Materialien 1972

Das Europäische Patentamt

Hinter einem popig-gewellten Bauzaun an der Erhardstraße beginnt gegenwärtig ein Bauvorhaben, durch das sich „unser“ europäischer Kapitalismus noch zu seinen Lebzeiten sein eigenes Denkmal setzt: das Europäische Patentamt (EPA), ein elfstöckiges Hochhaus von erschreckender Dimension am Ufer der Isar gegenüber dem Deutschen Museum.

Die Kosten wurden 1972 berechnet auf 222,5 Millionen DM, wie viel werden es tatsächlich sein? Dazu nur ein Vergleich: Die Kosten für die Olympischen Spiele wurden zum Zeitpunkt der Vergabe an München auf 520 Millionen berechnet. Bei der Abrechnung am Ende stellte sich heraus, dass man tatsächlich 1.900 Millionen DM gebraucht hatte.

Natürlich, das Projekt EPA ist multinational (wie das Kapital), das heißt, alle Staaten der EG zahlen, doch die Stadt hatte das Grundstück für die Behörde „baureif“ zur Verfügung zu stellen. Das bedeutete:

1. Aufkauf der sich noch in Privatbesitz befindlichen Grundstücke – nach Berechnungen des Münchner Forums 6,7 Millionen DM

2. „Baureifmachung“: hinter diesem Begriff verbirgt sich: Räumung der Häuser und Umsiedlung der achthundert Bewohner aus den dreiunddreißig gut erhaltenen Wohnhäusern mit dreihundertelf Wohnungen sowie der Abbruch der Häuser = 20 Millionen DM (MF) – (ein Kuriosum: ein Haus war 1972 vom damaligen Oberbürgermeister Vogel wegen „hervorragender Renovierung“ prämiert worden.)

Der Beschluss des Stadtrates für das EPA an der Erhardstraße hat freilich eine bewegte Geschichte, hier noch mal kurz die wichtigsten Etappen:

Vor dem endgültigen Beschluss hatte der Stadtrat schon fünf mal ja gesagt und den Standort Erhardstraße auserkoren: 1964 einstimmig, 1969 mit zwei Gegenstimmen, 1971 mit neun Gegenstimmen, Mai 1972 acht Gegenstimmen, Dezember 1972: der Stadtrat beauftragt (einstimmig!) eine Delegation, die Möglichkeit eines anderen Standorts zu prüfen. 31. Januar 1973: vierundvierzig Stimmen für die Erhardstraße, vierunddreißig (!) Stimmen für die Berliner Straße (Freimann).

Auffällig ist bei diesem Beschluss das Ergebnis im Hinblick auf die Parteien: SPD: sechsundzwanzig für Erhardstraße, zwanzig für Berliner Straße – CSU: achtzehn für Erhardstraße, zehn für Berliner Straße – FDP: vier für Berliner Straße. Dann Juli 1974: vierundfünfzig für Erhardstraße, fünfundzwanzig für Berliner Straße. Doch die eigentliche Diskussion über EPA lief außerhalb des Parlaments in Veranstaltungen der Bürgerinitiativen, der Bezirksausschüsse und sonstiger

Bürgergremien. Und die Argumente gegen den Standort Erhardstraße, d. h. für den Standort Berliner Straße – und nur um Standortfragen ging es, die Frage nach dem Sinn und Zweck, einer solchen Institution wurde nicht berührt – waren erdrückend.

So musste der Stadtrat am 31. Januar 1973 unter massivem Polizeischutz tagen, man befürchtete den Sturm von Patentamtgegnern auf das Rathaus. Die Abendzeitung: „Das Rathaus war hermetisch abgeriegelt: Zwei Polizeihundertschaften standen bereit, alle Nebeneingänge waren verschlossen, Kripo-Beamte und Rathaus-Angestellte wachten vor dem Haupteingang am Fischbrunnen. Sogar an den Treppenaufgängen im Rathaus wurden noch Besucher kontrolliert.“

„Trotz erheblicher Bedenken beschloss der Vorstand der SPD um Mitternacht, dass an der Bewerbung Münchens für das Patentamt festgehalten werden soll“ meldete die Abendzeitung am 2. Februar 1972 und am 27. Dezember 1974 meint der Oberbürgermeister: „Eine Ideallösung gibt es nicht. Wir suchen deshalb nach der bestmöglichen Lösung, nach dem kleineren Übel. Leider ist nicht zu verhindern, dass es auf jeden Fall ‚betroffene’ Bürger geben wird.“

