Materialien 1971
Die Rechtshilfe der APO in München und die RAF-Prozesse
Hartmut Wächtler im Gespräch mit Brigitte Bruns
Die 60er Jahre: Eskalation der Ost-West Spannungen, Vietnamkrieg, Einmarsch der Warschauer Paktstaaten in die CSSR, Unterstützung faschistischer Regime in der Dritten Welt durch die USA, weltweite Streikbewegungen, erster Fernsehsatellit, Beginn der Global Village, neue Hochschul-
gesetzgebung und dritte Lesung der Notstandsgesetze in der Bundesrepublik.
Nach dem Attentat auf Rudi Dutschke, Ostern 1968, kam es bundesweit zu Demonstrationen gegen den meinungsbeherrschenden Springer-Konzern mit Sitzstreik vor Redaktionen, Druckereien und Auslieferungsstellen der Bild-Zeitung. Ein Studenten-Slogan damals lautete: „Bild hat mitgeschos-
sen“. In München wird das Buchgewerbehaus Ecke Barer-/Schellingstraße belagert (auch bekannt als ehemalige Druckerei des Völkischen Beobachters und nun Sitz der Bildzeitung), Barrikaden werden errichtet. Der Protest endet mit dem Einsatz von Hundertschaften der Polizei mit Wasser-
werfern und Gummiknüppeln, mit unzähligen Verletzten, weit über hundert Festnahmen und zwei Toten. Nie aufgeklärte Fälle, die Polizeifilme noch heute unter Verschluss. Damals habe die anti-
autoritäre Bewegung der Außerparlamentarischen Opposition (APO) ihren Höhepunkt und zu-
gleich den Anfang ihrer Zerschlagung erlebt, meinte unlängst der damalige Vorsitzende des Münchner Allgemeinen Studentenausschuss (AStA), Rolf Pohle, in der Süddeutschen Zeitung (19./20. Juli 1997).
Was hat Dich politisch aktiviert?
Da ich keine Aufzeichnungen oder Fotos besitze, kann ich nur aus der Erinnerung sprechen. Ich kam aus der Provinz, mein Vater – Nazi – starb als ich ein Kind war, ich wuchs bei Mutter und Großmutter auf. Ich begann mein Studium 1965 an der Freien Universität (FU) in Berlin, die Uni erschien mir abstoßend und langweilig, die hierarchischen Zwänge einschüchternd. Auch der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS), der in einer Kriegsruine am Kudamm hauste und mich anzog, war elitär und gegenüber dem unsicheren Neuankömmling wenig einladend. An den ersten legendären Sitzstreiks an der FU, den Protesten gegen den Vietnamkrieg und Deutschlands außenpolitisch verlogene Haltung, nahm ich als einzelner teil. Zum moralischen Protest kam der Wunsch, in Kontakt mit gleichgesinnten Studentinnen zu kommen, ich glaube, eine sehr verbrei-
tete Doppelmotivation. Nach drei Semestern in ziemlicher Isolation wechselte ich nach München und fand dort schnell Anschluss an den damals linksradikalen Liberalen Deutschen Studenten-
bund (LSD). Man traf sich in offener Runde jeden Dienstag um 22 Uhr im Lokal „Schwabinger Nachteule“ in der Occamstraße, eine Möglichkeit, alle wichtigen Leute der sich gerade bildenden Studentenbewegung kennenzulernen und etwas zu tun mit dem ich mich identifizieren konnte.
Die antiautoritäre Revolte hatte ihre Wurzeln im Mangel an Identifikationsfiguren und begrün-
deten Zweifeln am Demokratieverständnis öffentlicher Repräsentanten. Die Rolle, die viele von ihnen im Dritten Reich gespielt hatten, führte damals zu Aktionen wie die gegen den Münchner Staatsrechtler und zeitweiligen bayerischen Kultusminister Maunz, der 1964 zurücktreten musste. Ging es um mehr Mitbestimmung und damit Verwirklichung des Grundgesetzes?
