Materialien 1970

Niederlage vor Olympia

MIET-AFFÄREN
In München nutzen Wohnungsspekulanten die vorolympische Saison, indem sie Mieter kurzerhand auf die Straße setzen
von Heinz Rabbow

Für Münchens Mieter haben die Olympischen Spiele längst begonnen, und ihr Spiel ist schon entschieden: Beim Rennen um ein Dach über dem Kopf blieben sie auf der Strecke. Immer mehr von ihnen sitzen praktisch auf der Straße, weil sie die hoch geschraubten Mieten nicht bezahlen können. Die Hausbesitzer dagegen erkannten die Zeichen der Zeit. Die Wohnungsnot und die olympische Prominenz der bayerischen Landeshauptstadt werden für sie zu klingender Münze. Die Vorbereitungen zum Fest der Völkerverständigung laufen auf vollen Touren.

„Wir demonstrieren gegen die Allmacht und Willkür der Hausbesitzer!“ tönte es vor wenigen Tagen aus einem Lautsprecherwagen, der durch Schwabings Straßen fuhr. Dahinter marschierten die, für die Olympia zum Alptraum geworden ist: alte Leute, Rentner, Gebrechliche, Arme. Auch eine Handvoll Studenten. Sie hatten sich zum gemeinsamen Protestmarsch eingefunden, zu dem die „Mieterselbsthilfe München-Nord“ alle „unterdrückten und ausgebeuteten Mieter“ aufgerufen hatte. Mit Plakaten („Brecht die Macht der Hausbesitzer“’) und Parolen („Wenn wir uns zusammenschließen, dann werden wir stark sein!“) sorgten sie für eine der ungewöhnlichsten Demonstrationen, die München je erlebte. Da marschierte ein 71jähriger Mann, den sein Vermieter wegen „Meinungsverschiedenheiten“ vor die Tür gesetzt hatte und der am Demonstrationstag noch nicht wusste, wo er nachts schlafen sollte. Er verteilte Flugblätter. Da demonstrierte eine 70jährige für ihren toten Bruder: „Der ist gestorben, als man ihn aus der Wohnung warf!“ Da protestierte eine 55jährige, die vom Wohnungsbesitzer gekündigt wurde, weil sie sich eine Waschmaschine angeschafft hatte. Und dieser erste Mietermarsch war nur ein Auftakt. Metallarbeiter Max Kögler, Sprecher der Mieterselbsthilfe: „Wir wollen nicht länger der Willkür der Hausbesitzer ausgesetzt sein. Diese Aktion wird nicht unsere letzte sein.“

Fast scheint es, als stünde der Stadt München von unerwarteter Seite ein heißer Sommer bevor. Milliardenteurer Olympia-Schmuck kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass hinter den Kulissen der Olympiastadt immer rüdere Spekulationsgeschäfte immer mehr Angst und Empörung schaffen.

In Zahlen: 2.434 Münchner Familien beantragten allein im vergangenen Jahr einen Wohnungsberechtigungsschein, weil ihnen gekündigt worden war. Im selben Jahr baten 354 Familien das Amt für Wohnungsfragen um Vermittlung einer Wohnung. Auch ihnen war gekündigt worden, sie hatten jedoch beim Gericht Einspruch eingelegt. Erfolg: Die Richter bestätigten die Kündigung. Die durchschnittliche Frist für die Räumung gekündigter Wohnungen liegt bei drei Monaten. Die durchschnittliche Frist für das Finden einer neuen erschwinglichen Wohnung lässt sich eher in Jahren angeben. Denn in München fehlten schon bei der jüngsten Staatszählung genau 29.061 Wohnungen. Kein Wunder, dass jede Wohnung für den Besitzer zur Goldgrube wird. 9 DM pro Quadratmeter ist der Durchschnittspreis für freifinanzierte Appartements, für Mehrraumwohnungen etwa 6,50 DM. Solche Wohnungen sind zu haben – wenn man sie bezahlen kann. Münchens Durchschnittsbürger können das nicht. Sie sind auf Sozialwohnungen angewiesen. Und mit eben diesen Wohnungen werden jetzt in München die dunkelsten Geschäfte gemacht.

Da flattern den Mietern Briefe ins Haus, denen sie entnehmen können, dass ihre Sozialwohnung plötzlich in eine Eigentumswohnung umgewandelt worden ist. Und während sich die alten Mieter neue Wohnungen suchen müssen, wird ihre mit öffentlichen Mitteln finanzierte Ex-Sozialwohnung zum vier- bis fünffachen Preis verkauft. Und zwar von Firmen, die nur aus einem Briefkasten bestehen: Investment Foundation Establishment (Sitz in Vaduz), BIHAG AG (Vaduz), Monti Comerce (Liechtenstein), Wartburg AG (Chur). Hinter den klingenden Namen stecken geschäftstüchtige Makler, die lieber vom Ausland aus operieren, weil man dort in puncto Steuern so schön billig lebt. Der kleine Mann in München steht währenddessen auf der Straße.

Die Gerichtskosten können die Gekündigten in der Regel nicht aufbringen. Deshalb ziehen sie gleich aus und beantragen bei der Wohnungsbehörde eine neue Sozialwohnung, die diese Behörde wegen des katastrophalen Wohnungsmangels nicht vermitteln kann. Münchens Grauer Kreis schließt sich wieder.

Der Haus- und Grundbesitzerverein sieht das so: „Nach der geltenden Rechtslage ist somit nach unserer Überzeugung der Mieter in jeder Hinsicht ausreichend geschützt“ (Geschäftsführer Erwin Kellerhals). Münchens Oberbürgermeister Hans Jochen Vogel (SPD) dagegen weiß, dass sich die Mieter „in einer Interessenlage befinden, in der sie einfach Angst haben“.

Prominenten Zuhörern wie Bundesjustizminister Jahn und Bayerns Justizminister Held, berichtete er auf einem Mieter-Hearing im vergangenen Monat: „Da werden diese Leute, die seit 20 Jahren in diesen Wohnungen wohnen und die hören, was das Haus gekostet hat und zu welchem Preis es veräußert wird und was noch an Firmen dazwischen steckt, von einer solchen Wut gepackt, dass diese Wut über den Fall hinaus für unsere Demokratie Bedeutung erlangt, und die Leute fragen: ,Ist unsere Gesellschaftsordnung in der Lage, ein solches Problem zu meistern, oder ist sie es nicht?’“ Die Antwort des öffentlichen Hearings: Sie ist es nicht. Statt Schutzbestimmungen gegen willkürliche Preiserhöhungen, Kündigungen und Umwandlungen von Sozialwohnungen einzuführen, werden Millionensummen für ein Superzelt zum Völkerfest lockergemacht. Dass bei dieser kühnen Planung an anderen Ecken ein bisschen gespart werden muss, dafür werden zumindest Münchens Wohnungsspekulanten viel wohlwollendes Verständnis aufbringen.


Mieter-Demonstration in München: „Brecht die Macht der Hausbesitzer.
Foto: Haase.


konkret. Monatszeitung für Politik und Kultur 9 vom 23. April 1970, 58 f.

Überraschung

Jahr: 1970
Bereich: Stadtviertel

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