Unter der Überschrift „Vorteile für Europa – Nachteile für München?“ fragte später (1974) – nach der Entscheidung – das Münchner Bundestagsmitglied Rudolf Schöfberger: „Sicher, es werden zweitausendfünfhundert höchstqualifizierte Arbeitsplätze geschaffen, für Europäer, weniger für Münchner. Das bringt einen beachtlichen Zuzug. Wer baut die Wohnungen und die Schulen? Wer trägt die Lasten für den erforderlichen Verkehrsausbau?“

Und noch etwas später meint er gar: „Das Übereinkommen über die Errichtung des EPA in München ist höchst beachtlich, steht aber in einem seltsamen Gegensatz zur sonstigen Entwicklung in Europa. Für das EPA hat man in vierzehn Jahren ein großes Werk geschaffen. Auf der anderen Seite arbeitet man zwanzig Jahre vergeblich an der politischen Union Europas. Auch wenn man hofft, dass die Vorgänge um das europäische Patentwesen und die Leistungen in diesem Bereich beispielhaft für den politischen Zusammenschluss Europas sein können, muss man sich doch fragen, wem überhaupt ein europäisches Patentwesen dient. Es dient sicherlich der rationelleren Ideen-, Kapital- und Güterverwertung sowie der rechtlichen Absicherung der monopolartigen Ausbeutung von Erfindungen. Was hier vom Patentamt bewältigt wird, ist im wesentlichen das, was in großen multinationalen Unternehmen ganz gezielt erforscht und ergründet wird. Es muss aber auch gefragt werden, wie es mit dem unmittelbaren Nutzen für die Völker Europas aussieht.“ (Münchner Stadtanzeiger Nr. 44, 1974)

Darauf wusste dann Dr. Dietrich Bernecker von der EPA-Planungsgruppe eine Antwort:

„Dem Bürger, glaub’ ich; ist gar nicht so recht klar, dass hier die erste europäische Publikumsbehörde entsteht, ein echter Dienstleistungsbetrieb, der in einer scharfen Konkurrenz zu den jeweiligen nationalen Patentämtern steht. Jeder kann dort sein Patent anmelden, es prüfen lassen und frei wählen, ob er sein Patent fünfzig Meter weiter beim Deutschen Patentamt nicht doch bloß national anmeldet“, erläutert Bernecker und bemerkt einschränkend: „Rund 90 Prozent der eingereichten Patente kommen allerdings aus der Industrie.“ (Süddeutsche Zeitung vom 6. April 1976)

Auch die Stellungnahme der Industrie- und Handelskammer ist deutlich:

„IHK: Patentamt stärkt Münchner Wirtschaft. Appell an Stadtrat: Am Standort Erhardstraße festhalten Nach nochmaliger eingehender Prüfung und Erörterung aller mit der Errichtung des Europäischen Patentamtes in München – EPA – zusammenhängenden Fragen appelliert die Industrie- und Handelskammer für München und Oberbayern an den Stadtrat, an dem Standort Erhardstraße unbedingt festzuhalten. Sie weist dabei insbesondere auf die derzeitige wirtschaftliche Situation hin, die – wie auch der Oberbürgermeister in seinem Rechenschaftsbericht jüngst feststellte – jede Stärkung der Münchner Wirtschaft unbedingt notwendig erscheinen lasse. Schließlich können auch die Gewerbesteuer und deren sich beschleunigende Erhöhungen nur von ausreichenden Erträgen bezahlt werden. Der gesamten Bauwirtschaft Münchens, die schwer um ihre Existenz ringe, bringe ein Projekt von der Größenordnung des EPA schon sehr bald eine gewisse Entlastung. Außerdem könnte dabei wenigstens ein kleiner Teil der zur Zeit beschäftigungslosen Architekten und Ingenieure aus dem Raum München eingesetzt werden. Nach der Indienststellung des EPA werde der zu erwartende Zustrom von täglich vierhundert bis fünfhundert Gästen aus den dem Europäischen Patentübereinkommen angeschlossenen Staaten eine wesentlich bessere Auslastung des hiesigen Hotel- und Gaststättengewerbes mit seiner derzeit prekären Situation bringen.“

Wie gesagt: Hinter einem popig-gewellten Bauzaun …


Peter Schult/Ralph Schwandes/Herbert Straub/H.-Rainer Strecker/Ursula Wolf, Stadtbuch für München 76/77, München 1976, 61 ff.

Überraschung

Jahr: 1972
Bereich: Stadtviertel