Flusslandschaft 1958
Lebensart
„… Die Mehrheit scheint heute zu glauben, dass dem Lebensstandard größere Bedeutung zukomme als dem Leben selbst. Das hört sich noch harmlos an. Aber es ist bitter genug: einen echten Lebens-
anspruch darf heute nur noch stellen, was wirtschaftlich und profitabel ist (selbst unsere Kulturbü-
rokratie hat vom Schielen nach der Kasse bereits den schiefen Blick bekommen). Und wenn jene, die so leichthin leben, in ihrem Lebensstandard nicht auch ein bisschen Kunstkonsum ,eingeplant’ hätten – wo wäre sie, unsere vielberühmte Kultur? Vor den prächtigen Kulissen eines gesättigten Lebens darf sie wenigstens eine Aschenbrödelrolle spielen. Aber aus den Reihen der wohlgenähr-
ten Gaffer wird kein Prinz kommen. Sie werden irrtümlich klatschen und sich über den Nutzen der Historie freuen – der für sie darin zu bestehen scheint, dass man ihn vergessen kann. In der Mitte Europas neigt man dazu, sich mit ungeheurem, ja fast schon blindwütigem Fleiß den Bedingungen eines materiellen Aufschwungs zu unterwerfen, der auf das Wachsen echter Substanz verzichtet. Das goldene Kalb, um das fröhlich getanzt wird, hat Format. Und erst die Nachfahren werden mög-
licherweise Gelegenheit haben, die Frage, wofür sich da ein paar Generationen kaputt geschuftet haben, mit einem glatten ,für nichts!‘ zu beantworten.“1
Die Landeshauptstadt München richtet ihre 800-Jahr-Feier aus. Es soll ein rauschendes Fest wer-
den. Überall sind neue Ansichtskarten, Gedenkmünzen, Jubiläumsbriefmarken und seriöse Stadt-
führer zu erwerben. In einem dieser Führer wird auf die außergewöhnliche Rolle der Münchner Ordnungshüter in den vergangenen Jahren hingewiesen.2
Aufrufe zur Rebellion stammen oft von den ungeeignetsten Leuten und sie finden, wenn über-
haupt, oft am falschen Ort oder zur falschen Zeit statt. Dies dürfte auch daran liegen, dass die Deutschen bis heute keine wirkliche Revolution siegreich zu Ende geführt haben. Nicht zuletzt kauft der Deutsche nach der unverschämten Invektive eines prominenten Bolschewisten erst eine Bahnsteigkarte, bevor er den Bahnhof besetzt.3
22. April: „Mit einem geharnischten Brief beklagten sich die Münchner Wirte und Hoteliers bei Bürgermeister Adolf Hieber, dass er auf einem Empfang erklärt habe, die Münchner Wirte sollten im Jahr der 800-Jahr-Feier ‚besser kochen’. Das Hotel- und Gaststättengewerbe in München dürfe bei aller Bescheidenheit immerhin für sich in Anspruch nehmen …, zum guten Ruf der Stadt we-
sentlich beigetragen zu haben. Die gute bayerische Küche und ihre Preiswürdigkeit gehe auch auf die Arbeit von Münchner Betrieben zurück. Gegen Äußerungen, die den Eindruck erwecken, als hätte die Münchner Gastronomie in der Betreuung ihrer Gäste einiges gutzumachen, müsse man sich entschieden zur Wehr setzen.“4
(zuletzt geändert am 28.5.2021)
1 Das Schönste. Die Monatsschrift für alle Freunde der schönen Künste 1 vom Januar 1958, München, 2.
2 Siehe „Polizei“ von Sigi Sommer.
3 Siehe „Auf die Barrikaden!“ von Benno Wolff.
4 Stadtchronik, Stadtarchiv München.