Bevor ich nach München kam, hatte der linksliberale AStA gerade eine viel beachtete Ausstellung „Braune Universität“ organisiert. NS-belastete Hochschullehrer saßen unangefochten und unhin-
terfragt auf ihren Lehrstühlen. Sie hatten ihre Lehre der neuen Zeit „angepasst“. Theodor Maunz z.B. lehrte nach seinem erzwungenem Rücktritt als Kultusminister weiter Staatsrecht und gab den renommiertesten Kommentar zum Grundgesetz heraus (der später von seinem Schüler Roman Herzog fortgesetzt wurde). Maunz hatte seine akademischen Titel mit Arbeiten wie „Der Führer schützt das Recht“ erworben. Als Hochschullehrer war er beliebt und besaß pädagogisches Ge-
schick. Kritische Fragen nach seiner Vergangenheit beantwortete er nicht, sondern ging dann lieber. Mit seinen Altersgenossen verhielt es sich ähnlich. Natürlich waren das keine „Identifika-
tionsfiguren“, man konnte sich ja nicht einmal an ihnen reiben – allerdings besaßen sie die Macht. Enttäuschender für mich war die Rolle der damals 40jährigen Nachwuchswissenschaftler, von ihnen kam nichts. Sie beklagten den Verlust des vorher herrschenden angeblich guten Tons an der Uni und bastelten an ihrer Karriere. Man müsste heute mal Bundespräsident Roman Herzog fra-
gen, wie er es mit Maunz gehalten hat. Nach dessen Tod vor wenigen Jahren ist ja herausgekom-
men, dass er bis zuletzt unter Pseudonym für die Rechtsradikalen gearbeitet hat.
Der Liberale Deutsche Studentenbund (LSD) hatte sein Büro in der Barerstraße 46, Rgb. – also neben dem Buchgewerbehaus. Welche Rolle spielte in München der LSD bei der Politisierung der Studenten?
Der LSD war an sich als Hochschulbund der Freien Demokratischen Partei (FDP) gegründet wor-
den. Der Münchner LSD ging dann eigene Wege, anfangs der 60er Jahre schloss er sich politisch eher der Sozialdemokratischen Partei (SPD) an. Wir hatten sehr gute Kontakte zu linken SPD-
Funktionären, z.B. zählte zu unseren Ehrenmitgliedern Hans Werner Richter. Es gab u.a. Treffs mit Gewerkschaftern anlässlich der Anti-Notstands-Aktivitäten, die einen breiten Konsens in der Bevölkerung hatten. Im LSD waren alle wichtigen linken Studentenfunktionäre der Jahre 1967 – 69. Je mehr sich der LSD radikalisierte, desto mehr aber zogen sich SPD, Gewerkschaften und intellektuelle Honoratioren wie Richter zurück. Der LSD löste sich schließlich ebenso wie der SDS, der in München mehr als Theorie-Forum Bedeutung gewann, 1970 auf. Diese Art von studenti-
schen Vereinigungen hatte sich überlebt.
Ihr habt als Rechtsreferendare zusammen mit Rolf Pohle in der legendären „Rechtshilfe“ der APO gearbeitet. Sie wurde April 1968, infolge der Strafverfahren gegen sogenannte „Rädelsführer“, nach den Ereignissen in der Barerstraße gegründet. Sie war Nachfolgerin des Arbeitskreises „Recht“ im LSD. Sie gab APO-Studenten Hilfestellung in Gerichtsverfahren und Tipps zur Selbst-
verteidigung. Der Regisseur Wim Wenders wurde damals z.B. wegen des Versuchs, die Springer-Aktionen am Karfreitag zu filmen, angeklagt und verurteilt. Wer holte sich bei Euch Rat?
