Materialien 1972

Wir wollen alles!

Die operaistische „Gruppe Arbeitersache“ in München 1969 bis 1973
Was wir brauchen, müssen wir uns nehmen.

Die Gruppe Arbeitersache München (GAS) bildete sich Ende 1969 und bestand zunächst aus einem kleinen Kern von deutschen und griechischen ArbeiterInnen und Studierenden. Den Aktiven aus der studentischen Linken – die in der Sozialrevolte von 1967/68 entstanden war – wurde zu dieser Zeit klar, dass eine isolierte Studierendenbewegung die Gesellschaft nicht grundsätzlich verändern würde. In der GAS fanden sich schließlich diese studentischen Aktiven mit Lehrlingen und jungen ArbeiterInnen zusammen und konzentrierten sich fortan auf die politische Arbeit außerhalb der Universität. Es entstanden die Mieterselbsthilfe, die Arbeiterbasisgruppen – unter anderem im Hasenbergl, einem proletarisch geprägten Viertel im Münchner Norden – sowie Gruppen zur Betriebsagitation beispielsweise bei BMW. Eine weitere Rolle bei dem Zustandekommen der Gruppe Arbeitersache spielten erste Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit proletarischen Menschen aus den sogenannten Randgruppen, hier vor allem mit „Zöglingen“ aus Erziehungsheimen. Für die AktivistInnen der Arbeitersache erwiesen sich zudem die Verbindungen zu griechischen GenossInnen als äußerst wichtig, da dadurch die BMW-Intervention von Anfang an eine multikulturelle Initiative war. Die erste BMW-Betriebszeitung mit dem Titel „Arbeitersache“ erschien übrigens im Frühjahr 1970 und zwar auf deutsch, griechisch, türkisch und jugoslawisch. Organisatorisch entschloss sich die GAS zunächst, in die „Arbeiterbasisgruppen“ einzutreten, einer für die damalige Zeit typischen und aus der 68er-Bewegung entstandenen sogenannten Zirkelorganisation.

Erste politische Positionen wurden im Herbst 1969 formuliert: Im Gegensatz zur Vietnamsolidarität, stellt das Emigrationsproblem einen viel besseren, weil konkreteren praktischen Ansatzpunkt für den internationalen Klassenkampf dar; Untersuchung und Einordnung der Strategie des BMW-Kapitals bzw. der Unternehmensleitung sowie die Vermittlung der unterschiedlichen kapitalistischen Entwicklungen in den jeweiligen Herkunftsländern der migrantischen ArbeiterInnen.

Den Himmel stürmen

Die operaistischen Gruppen in der BRD (Arbeitersache/München; Revolutionärer Kampf/Frankfurt; Proletarische Front/Hamburg; Arbeiterpolitik/Bremen; Arbeiterkampf/Köln) waren die ersten, die mit den migrantischen ArbeiterInnen den Klassenkampf gemeinsam führen wollten. Dabei wurden zwei Kampfgebiete als zentrale Bereiche des antikapitalistischen Kampfes bezeichnet: Die Betriebe sowie der Reproduktions- und Freizeitbereich. Bei letzterem sollte es um die Entfaltung der proletarischen bzw. migrantischen Gegenwehr in den Wohngebieten, also in den sogenannten Ausländervierteln gehen. Denn neben den Kämpfen in den Betrieben und Fabriken waren für die ausländischen Arbeitskräfte auch ihre Wohnverhältnisse und die Ausbildungssituation ihrer Kinder ein wichtiges Problem. Ein weiteres Merkmal des Operaismus war dessen Orientierung auf die untersten Schichten des Proletariats, beispielsweise unqualifizierte und ungelernte ArbeiterInnen.

