Materialien 1972

Eine qualitativ neue Sache ...

war da die Pantomime von Alberto Vidal aus Mailand. Alle Nationalitäten waren beteiligt. Die stumme Darstellung des Lebensablaufs eines Fabrikarbeiters konnte die Multinationalität garantieren wie kein anderes Fest. Alle fühlten sich erkannt und angesprochen. Er schilderte mit Akrobatik und Clownerie den Arbeitstag, den Konsum, das Wochenende, das misslungene Liebeserlebnis und schließlich den Ausbruch und Kampf. Die Arbeiter waren begeistert – es war ihr Stück. Sie rissen sich um Diskussionsbeiträge, die allerdings noch ziemlich allgemein blieben: „Solche Veranstaltungen müssen wir öfters machen – bei einer Gruppe, die so etwas macht, werde ich alle Aktionen mitmachen – das war heute ein Anfang für eine Verständigung unter den verschiedenen Nationalitäten – wir müssen alle zusammenhalten …“ Die Diskussion hätte konkreter auf Betrieb und Aktionen gerichtet sein können, wenn wir versucht hätten, sie darauf zu lenken; aber wir waren auf so eine Bereitschaft zu reden nicht vorbereitet; wir waren uns unsicher, ob eine Diskussion überhaupt zustande kommen würde.

Die Vorbereitung zum 1. Mai 1972 wurde durch zwei unterschiedliche Positionen bestimmt. Wir, das sind die Deutschen, Jugoslawen und Griechen, dachten daran, nur ein großes Arbeiterfest zu machen. Unsere Erfahrung mit den hunderttausend Trauermärschen, die in den letzten Monaten und Jahren die Stadt durchwandert hatten, machte uns skeptisch gegenüber diesem Mittel der „Machtdemonstration“. Lieber, meinten wir, nur ein gutes Fest als ein Demonstrationsreinfall. Außerdem soll der 1. Mai zusammenfassend die Kämpfe und Inhalte der Klasse, und zwar mög-
lichst massenhaft zum Ausdruck bringen. Wir glaubten, nicht mehr als ungefähr zweihundert bis dreihundert Leute auf die Beine zu bringen. Eine solche Demonstration wäre eine Demonstration der Ohnmacht. Ein Fest würde zur Verfestigung der Gruppe nach innen beitragen, das Gefühl von Solidarität vermitteln.

Die italienischen Genossen bestanden von vorneherein auf einer Demonstration. Sie sagten, dass ein Fest möglicherweise mehr Arbeiter anzieht, aber im wesentlichen auch nur die, die wir sowieso schon kennen. Wir haben Kampferfahrungen gemacht, haben Inhalte entwickelt, die im Betrieb verankert sind. Wir müssen das auch nach außen zeigen, wir müssen den revisionistischen Gruppen etwas entgegensetzen, auch wenn wir noch nicht sehr viele sein werden. Auf einem Fest würden wir uns nur selbst bestätigen. Wir können öffentlich zeigen, dass wir einen Grad der Vereinheitlichung von deutschen und ausländischen Arbeitern erreicht haben. Auch ist es für die Emigrati wichtig, nach außen zu beweisen, daß sie nicht bereit sind, alles hinzunehmen und dass sie bereit sind, mit den deutschen Arbeitern zu kämpfen.

Wir einigten uns darauf, sowohl ein Fest als auch eine Demonstration zu machen, wobei das Fest sozusagen als Anreiz einen Tag vorher stattfinden sollte. Wir verteilten Flugblätter an allen größeren Fabriken und in allen Sprachen. Wir machten darin Aussagen zur Lohnfrage, zum Akkord, zur gesundheitsschädlichen Arbeit, zu den Betriebsunfällen, zu den Überstunden, zur Kurzarbeit, zu den Kontrolleuren und Meistern, zum gemeinsamen Kampf von Ausländern und Deutschen, von Frauen und Männern, Alten und Jungen, zu den Preisen, Verkehrsproblem, zu den Mieten und zur Gewerkschaft und den Betriebsräten. Diesen Aussagen stellten wir lauter konkrete Beispiele unseres Kampfes im jeweiligen Bereich und wenn es auch nur ganz kleine Beispiele waren, gegenüber. 365mal im Jahr Kampftag der Arbeiter. Wir vertreten uns selbst.

Viele Genossen waren verunsichert: (die Demonstration wird ja doch nichts) und kamen erst gar nicht. Trotzdem wurde sie ein Erfolg. Der Zug führte ausgehend von einem Arbeiterviertel in die Innenstadt. Vorher hatten wir auf der Strecke unsere Zeichen gesetzt: Auf Mauern: Akkord ist Mord, auf einem leerstehenden Haus: Dieses Haus steht leer, wir brauchen es! Auf ein Arbeiter-
wohnheim: Gefängnis … Der Zug machte jeweils Halt und konzentrierte Sprechchöre und Lieder auf diese Punkte. Unser anfänglich mickriges Häufchen erweiterte sich unterwegs auf Sieben-
hundert. Viele schlossen sich uns an. Sie fühlten sich von unserem Flugblatt, von unseren Parolen und Liedern angesprochen.

Und unser Fest am Tag vorher.

Wir hatten ein Programm vorbereitet, das jede Nationalität berücksichtigte. Es war nicht durchzuhalten. Anfangs berichtete ein italienischer Arbeiter, der die italienischen Klassenkämpfe aktiv miterlebt hatte, über die Anfänge der Kämpfe und zog Parallelen zur deutschen Situation. Die Rede konnte nicht in alle Sprachen übersetzt werden und als gleich darauf noch Pino Masi seine Kampflieder vortrug, fühlten sich die anderen Nationalitäten auch schon übergangen. Vom Erlebnis für die sechshundert Arbeiter, Studenten und Lehrlinge war es alles in allem aber ein riesiger Erfolg. Der scheinbare organisatorische Misserfolg war eigentlich dem spontanen und autonomen Eingreifen in das Programm zu verdanken. Eine türkische Tanzgruppe von Arbeitern brachte Volkstänze, ein Sizilianer sang und mimte kabarettistische Lieder, griechische Arbeiter tanzten zur Lyra, eine tunesische Arbeiterin wagte sich auf die Bühne und tanzte für alle, ein Grieche spielte Lieder von Theodorakis, eine Gruppe von Türken sang total falsch, aber umso intensiver revolutionäre Lieder, der ganze Saal stand auf Tischen und Stühlen, brüllte, sang und tanzte … Jede Nationalität hielt kurze politische Reden, aber im Gegensatz zur Pantomime kam es zu keiner Diskussion. Im Kleinen und auch nur teilweise zeigte sich etwas, was wir proletarische Kultur nennen: die Arbeiter griffen in den Verlauf des Festes ein, nahmen teil an den – oft auch dilettantischen- Beiträgen der anderen Nationalitäten, die einer andern Kultur und Tradition entspringen; die Arbeiter waren Subjekt und nicht einfach Konsument.


Was wir brauchen, müssen wir uns nehmen. Multinationale Betriebs- und Regionsarbeit der Gruppe Arbeitersache München, München 1973, 167 ff.