Mit den militanten Demonstrationen gegen den Axel Springer Verlag nach dem Anschlag auf Rudi Dutschke war die Studentenbewegung auf dem Zenit ihres Einflusses angelangt und zugleich an ihrer Grenze. Wir stellten erschrocken fest, dass die Gesellschaft nicht zu verändern war, indem wir die Universität auf den Kopf stellten. Entmutigung griff um sich. Der zuvor linke AStA an der Münchner Universität (LMU) wurde zugunsten eines christlich-sozial-orientierten AStA abge-
wählt. Alle linken Gruppen schlossen sich daraufhin zu einer ADU (Aktionsgemeinschaft demokra-
tische Universität) zusammen mit dem Ziel, den rechten AStA wieder zu stürzen. Dies gelang auch binnen einiger Monate. In der Zwischenzeit hatte sich die politische Polizei auf die neue Situation bei Massendemonstrationen eingestellt. Es wurden strafrechtliche Ermittlungsverfahren in großer Zahl eingeleitet, bevorzugt gegen solche Personen, die man als Rädelsführer einschätzte wie Rolf Pohle, aber auch gegen eine Unzahl von Demonstranten. Die Vorwürfe waren Landfriedensbruch, Sachbeschädigung, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Hausfriedensbruch, Beleidigung etc. Mit den Strafverfahren verbunden waren regelmäßig Exekutivmaßnahmen, die vor allem der Ein-
schüchterung dienten wie vorläufige Festnahmen, Hausdurchsuchungen, erkennungsdienstliche Behandlungen mit Fingerabdrücken und Polizeifotos, die dann meist den nichtsahnenden Eltern zum „Wiedererkennen“ vorgezeigt wurden. Schon am Tage nach den Auseinandersetzungen vor dem Springer-Auslieferungslager begann Rolf Pohle, damals noch Rechtsreferendar, in seinem Appartement in der Karl-Theodor-Straße mit dem Anlegen von Listen der Festgenommenen, dem Sammeln von Zeugen und dem Versuch, systematisch zu erfassen, was in den vergangenen drei Tagen vor sich gegangen war. Wie es zu den zwei Toten, dem Pressephotographen Klaus Frings von Associated Press und dem Studenten Rüdiger Schreck kam, ist bis heute nicht restlos geklärt. Klar war, dass von der Polizei keine objektiven Ermittlungen zu erwarten waren. Wir mussten selber versuchen, möglichst viel zu erfahren. So entstand die Rechtshilfe der APO, an der ich mitarbeitete.
Wie würdest Du das politische Klima in der Bundesrepublik Deutschland und in München Ende der 60er Jahre charakterisieren?
Es ist aus dem Abstand von fast dreißig Jahren schwer, mein damaliges Lebensgefühl zu schildern, ohne in haltloses Schwärmen zu geraten. Am Ende der sechziger Jahre waren in der engen, spießi-
gen, stockkonservativen Bundesrepublik eine Anzahl von Universitäts-Biotopen entstanden. In ihnen brach auf, was jahrelang politisch und privat unter dem Teppich gehalten worden war … Vietnam-Demos, Entlarvung von NS-Vätern (wie Suche nach Ersatz-Vätern) und Kommune I gehörten zusammen, erst später zerriss dieser Zusammenhang. Ich habe niemals zuvor und nie-
mals später wieder so „öffentlich“ gelebt. Bezeichnend, dass ich damals keinerlei Gedanken an Urlaub hatte. Aus dieser Beschäftigung mit öffentlichen Angelegenheiten resultierte die Praxis
der Rechtshilfe. Für mich übrigens die erste Ahnung, dass es etwas Sinnvolles mit dem gelernten Jurastudium anzufangen gab. Bis dahin hatte ich nicht gewusst, welchen Beruf ich ergreifen sollte. Dieses studentenbewegte Lebensgefühl war real und ich denke auch heute noch, dass es jede Menge Aus- und Nachwirkungen gehabt hat. Illusionär war die Verwechslung unseres Biotops mit der Situation der Gesamtgesellschaft. Aus dieser „Betriebsblindheit“ erklärt sich ein Großteil der späteren Irrwege von Marxismus/Leninismus (ML) – Gruppen bis zur Rote Armee Fraktion (RAF).