Lotta Continua

Ab Winter 1970/71 nahmen GenossInnen der linksradikalen Gruppe „Lotta Continua“ (LC) aus Italien Kontakte zur Arbeitersache in München auf. Dies führte unter anderem zur wachsenden Bedeutung des Begriffs „Autonomie“ sowie des Konzepts des „Angriffs auf die kapitalistische Organisation der Produktion“. Einhergehend mit dem Diskussionsprozess zwischen LC und GAS entwickelte sich die Betriebsgruppe bei BMW tatsächlich zu einer multinational zusammengesetzten durch deutsche, griechische, italienische, türkische und jugoslawische ArbeiterInnen. Die Flugblätter dieser Betriebsgruppe wurden vorher auf Versammlungen diskutiert, wobei es sowohl zu nach Herkunftsländern getrennten Treffen kam als auch zu gemischten Plena. Bei BMW erschien zusätzlich noch eine Betriebszeitung, die anfangs vor allem die Untersuchungstätigkeit der Gruppe über die Bedingungen in der Fabrik dokumentierte, und später auch der Aufarbeitung von Aktionen diente. Im Frühjahr 1971 bildete sich eine weitere Betriebsgruppe und zwar bei MAN, wo viele italienische ArbeiterInnen beschäftigt waren. Zuerst thematisierte sie das dringendste Problem bei MAN, nämlich die Gesundheitsgefährdung. Darauf folgte die sogenannte Wohnheimkampagne, da die ausländischen ArbeiterInnen in barackenähnlichen Wohnheimen kaserniert waren und somit auch ihre Reproduktionssphäre unmittelbar dem kapitalistischen Kommando unterworfen war. 30 Prozent der MAN-ArbeiterInnen waren in solchen Wohnheimen untergebracht. Im April 1971 begangen die ersten Versammlungen unter freiem Himmel in der Nähe der Wohnbaracken Gerberau, an denen auch ArbeiterInnen des Wohnheimlagers Ludwigsfeld teilnahmen. Es versammelten sich bis zu 300 ArbeiterInnen, die meisten mit migrantischem Hintergrund, um über Aktionsmöglichkeiten zu beraten. Bei den offenen Treffen tauchten jedoch auch Werkschutzleute als Beobachter auf. Aus den Versammlungen gingen schließlich Arbeiterkomitees hervor.

Arbeiterautonomie

Mittlerweile hatte die Gruppe Arbeitersache München die politische Theorie und Praxis der italienischen OperaistInnen – zusammengefasst in dem Begriff „Arbeiterautonomie“ – übernommen. Diese neo-marxistische Bewegung war in den proletarischen Kämpfen in Italien und Frankreich durch die Loslösung von den großen revisionistischen KPs bzw. Gewerkschaften entstanden. Autonomie bedeutet in diesem Zusammenhang die Fähigkeit der Arbeitenden ihre Interessen in den Vordergrund zu stellen und nicht diejenigen der Produktion, UnternehmerInnen oder des Standortes. Die ProletarierInnen sollen handelnde Subjekte werden und aus ihrer Rolle als Objekte, als Ware Arbeitskraft heraustreten. Sie sollen die gewerkschaftlichen Kämpfe in ihrer Ventilfunktion überwinden und sich selbst radikal gegen die Lohnarbeit stellen. Es geht den OperaistInnen um die Zerstörung der kapitalistischen Arbeitsorganisation mit ihrer extremen Arbeitsteilung und ihrer Profitorientierung. Ein weiteres Merkmal des Operaismus ist die betriebliche Untersuchungsarbeit, die später in Deutschland als „militante Untersuchung“ bezeichnet wurde: Die GAS führte deswegen statistische Erhebungen aus den einzelnen Abteilungen durch und sorgte für Einschätzungen über das Bewusstsein der ArbeiterInnen, um so Konfliktmöglichkeiten ausloten zu können. Bei BMW arbeiteten damals etwa 18.000 Beschäftigte, davon 12.000 ArbeiterInnen. Der Hetze und Enge am Band waren vor allem die MigrantInnen unterworfen, da 90 Prozent der BandarbeiterInnen zu dieser Zeit einen migrantischen Hintergrund aufwiesen. Die AktivistInnen der GAS handelten nicht nur innerhalb der Fabriken, sondern ebenso von außen. Externe ArbeiterInnen und Studierende gingen bei BMW und MAN ständig vor die Fabriktore und in die Wohnheime, um dort zu agitieren und um Kontakte und Bekanntschaften zu knüpfen sowie gemeinsam mit den internen ArbeiterInnen zu essen, zu feiern und Veranstaltungen abzuhalten.

