlossen und konsequent fällt es, auch bei den jüngsten Autoren, noch immer mindestens siebzig Jahre hinter jede psychologische, pädagogische, soziale und künstlerische Aktualität zurück. Noch immer ist es damit beschäftigt, Ernst Kreidolfs Fliegenpilze, Koch-Gothas antropomorphe Tiere und die kinder-
tümelnde Teddybärlichkeit aus dem Nachlass der Vulgär-Reformpädagogik am Bühnenleben zu erhalten.

Unverdrossen wie die Heimatkunstbewegung von 1890 drischt es auf den Dämon Technik ein. Die Korrelation zwischen Technik und der Frage nach dem Besitz an den Produktionsmitteln vernebelt das Bürgertheater mit dem Staub, den es aus christlich-abendländischem Kehricht hochwirbelt. Das Kinderstück lässt keine konkrete Utopie, überhaupt die Dimension Zukunft nicht zu. Es ver-
mittelt seinen Zuschauern Inhalte, die künstlerisch veraltet und politisch reaktionär sind. Es zeigt nicht nur das, was die Erwachsenen nicht mehr sehen wollen: es drückt sich auch grundsätzlich vor jeder aktuellen Wirklichkeit. Oder, wie der Münchner Theaterleiter Siegfried Jobst es einmal aus-
drückte: „Die Jugend sucht und fordert eine heile Welt; man kann ihr kein schlimmeres Unrecht antun, als wenn man ihr nur das Heillose, Weglose, Trostlose zeigt. Auch die harten Adler Eltern stoßen ja ihre Brut erst dann aus dem Nest, wenn ihr die Flügelansätze gewachsen sind. Unsere Aufgabe ist, der Jugend die Kraft zum Fluge mitzugeben.“


konkret. Monatszeitung für Politik und Kultur 23 vom 5. November 1970, 63 ff.

Überraschung

Jahr: 1970
Bereich: Kinder

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