Um 1968 – 1970 arbeiteten in der Rechtshilfe Rolf Pohle und Rolf Heißler, Brigitte Mohnhaupt und die ehemalige Freundin von Fritz Teufel, Irmgard Möller, mit. Wie habt Ihr Euch damals organisiert, wie funktionierte diese Rechtsstelle?
Da alle Probleme mit Polizei und Justiz hatten oder erwarteten, war die Rechtshilfe bald ein Sam-
melpunkt für unterschiedlichste Aktivitäten. Wir versuchten so zu arbeiten, dass jeder mitmachen konnte, auch ohne Fachkenntnisse. Zu uns kamen die Leute nach Polizeikontakten, wir nahmen ihren Fall auf, vermittelten sie an Anwälte unseres Vertrauens, wenn das nötig war oder berieten sie selbst, wenn das ging. Wir besorgten Kontakte zu Mitbetroffenen und Leuten, die als Zeugen in Betracht kamen. Das wichtigste war, dass in der Rechtshilfe die Vereinzelung des der Staatsgewalt Ausgesetzten aufgehoben und damit die Angst, die die Vereinzelung auslöst, abgebaut wurde. Da wir gezwungen waren, unsere in Akten gelagerten Informationen zu verbinden, probierten wir so etwas wie einen „Stricknadel-Computer“. Die Informationen wurden auf Kartei-Karten übertragen, die nach einem Lochsystem in Hollerith-Art gekennzeichnet wurden. Suchte man Zusammenhän-
ge, nahm man eine Stricknadel und führte sie durch die nach Stichworten geordneten Löcher in den Karten. Auf den Karten, die an der Stricknadel hängen blieben, fanden wir die Hinweise auf die in den Akten verstreuten Informationen, die wir suchten. Die Rechtshilfe tagte offen ohne Konspiration und Datenschutz. Merkwürdigerweise kam es zu keinen Polizeieinsätzen gegen uns. Wohl hatten wir gegen allzu großzügige Eigentumsbegriffe einiger Besucher zu kämpfen.
Wann eskalierte die Situation von der Protestaktion zur bewaffneten Aktion der Stadtguerilla? Ein Teil der Mitarbeiter der Rechtshilfe zählte später zur ersten Generation der RAF, wie die wegen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung und Waffenvergehen angeklagten Rolf Heißler, Irmgard Möller, Brigitte Mohnhaupt („Tupamaros“) und sogar Rolf Pohle.
Nach Ostern 1968 war klar, dass wir eine Minderheit waren und dass wir heraus aus der Uni mussten, wenn wir etwas verändern wollten. Die Konsequenzen, die aus dieser Einsicht gezogen wurden, waren unterschiedlich mit den bekannten Folgen.
Die Überreaktion von Staat und Verfassungsorganen, der Neuaufbau des BKA und die überwie-
gend negative Berichterstattung in den Medien demoralisierte und polarisierte wohl die Betrof-
fenen? Auffällig sind Solidaritätsaktionen mit Inhaftierten, Ausgewiesenen und mit Dritte Welt-
Stellvertretern. Februar 1969 besetzten Studenten der Basisgruppe das Institut für Zeitungs-
wissenschaft in München in Solidarität für den mit Ausweisung bedrohten persischen Schrift-
steller Bahman Nirumand. 43 Studenten, darunter Rolf Heißler (Fachschaftssprecher), Gerd Conradt, Katrin Seybold, Irmgard Möller, Brigitte Mohnhaupt, Fritz Teufel, Wolf Schimmang und Hans-Jürgen Gießler, werden arrestiert. Juli 1969 kam es zum solidarischen Protest Münchner, Berliner und italienischer Genossen in der Knast-Woche/Camp Ebrach (mit Ensslin/
Baader, Teufel, Kunzelmann u.a.) gegen die Haftverbüßung des Studenten Reinhard Wetter, die zu Verhaftungen im Landratsamt Bamberg und Beschlagnahmung von Filmen führte.
