Materialien 1970
Die Tabus der deutschen Presse
Wie seinerzeit angekündigt fand in München am 5. und 6. Dezember 1970 ein Kongress zum Thema „Die Tabus der deutschen Presse“ statt. Veranstalter waren neben der Humanistischen Union der Deutsche Schriftsteller-Verband und die Deutsche Journalisten-Union. Der Kongress fand vor allem im Rundfunk eine sehr große Resonanz. Die Referate des Kongresses werden im Frühjahr 1971 im Hanser-Verlag erscheinen. Mitglieder der Humanistischen Union können das Buch dann über die Geschäftsstelle beziehen
Zum Auftakt des Kongresses sprach Prof. Dr. Schweppenhäuser (Lüneburg) zum Thema „Vergötzte Ordnung — Das System wird nicht in Frage gestellt“. Er wies einerseits auf die vollständige Abhängigkeit der Zeitungspresse vom gesellschaftlichen System hin, deutete andererseits Möglichkeiten der Emanzipation an. Das wachsende Bewusstsein der Journalisten eröffne die Chance, dass sie „die verdummende, registrierende, passivmachende, die Konsumenten auf den menschenunwürdigen Zustand einschwörende Zeitungsware bekämpfen und um einer qualitativ anderen Zukunft willen preisgeben lernen“.
Hans-Dieter Müller, Autor des Buches „Der Springer-Konzern“, stellte sein Referat unter die Frage „Arbeitswelt — kein Thema für die Presse“ Obwohl die Arbeitswelt den entscheidenden Bereich von über 80 Prozent der Bevölkerung ausmache, habe sie in der Presse nur einen Stellenwert von etwa 5 Prozent. Wirklich kritische, aufklärende Berichte fehlten überhaupt.
Professor Dr. Klaus Peter Kisker, Direktor des Instituts für Konzentrationsforschung an der „freien Universität“ in West-Berlin, referierte über den Wirtschaftsteil der Presse: „Public Relations statt objektiver Berichterstattung“. Anhand von Auswertungen der Blätter „Frankfurter Rundschau“, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, „Die Welt“ und „Handelsblatt“ wies er nach, dass im Wirtschaftsteil der bundesdeutschen Presse der Kommunikationsgegenstand „Wirtschaft“ auf Informationen für Unternehmer reduziert wird. Die Lage der Lohnabhängigen und Probleme der Konsumenten werden nicht als eigenständige Kommunikationsziele, sondern — wenn überhaupt — in ihrer Bedeutung für die Kapitalexpansion behandelt.“
Die beiden Sozialarbeiter Lothar Gothe und Rainer Kippe vom Verein für sozialpädagogische Sondermaßnahmen, Köln, schilderten das Presseschicksal der sozial Unterprivilegierten. Ihr Elend und gesellschaftliches Fehlverhalten werde von der Presse sentimental als Schicksal verdunkelt. Sie forderten die Journalisten auf, sich zu „Dolmetschern der Sprachlosen“ zu machen.
Ralf Sülzer vom Institut für Publizistik der Westberliner FU beschäftigte sich in seinem Referat mit der Frage „Interessieren an Demonstrationen nur Zwischenfälle? — Sensation statt Information“. Auch über Demonstrationen, über ihren Sinn, ihre politischen Ziele vor allem, werde kaum berichtet und wenn, dann zumeist unter Begriffen wie „Krawall“ oder „Kriminalität“.
Ansgar Skriver vom Westdeutschen Rundfunk lieferte in seinem Referat zahlreiche Beispiele für „Tabus in der Auslandsberichterstattung“.
Der Bielefelder Jugendrichter Helmut Ostermeyer zeigt anhand einer Zeitungsanalyse auf, dass die Gerichtsreportage mit falschen Klischees arbeite, den Kriminellen grundsätzlich als den Bösen hinstelle, den Richter als weise und gerecht schildere, „eher zu gütig als zu streng“, den Verurteilten schließlich meist als kläglich oder reuig. Gesellschaftliche Ursachen der Kriminalität würden totgeschwiegen; stattdessen würden durch die Gerichtsreportage Anpassung und gesellschaftliche Resignation gefördert.
Prof. Dr. Ulrich Sonnemann beleuchtete in seinem Referat „Pardon wird nur nach oben gegeben“, Kapitulations- und Beschwichtigungsmechanismen einer Presse, „die nach einem überlieferten deutschen Verständnis oder Missverständnis dieses Begriffs liberal ist“.
Eckart Spoo, der neue Bundesvorsitzende der Deutschen Journalisten-Union in der IG Druck und Papier, unterstrich in seinem Schlusswort, dass die einzige realistische Perspektive für ein Angehen gegen die von Unternehmern verordneten Tabus in der gewerkschaftlichen Organisation und im gewerkschaftlichen Kampf der Journalisten liege. Gerade den tabuisierten Themen in der Presse komme ein eminentes öffentliches Interesse zu.
Mitteilungen der Humanistischen Union 47 vom Januar/Februar 1971, 2.