Materialien 1970

Da ging es im Grunde genommen um das Fluidum einer Stadt ...

Klühspies: … Da ging es im Grunde genommen um das Fluidum einer Stadt, also um das, was dem Bürger Bürgerbewusstsein vermittelt, sodass er gerne sagt: „Ich bin ein Bürger dieser Stadt! Ich gehe also nicht weg aus dieser Stadt, weil ich woanders vielleicht 100 Euro mehr verdienen könnte.“ Nein, so ein Bürger sagt, er bleibt trotzdem da, weil er hier in dieser Stadt leben möchte, weil er mit seinen Emotionen an dieser Stadt hängt, weil er hier irgendwie seine Emotionen aufhängen kann. Es war ja das Manko des damaligen Städtebaus, dass wir im Grunde genommen nüchterne Strukturen hergestellt haben. Ich denke jetzt an solche Stadtteile wie Neuperlach usw., obwohl Neuperlach sogar noch eines der besseren Beispiele ist. Aber dort sieht es doch wirklich so aus: Wenn man ein Haus gesehen hat, dann kennt man alle! Wenn man eine Türe, wenn man ein Fenster und einen Balkon gesehen hat, dann kennt man alle Türen, Fenster und Balkone.

Toepsch: Ja, weil sie sich so ähnlich sind.

Klühspies: Oder es sind glatte Fassaden, an denen die Phantasie abprallt. Wie soll der Mensch denn dort ein Heimatgefühl entwickeln?

Toepsch: Was macht denn das Heimatgefühl in der Stadt aus, wenn Sie mit diesem Argument an die neue Stadtbaurätin appellieren? Worum muss sie sich kümmern?

Klühspies: Ich habe in Jahrzehnten versucht, das zu definieren, aber es gelingt mir nicht, denn das muss man irgendwie spüren. Wie sagt der Münchner? „Wo’sd hischaugst, is Hoamat!“

Toepsch: Aber Sie haben ja z. B. auch eine Bürgerinitiative gestartet, die sich damalsum das „Café Annast“ bemüht hat. Das war ja einer dieser wesentlichen Dreh- und Angelpunkte.

Klühspies: Einer dieser Knackpunkte war in der Tat z. B. das „Café Annast“ am Odeonsplatz. Dieses Café wurde im Zuge der allgemeinen Aufwertung der Innenstadt verkauft und an eine Bank vermietet. Wir waren aber der Meinung, dass das ein Literatencafé war, das man nicht einfach so aufgeben könne, weil es zum Fluidum unserer Stadt gehört, dort am Odeonsplatz zu sitzen und miteinander zu diskutieren.

Toepsch: Es ist gerade heute wieder ein großes Bild in der Zeitung, das zeigt, wie die Menschen dort in der Sonne sitzen.

Klühspies: Die Stadt hat sich damals aber für unfähig erklärt, da etwas zu machen. Man meinte bei der Stadt, man sei „impotent“. Dieser Ausdruck ist damals wirklich gefallen in diesem Zusammenhang. Ich habe dann mit meinem Kollegen nachgeschaut und tatsächlich Gesetze gefunden, die besagten, dass sich in diesem königlichen Bereich im Erdgeschoss kein Gewerbe ansiedeln darf – außer der Gastronomie. Damit sind wir dann an die Presse gegangen. Es gab natürlich einen riesengroßen Wirbel: Plötzlich waren alle der Meinung, dieses Café müsse erhalten bleiben. Es ist uns dann tatsächlich gelungen, den Erwerber dieses Cafés, weil er nämlich nicht umbauen konnte, dazu zu bewegen, dieses Café wieder zu verkaufen. Und deswegen ist uns dieses Café bis heute erhalten geblieben – wenn auch vielleicht nicht ganz so in der Form, wie wir uns das damals vorgestellt hatten. Es gab dann eine große Einweihungsfeier zur Wiedereröffnung mit Hunderten von geladenen Gästen, die auch gekommen wären, wenn das Café abgerissen und sie zur Einweihung einer Bank geladen worden wären. Aber wir beide waren nicht eingeladen.

Toepsch: Sie gehen aber trotzdem hin, denn man kann dort draußen wirklich schön sitzen.

Klühspies: Ja, ich gehe trotzdem hin, denn ich betrachte das schon irgendwie auch als „Miteigentum“, denn das ist ja meine Stadt, in der ich lebe.

Toepsch: Vielleicht sollte man seine Stadt überhaupt so betrachten.

Klühspies: Ja, freilich. Ich habe vorhin vom Fluidum einer Stadt gesprochen, vom Stadtraum, in dem man leben möchte: Da fällt mir die Isarparallele ein. Das war eine Schnellstraße von Nord nach Süd, die die Autobahnen verbinden sollte. Sie war für acht Fahrspuren vorgesehen und bei jeder Isarbrücke hätte es eine Unterführung gegeben. Dafür hätte man sämtliche Bäume entlang der Isar abholzen müssen. Zum Teil hätte man sogar Tragkonstruktionen ins Wasser und übers Wasser hinaus machen müssen, um diese Fahrspuren unterzubringen. Ich kann mich nur fragen, was damit den gewonnen worden wäre. Sicher, der Autoverkehr wäre gemäß der Devise, dass der Verkehr zu fließen habe, verbessert worden. Aber man hätte dafür einen unverwechselbaren Stadtraum, der in Europa seinesgleichen sucht, zerstört.