Nach 1969 häuften sich die existentiellen Folgen für diejenigen, die zufällig oder gezielt herausge-
griffen worden waren: Münchner Gerichte verhängten Haftstrafen wegen Sitzblockaden (Nöti-
gung) und gewaltsamer Demonstrationen (z.B. Steinwürfe aufs Amerika-Haus). In die beginnende Entsolidarisierung fiel 1970 die Amnestie der ersten Regierung Brandt/Scheel für Demonstrations-
delikte. Sie betraf allein in München sicher Hunderte von Menschen. Viele waren froh, davonge-
kommen zu sein.
Die Mitglieder der Kommune I waren häufiger in den Medien und so etwas wie Medienstars. Was für ein Verhältnis hattet Ihr zu Zeitungen und Fernsehen?
Unser Verhältnis zu den Medien war gespalten. Wir brauchten sie einerseits und fühlten uns zugleich manipuliert. Als Franz Alt 1970 im Auftrag von „Report“ einen Film über die Münchner Anarcho-Szene drehen wollte, kam er in die Rechtshilfe. Wir waren inzwischen im Gebäude des AStA, Leopoldstraße 15, untergebracht, der wieder ein linker AStA war. Wir trafen mit Alt also folgende Vereinbarung: 1. keine Interviews, um keine Star-Allüren zu fördern, 2. Alt kann filmen, was er will, aber wir formulieren einen Text, der aus dem Off gesprochen wird (Anne Gaugel).
3. Damit keine nachträglichen Schnitte passieren, unterlegen wir unseren Text mit einer durch-
gängigen Musik (das war Umma Gumma von den Pink Floyd). Wenn ich recht erinnere, wurde der Beitrag in „Report“ gesendet, ungeschnitten!
Gab es Anzeichen für die Radikalisierung der linken Szene und die Eigendynamik des „politischen“ Kampfes der RAF Anfang der 70er Jahre?
In der Münchner Rechtshilfe trafen sich Wim Wenders mit Fritz Teufel und Brigitte Mohnhaupt mit Reinhard Wetter, Inga Möller und Rolf Heißler und viele, viele Unbekannte, die heute in Ministerien und Gerichten, in Universität, Fachhochschulen, Arztpraxen und Anwaltskanzleien sitzen. Die Studentenbewegung war antiautoritär, links und noch ungespalten. Die Erkenntnis, dass es als studentische Bewegung allein nicht weitergehen würde, führte dann zu den verschie-
denen Ausbruchsversuchen aus dem Uni-Ghetto: den Parteigründungen von Deutscher Kommu-
nistischer Partei (DKP) bis Kommunistischer Partei Deutschland (KPD/AO und KPD/ML) und Kommunistischer Bund Westdeutschland (KBW), in München außerdem dem Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD, der von früheren SDS-lern gegründet wurde, Münchner Ablegern der italienischen (antistalinistischen) kommunistischen Gruppen wie Lotta Continua und natürlich – für München ziemlich wichtig – der Arbeitskonferenz (AK), geteilt in Nummer 1 und Nummer 2. Daneben existierte eine undogmatische linke antiautoritär-spontane Szene fort, deren Sprachrohr später das „Blatt“ wurde. Alle diese vielen „Szenen“ radikalisierten sich bis zu dem Punkt, wo sie offenbar scheiterten. Die Entwicklung dieser Gruppen, die ja auch voller spannender Geschichten ist, sollte endlich mal geschrieben (oder verfilmt?) werden. Die Frankfurter Spontis sind uns auch da wieder mal voraus. Zu der RAF-Frage: wir konnten natürlich nicht wissen, dass Rolf Heißler und Brigitte Mohnhaupt einmal bei der RAF landen würden. Allerdings erinnere ich sehr genau, dass ca. 1970 ziemlich offen darüber diskutiert wurde, ob der von Carlos Marighela propagierte Weg der Stadtguerilla und des bewaffneten Kampfes in den Metropolen für uns akzeptable Alter-
nativen darstellten. Solche Diskussionen fanden keineswegs klandestin statt, sondern mit 30 – 40 Leuten in einem quasi öffentlichen Lokal in der Barerstraße in München. Die Mehrheit war übri-
gens dagegen, auch ich. Ich erwähne diese Begebenheit, um darzustellen, dass Gruppen wie RAF und 2. Juni selbstverständlich ebenso legitime Kinder der Studentenbewegung sind wie Helge Sommerrocks Arbeiterbund oder Christian Semlers KPD/AO (und last – but not least – Gerhard Schröders Jusos).
