Materialien 1973

Sammelbecken für Marxisten

Ein „Blatt“ propagiert die Systemveränderung

Sie blicken auf zu Rosa Luxemburg, zu Marx und Lenin und verheißen Fluchtwege aus der moder-
nen Industriegesellschaft. Noch immer herrscht bei ihnen ständiges Frontstadt-Klima; sie hetzen, predigen Gewalt und gebärden sich als unbelehrbare Leistungsverweigerer. Sie scheren sich einen Deut um Kanzlerappelle oder Gegenschläge der Staatsanwaltschaft. Und längst haben sie die eta-
blierten, kommunistischen Systeme so weit links überholt, dass sie heute auch im Osten als nicht geheuer gelten: Deutschlands „Ultra-Super-Linke“, die in jeder Großstadt ihr Süppchen kochen. Wann immer ein winziger Protest aufblinken könnte, stehen sie im Hintergrund oder an der Front. Ihre Postillen, die sporadisch erscheinen und überwiegend an Universitäten verteilt werden, sollen neue Kontakte herstellen; Treffpunkte für Gleichgesinnte schaffen.

Auch in München gibt es eine ganze Reihe von ihnen, u.a. das „Blatt – Stadtzeitung für München“, das Redaktionskollektiv haust in der Adelgundenstraße, inmitten der City. Es ist nur eines jener vielen Blättchen mit von Marx und Marcuse getrübter Optik. Ihre Autoren fühlen sich bemüßigt, den Mitgenossen vorzugaukeln, was ihnen vorschwebt. Als Hebammen der Revolution dulden sie keinen Widerspruch beim Durchsetzen ihrer einseitigen ideologischen Konzepte. Ihr Heftchen glänzt von Dogmen und Agitation in einer gelegentlich schizophren anmutenden Chiffren-Sprache. Um sich in ihre neue Welt „heiter“ einzustimmen, empfehlen die „Blatt“-Autoren in der März-Ausgabe z.B. ungeniert den Anbau von Hasch. In ihrem „grünen Eckchen“ schreibt die Autorin Ramona Immergrün: „Bald kommt die Zeit für die Aussaat der Körner, die dann im September viel Freude bringen. Es ist ein Vorurteil, ein in Deutschland gezogenes Gras törne nicht an.“ Man gibt Empfehlungen wie weiland in der Gartenlaube („… ab Mitte März bis Anfang April setze man je zwei Körner in ein Loch in eine 3 – 4 cm tiefe Saatschale aus Styropor“). Und damit der Anbau auch richtig klappt, gibt man auch gleich die Adresse an, wo man sich in Bayern die indischen Hanfkörner kaufen kann. Mit Kleinsiedler-Gruß „Also vergnügt Euch schön“ entlässt die Gärtnerin aus Leidenschaft dann ihre Leserschaft.

Aber die Genossen sollen nicht nur an Genuss denken – Taten will man sehen. Und so wird noch einmal lang und breit die Hausbesetzung in München, die Gasteig-Aktion, unter dem Titel „Besser einen Fehler machen … als den Fehler nicht zu machen“ durchleuchtet. Heißt es da: „Leute, über-
legt Euch, wie Ihr die Trennung von Privatleben und politischer Arbeit am besten aufheben könnt; bildet Kollektive im Stadtteil, die konkrete, längerfristige Projekte in Angriff nehmen und in einem organisatorischen Zusammenhang stehen. Das wäre der nächste Schritt nach vorn!“

Dass man bei Aktionen jedweder Art fest in Treue gemeinsam agieren soll, gehört zu ihrem Credo. So sind in den Heftchen immer alle Prozesse (z.B. die Aktionen wegen der Lkws vom BMW-Werk in der Riesenfeldstraße), die jetzt vor Gericht verhandelt werden oder deren Termine anstehen, genau mit Datum, Uhrzeit, Ort (Amtsgericht, Zimmer …) aufgeführt. Für die anfallenden Anwalts- und Prozesskosten, die angeklagte Genossen verursachen, wird zugleich ein Spendenkonto angege-
ben.

Die Autorinnen von „Blatt“ spielen ganz die emanzipierten Töchter. Unter dem Porträt von Julius Kardinal Döpfner heißt es: „Aktion § 218 organisiert sich in ganz Deutschland“. Wieder geht es in dem Aufruf um den „eigenen“ Bauch, wieder bedeutet die Pillenerrungenschaft nur einen „massi-
ven“ Eingriff in den Körper. Alle eventuelle noch vorhandenen bürgerlichen Skrupel sollen ganz über Bord gekippt werden, darum gleich noch der ergänzende Hinweis der Autoren: „So tritt man aus der Kirche aus: Personalausweis, 10 DM (für Studenten 5 DM). Jeder muss sich beim Standes-
amt abmelden … Formular ausfüllen, fertig! Standesämter sind Montag – Freitag von 7.30 – 12 Uhr geöffnet.“

In der diesem Kreis eigenen „duften“ Insider-Sprache geht man alle Probleme bierernst und völlig humorlos an. „Moral in Mühldorf“ lautet ein Artikel, der sich mit dem Frauenprozess Bliemhuber beschäftigt und die Gemüter stark bewegt. Arbeitskreis Heimerziehung beschäftigt sich mit den Heiminsassen, die dort „diskriminiert, kriminalisiert, isoliert, passiviert, ausgeschmiert, abgescho-
ben, aufgehoben, bewacht; bei Nacht verhöhnt, verpönt, getestet, gemästet, kaputt gemacht, kurz gesagt – erzogen werden“.

Neben vielen Kneipen- und Kino-Tips immer wieder Termine, Termine über Treffen der DKP, des Initiativkreises Solidarität gegen Berufsverbote, Gesellschaft der Freunde Albaniens, GIM, Birth-Kontrol, SPD-Mieterberatung und wie diese Gruppen und Basen alle heißen.

Sind das nun journalistische Traktätchen vereinsamter linker Veteranen, die ihren fatalen Illusio-
nen nachrennen? Sind es wirklich nur die handgedruckten Postillen irgendwelcher Provozier-Clowns, die mit ihren Aufrufen Türen einrennen wollen? Oder machen sie nicht vielmehr aus der Verletzung bürgerlicher Spielregeln ein System und sind darum ernster zu nehmen – zumindest als ein keineswegs beruhigendes Symptom für unserer Zeit?

Anne Born


Bayernkurier vom 13. März 1974, zit. in: Blatt, Stadtzeitung für München 21 vom 19. April 1974, 2 f.