Toepsch: Sie haben gute Argumente, denn Sie sind ja auch mit all diesen Bürgerinitiativen, die sich mit diesen Thematiken beschäftigt haben, durchgekommen.

Klühspies: Ich bin zunächst einmal nicht durchgekommen. Obwohl ich sachlich argumentierte, wurde ich überhaupt nicht zur Kenntnis genommen in all diesen Fällen. Man meinte einfach, ich sei ein Wichtigmacher, der bloß die Stadt blamieren möchte.

Toepsch: Was hat denn den Sinneswandel herbeigeführt?

Klühspies: Den Sinneswandel hat herbeigeführt, dass ich Bürgerinitiativen gegründet habe wie z.B. die Bürgerinitiative „Rettet die Isaranlagen“, die Zettel an die Bäume hängte: „Ich werde morgen gefällt, weil die Stadtplanung es will!“ Innerhalb von kurzer Zeit hatten wir Hunderte von Unterschriften. Und damit hatten wir auf einmal ein politisches Gewicht, das die Politiker nicht mehr übersehen konnten. Von da an waren wir Diskussionspartner, davor nicht. Es ging also gar nicht um sachliche Argumentation, sondern darum, uns zunächst einmal totschweigen zu wollen. Dies ging dann aber nicht mehr, weil die Bürger Druck gemacht haben. Da war ich dann plötzlich der gesuchte Gesprächspartner. Es gelang mir wirklich, die städtischen Planer zu widerlegen, denn ich hatte noch einen weiteren Vorteil. Ich hatte nämlich nicht nur als Erststudium Ingenieurbau, also auch Straßenplanung studiert, sondern ich war darüber hinaus aufgrund meines zweiten Studiums auch noch Architekt. Architekten – und ich wurde damals nur als Architekt wahrgenommen – hat man zu dieser Zeit ja eigentlich nur auf die Schulter geklopft und zu ihnen gesagt: „Schön, dass wir solche Leute haben, die diese Werte hochhalten wie den Stadtraum, das Fluidum bzw. den Charakter einer Stadt! Aber wir haben ja auch so und so viele Tausend PKW pro Stunde und Richtung und das erfordert einfach so und so viele Fahrspuren. Wir können also gar nicht anders. Das ist einfach ein Sachzwang.“ Aber ich hatte halt auch mein anderes Studium, aufgrund dessen ich den Straßenbauern nachrechnen konnte, wo sie geschwindelt haben, um an den jeweils auszubauenden Knotenpunkten die Belastung zu errechnen, die den Ausbau erst rechtfertigte. Mit so etwas hatten sie überhaupt nicht „gerechnet“, das war völlig neu für sie.

Toepsch: Dass einer tatsächlich fachliche Ahnung hatte.

Klühspies: Ja, und auf diese Weise konnte ich nicht nur bei der Isarparallele, sondern auch bei anderen Knotenpunkten wie z. B. bei der Plinganserstraße die Berechnungen der Stadt widerlegen und aufzeigen, dass man sogar so jemanden wie den Chefstraßenplaner der Stadt, nämlich den Professor Schaechterle von der TU, nicht zur Kenntnis genommen hatte. Denn der hatte schon gesagt, dass dieser Ausbau an der Plinganserstraße nicht notwendig sei. Man hat damals also einen hohen Stadtbaubeamten, der vorher in der Presse gesagt hatte, dass der Ausbau an der Plinganserstraße und Heckenstallerstraße nicht notwendig sei, dazu gezwungen, vor dem Stadtrat zu sagen, dass seine Meinung nicht seine Meinung sei. Mit solchen Methoden hat man damals gearbeitet und die Stadtplanung durchgesetzt.

Toepsch: Wer hatte denn daran ein Interesse?

Klühspies: Erstens hatte die Verwaltung ein Interesse daran. Ich sagte ja vorhin bereits, dass man damals der Überzeugung war: „Eine Verwaltung irrt nicht!“ Und wenn es hundertmal falsch ist, was sie sagt, sie irrt nicht! Sie kann also niemals zugeben, dass sie einen Fehler gemacht hat. Zweitens hatte die Politik ein Interesse daran, die sich ja irgendwie schützend vor die Stadtplanung und die entsprechenden Beamten stellen musste. Die Politiker hatten dabei zwar oft große Zweifel, aber das war halt ihr „Sachzwang“. Es war oft so, dass eine Entscheidung eigentlich auf der Kippe stand, dann aber im Stadtrat letzten Endes doch die Argumente der Stadtplanung überwogen. So hat man dann halt die Dinge durchgezogen. Nicht alle, aber doch noch einige …

Karl Klühspies, Stadtplaner, im Gespräch mit Gabi Toepsch


http://www.br-online.de/alpha/forum/vor0706/20070615.shtml. – α-forum, Sendung vom 15. Juni 2007, 20.15 Uhr.

Überraschung

Jahr: 1970
Bereich: Stadtviertel

Referenzen