Gegen Rolf Pohle fand seit 22. Mai 1969 ein Indizienprozess wegen Landfriedensbruch und Nöti-
gung (Sitzstreik und Barrikadenbau am Karfreitag 1968) statt. Pohle tauchte 1973 unter. Im Dezember wurde er gefasst und Du hast in diesem Vorläufer-Prozess des Stammheimer Prozesses als Wahlverteidiger Freispruch verlangt. Ihr ward damals vor dem zweiten Staatsexamen alle Mitarbeiter in der Rechtsanwaltskanzlei Eggert Langmanns in der Belgradstraße in München, ein „Sozialistisches Anwaltskollektiv“. Was zeigte der „Fall Pohle”?
Rolf Pohles Geschichte ist in vieler Hinsicht exemplarisch: In den frühen sechziger Jahren war er als Vorstandsmitglied des LSD mitverantwortlich für dessen Lösung von der FDP und engere Verbindung mit der linken SPD. Er ging auf Distanz, als die SPD Teil der großen Koalition wurde. Als ich ihn 1967 kennenlernte, war er gerade AStA-Chef geworden. Er hatte kein geschlossenes dogmatisches Weltbild, sondern argumentierte moralisch und radikaldemokratisch mit großer Wirkung auf Studenten und Professoren, welche zum Teil hysterisch auf seine Provokationen reagierten. Er sprach beispielsweise die – jedem bekannte – NS-Vergangenheit von Universitäts- und Staatshonoratioren direkt in ihrer Gegenwart an, entfachte Solidaritätskampagnen mit gefährdeten persischen und griechischen Studenten, denen die Auslieferung in ihre Verfolger-
staaten drohte und distanzierte sich nicht von den gewaltsamen Aktionen der Oster-Demonstran-
ten 1968. In Untervollmacht von Rechtsanwalt Eggert Langmann verteidigte Pohle als Rechtsre-
ferendar selbst Demonstranten. Er tat dies so spektakulär und juristisch kreativ, dass er zweifellos eine Karriere als Strafverteidiger hätte machen können. Dies verhinderte zunächst sein eigenes Strafverfahren „wegen schweren Landfriedensbruchs“. Ausgelöst durch die Anzeige eines CSU-Ri-
valen im Studentenparlament (er landete später unter ferner liefen in der Parteihierarchie), erhob die Staatsanwaltschaft Anklage gegen Pohle mit der Beschuldigung, er habe aktiv an der Blockade der Barerstraße Ostern 68 teilgenommen. Auf einem Polizeifilm wollte man ihn als Schatten er-
kannt haben, wie er eine Tonne zu einer Barrikade gerollt habe. Dies reichte dem Amtsrichter (er sitzt heute auf dem Abstellgleis) zu 15 Monaten Haft ohne Bewährung. Darauf gestützt verweigerte das Justizministerium die Zulassung zum 2. Juristischen Staatsexamen. Diese Frühform der erst von der Brandt/Scheel-Regierung eingeführten Berufsverbote (Radikalenerlass) war 1970 noch rechtswidrig. Wir klagten dagegen und gewannen. Pohle konnte schließlich am Examen teilneh-
men und fiel mit dem knappsten aller Ergebnisse durch. Er machte von der Möglichkeit, das Examen zu wiederholen, nicht mehr Gebrauch. Seine Verurteilung wurde ironischerweise amnestiert.
