Materialien 1972
Das Zwangsersatzfach „Ethik“
Der Religionspädagoge Gert Otto stellte 1994 fest: Bei der Einführung des Faches Ethik hätten wir den „einmaligen Fall in der Schulgeschichte, dass ein Fach nicht aus didaktischen sondern aus schulrechtlichen Überlegungen eingeführt worden ist“ … Ein solcher Werteunterricht wurde erstmals 1946 in der Bayerischen Verfassung vorgesehen; auch die Verfassung von Rheinland-Pfalz, „die wohl eine vollkommene Verwirklichung des katholischen Verfassungsideals darstell-
te“ …, kennt eine solche Möglichkeit (Art. 35 Abs. 2). Von ihr wurde allerdings Jahrzehnte lang kein Gebrauch gemacht.
Anfang der siebziger Jahre ging das Interesse am Religionsunterricht dramatisch zurück. Ange-
sichts der Abmeldungen besann man sich in Bayern 1972 auf diesen Artikel der Verfassung. In dem Maße, in dem die Abmeldungen vom Religionsunterricht zunahmen, führten immer mehr Bundes-
länder einen solchen „Ersatzunterricht“ ein: „Ihn müssen alle SchülerInnen besuchen, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen. Es unterliegt keinem Zweifel und kann belegt werden, dass die Kirchen die treibende Kraft waren.“ … In der bildungspolitischen Diskussion der siebziger Jahre spielte ein solcher Unterricht keine Rolle. Dass er gleichwohl in kürzester Zeit in den meisten Bundesländern als für all jene verpflichtend eingeführt wurde, die den Religionsunterricht nicht besuchten, erklärt sich aus der Tatsache, dass es sich nicht um einen bildungspolitischen, sondern rein kirchenpolitischen Vorgang handelt, bis hin zu der bis dahin unbekannten Rede vom „Ersatz-
fach“. Zudem wird dieser Unterricht nur dort erteilt, wo er die ihm zugedachte Abschreckungs-
funktion erfüllen kann. Findet kein Religionsunterricht statt, etwa wegen Religionslehrermangels, wird auch kein Ethikunterricht angeboten. „Nicht die Qualifikationsfunktion, sondern die Ab-
schreckungsfunktion war und ist wichtig.“ …
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung formulierte die Zielvorstellung des damaligen bayerischen Kultusministers Hans Maier eindeutig: „Der Vorsatz war, im Fach Ethik eine gewisse Strenge walten zu lassen. Der Hintergedanke war, damit dem Religionsunterricht einen Dienst zu erweisen. Der … Jugendliche sollte erkennen, dass er vom Regen in die Traufe komme, sofern er nicht schleunigst in die Arme der Schulreligion (!!!) zurückkehre. Diese Spekulation hat sich als richtig erwiesen.“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. November 1977) Es war nur konsequent, dass für das „Ersatzfach“ nicht geworben werden durfte, es bezüglich Versetzung und Abiturrelevanz teilweise schlechter gestellt war und ist. Außerdem hat jeder Lehrer, der über freie Unterrichts-
kapazitäten verfügt, ungeachtet seiner Kenntnisse die formale Kompetenz, dieses sehr anspruchs-
volle Fach zu unterrichten. Eigene Studiengänge für dieses Fach gab es jahrzehntelang nicht. Dafür saßen in den diesbezüglichen Lehrplankommissionen von den kirchlichen Oberbehörden entsand-
te Vertreter, deren Vorschlägen besonderes Gewicht beigemessen wurde …
Johannes W. und Ursula Neumann: „Die Kirchen: Staaten im Staate?“ in vorgänge 155 Heft 3 vom September 2001, 159.