Fabrik und Stadtteil

Im Laufe des Jahres 1971 führte die GAS eine Akkordkampagne bei BMW und eine Wohnheimaktion bei MAN durch. Die Kampagne bei BMW stand unter dem Motto: „Kampf gegen den Akkord heißt gegen den Kapitalismus und für die Gesundheit kämpfen“. Dazu wurde eine Zeitung erstellt und verteilt sowie mehrere Versammlungen in einer Gaststätte in der Nähe von BMW organisiert. Ein von Lotta Continua getragener und von der GAS unterstützter Streik bei BMW Ende Mai/Anfang Juni 1972 endete in einer Niederlage. Italienische Vertragsarbeiterinnen kämpften dabei um einen besseren und vertragsgemäßen Arbeitsplatz, mussten jedoch nach Abbruch des Streiks Entlassungen hinnehmen. Zu dieser Zeit rückte das zweite Kampfgebiet – der Reproduktionsbereich – stärker in den Fokus. Dies äußerte sich beispielsweise durch eine Hausbesetzung in der Trogerstraße im Sommer 1972, aber auch durch allgemeine Überlegungen zur Wohnsituation. Die Studierenden der GAS lebten bisher in Wohngemeinschaften meist in Schwabing, bevor sie sich im Herbst 1972 dazu entschlossen, mit ihren WGs in die Arbeiterviertel im Münchner Norden, vor allem nach Milbertshofen (BMW), zu ziehen. Dort organisierten sie schließlich proletarisch-multinationale Feste in Arbeiterkneipen, auf denen gemeinsam gegessen, gesungen, getanzt und diskutiert wurde. Gleichzeitig verließ die GAS auch ihre alte Bleibe in der Stadtmitte und zog in ein neues Zentrum in Milbertshofen, etwa 500 Meter von BMW entfernt. Dort fanden Feste statt, und es wurden Versammlungen und Gruppentreffen abgehalten.

Der internationale 1. Mai

Den internationalen Kampftag der Arbeiterklasse feierte die Gruppe Arbeitersache München ihrem Politikverständnis gemäß mit vielen migrantischen ProletarierInnen zusammen. 1972 wurde dabei in einem Saal ein multinationales Fest mit ca. 600 Beteiligten durchgeführt. Auf dem Fest trat neben einer türkischen Tanzgruppe, einem sizilianischen kabarettistischen Liedermacher, einem griechischen Theodorakis-Interpreten auch noch ganz spontan eine tunesische Arbeiterin auf, die die Bühne außerplanmäßig enterte und für alle tanzte. Ein Jahr später organisierte die GAS am 1. Mai im Stadtteil Milbertshofen ein ArbeiterInnen- und Kinderfest und führte eine eigenständige Demonstration durch. Als Motto wählte sie: „1. Mai – Tag gegen die Arbeit – Wir wollen leben!“

Die Waffen der Kritik

Die praktische Politik der GAS in den Fabriken stieß nicht bei allen Linksradikalen, die bei BMW arbeiteten, auf ungeteilte Zustimmung. In der Zeitschrift „Probleme des Klassenkampfs“ Nr.7 vom Mai 1973 legte eine marxistische Betriebsgruppe bei BMW ein Kritikpapier zur Gruppe Arbeitersache München vor. Ausgehend von dem verlorenen Kampf der italienischen VertragsarbeiterInnen im Frühjahr 1972 bei BMW; entwickelte sie folgende Kritik an der GAS: Der Hass allein auf das Fließband führt noch nicht automatisch zu kollektiven Aktionen gegen das Band. Das Agieren vor den Fabriktoren ist oft recht abgehoben und das Hineinplärren von Aktionsaufrufen in den Betrieb ist meist zum Scheitern verurteilt. Die autonomen Organe der Arbeitermacht (Gruppen, Versammlungen, Komitees, etc.) überdauern nur selten den spontanen Konflikt und fallen somit als betriebliche Kerne, die weiterhin agieren können, aus. Der Begriff „Autonomie“ mündet in Beliebigkeit und soll mitunter die eigene Strategielosigkeit verschleiern. Die verschiedensten Konflikte werden von der GAS zu einem exemplarischen Kampf konstruiert und daraus ein verallgemeinbarer Handlungsablauf abgeleitet, was aber in den seltensten Fällen gelingt.

Roman
ALLGEMEINES SYNDIKAT MÜNCHEN


Direkte Aktion München. Zeitung für kämpferische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit zum 1. Mai 2010, 6.