Wie behandelten Euch, die Strafverteidiger von sogenannten Staatsfeinden, der RAF, die Standesvereinigung, Gerichte und staatlichen Stellen? Gab es so etwas wie Identifizierung von Mandant und Verteidiger?
Rolf Pohle ging in den Untergrund, wie man damals so schön sagte. Nach ihm wurde mit Steck-
brief und TV-Bild als RAF-Terrorist gefahndet und Dezember 1971 wurde er festgenommen. Zwei Jahre saß er im ehemaligen Zuchthaus Straubing in Isolierhaft ohne Kontakte zu Mitgefangenen, und mit täglichen kleinen Haftschikanen. Im Herbst 1973 begann vor der Staatsschutzkammer des Münchner Landgerichts der Prozess gegen ihn wegen Unterstützung der RAF. Er sollte – laut Anklage – Waffen und Wohnungen für die RAF beschafft haben. Nach mehr als 50 Verhandlungs-
tagen trat ein Kronzeuge der Staatsanwaltschaft auf, der behauptete, Pohle habe nur kurz zur RAF gehört und sich dann distanziert. Obwohl die Beweislage dünn war – von den Waffenverkäufern bzw. Vermietern wurde er im Prozess nicht erkannt – lautete das Urteil auf 6 Jahre und 6 Monate Haft. Für mich war dieser erste größere RAF-Prozess – ein Vorläufer für Stammheim – der erste große Prozess als Strafverteidiger überhaupt. Ich war seit Mai 73 als Anwalt zugelassen. Zum Glück waren die juristischen Sitten damals noch nicht so verludert wie später in Stammheim. Der Münchner Vorsitzende mit dem Spitznamen „Nasen-Mayer“ bestellte nicht nur mich sondern auch die beiden anderen Wahlverteidiger Frank Niepel und Eggert Langmann zu Pflichtverteidigern, so dass wenigstens eine Minimalfinanzierung gesichert war. „Nasen-Mayer“ hob übrigens auch die Isolierhaft Pohles in den ersten Prozesstagen auf, obwohl der Angeklagte sich nicht gerade koope-
rativ verhielt. So äußerte sich Rolf Pohle nicht zu seiner Anklage, was uns Verteidiger in die schwierige Lage brachte, uns zu den politischen Motiven äußern zu müssen (oder wir glaubten das). Das brachte uns prompt eine Anklage beim Ehrengericht für Rechtsanwälte ein, wie auch allen anderen Verteidigern von sogenannten Terroristen in dieser überreizten, hysterischen Zeit. Das Verfahren gegen uns wurde erst 1976 oder 1977 eingestellt. Man erkannte dann erst an, dass wir nichts weiter getan hatten als zu versuchen, ordentlich zu verteidigen.
Ihr gehörtet zur ersten Strafverteidigergeneration der RAF wie Horst Mahler, Otto Schily und Hans Heinz Heldmann, die im Kaufhausprozess und in Stammheim Wahlverteidiger waren. Was hatte es mit der sogenannten Blockverteidigung und der dann eingeführten Mandatstrennung auf sich, die noch heute gültig sind (vgl. TAZ-Gespräch vom 4. August 1997 mit dem heutigen Bundesjustizminister Schmidt-Jortzig, FDP)?
In der unangenehmen Lage, durch die Verteidigung eines „Staatsfeindes No 1“ selbst wie ein Staatsfeind behandelt zu werden, half damals ein bewährtes Rezept aus APO-Zeiten: mit anderen Betroffenen sich treffen und austauschen. So entstand die „Bundesliga“, ein unregelmäßiger Treff von Strafverteidigern in politischen Staatsschutzverfahren …
Petra Kraus/Natalie Lettenewitsch/Ursula Saeckel/Brigitte Bruns/Matthias Mersch (Hg.), Deutschland im Herbst. Terrorismus im Film, München 1997, 102 ff.