Materialien 1973
Aha, der Sumpf
Der Freistaat wandte den Radikalen-Beschluss für den öffentlichen Dienst gegen eine Sozialde-
mokratin an und versperrte ihr den Weg ins Richteramt. SPD-Politiker befürchten Präzedenz-
wirkung.
Die Münchner Justizassessorin Charlotte Nieß hatte schon ihre Stellung aufgegeben, ihre Woh-
nung gekündigt und die Koffer gepackt. Nach bestandener zweiter Staatsprüfung war sie als Richterin in Nürnberg vorgesehen. Nur ein Besuch im bayrischen Justizministerium stand noch aus, „zur Aushändigung der Ernennungsurkunde“.
Doch kurz vor dem Termin wurde die 28jährige Beamtenanwärterin wieder ausgeladen, und statt der Ernennungsurkunde erhielt die Assessorin, Ende Oktober, einen Ablehnungsbescheid von Justiz-Staatssekretär Alfred Seidl. Begründung für die Abfuhr: Frau Nieß sei Mitglied einer ver-
fassungsfeindlichen „kommunistischen Hilfsorganisation“.
Dafür jedenfalls halten bayrische Staatsschützer eine berufsständische Gruppierung, die bislang kaum von sich reden machte, die „Vereinigung Demokratischer Juristen“ (VDJ). Ihr gehören etwa 500 Rechtsanwälte und Richter, Professoren und Assessoren an und seit drei Jahren auch die Rechtsreferendarin Nieß. Das Juristengremium, gegründet im März 1972, auf Initiative politischer Strafverteidiger, die sich bei Diskussionen über Notstands- und Staatsschutzgesetzgebung zusam-
mengefunden hatten, befasst sich laut Satzung publizistisch „mit allen aktuellen Rechtsreformen und reaktionären Erscheinungen auf den verschiedenen Rechtsgebieten“ und „wendet sich gegen eine Infrastrukturgesetzgebung, die anstrebt, die gegenwärtigen Herrschaftsverhältnisse zu stabi-
lisieren“.
Dem zweifellos nach links ausladenden, überparteilichen Verein gehören auch Kommunisten, vor allem aber SPD-Leute an. Sozialdemokratin Charlotte Nieß etwa ist der VDJ „bewusst als Mitglied der SPD beigetreten“, weil sie glaubt, dass die „rechtspolitischen Ziele meiner Partei mit den sat-
zungsgemäßen Zielen dieser Juristenorganisation übereinstimmen“. Mit derlei Vorbringungen fand sie indes beim Justizministerium kein Gehör. „Die Argumente“, notierte Nieß-Anwalt Gerd Tersteegen nach einer Anhörung, „prallten wie von einer Wand ab.“
Mit dem Fall Nieß und der Qualifikation der Juristenvereinigung kommt, so scheint es, aus Bayern eine neue Variante in die bundesweite Praxis, mit der seit dem Ministerpräsidentenbeschluss von 1972 überwiegend Mitglieder von mutmaßlich verfassungsfeindlichen Parteien, meist der DKP, und überwiegend Lehramtsbewerber vom öffentlichen Dienst abgeblockt werden. Der Freistaat Bayern ist es auch, der, wie vorletzte Woche wieder, im Bundesrat die von den Sozialliberalen an-
gestrebte Radikalen-Gesetzgebung zu verschärfen sucht — und dabei auf höchstrichterliche Be-schlüsse verweist.
So stellte das Bundesverfassungsgericht (BVG) im Mai dieses Jahres fest, worauf nun die Bayern pochen, dass der Einstellungsbehörde keine Beweislast für ihre Zweifel an der Verfassungstreue des Bewerbers obliege. Es genüge. so der BVG-Beschluss, „dass der für die Einstellung Verant-
wortliche“ davon „im Augenblick seiner Entscheidung nicht überzeugt ist“.
Bayerns Staatssekretär Seidl erwähnte in seinem Nieß-Bescheid freilich mit keinem Wort, dass neun VDJ-Vorsteher Sozialdemokraten sind, darunter der Erste Vorsitzende Professor Gerhard Stuby, Bremen, Professor Wolfgang Däubler, juristischer Hausgutachter des DGB. und Heinz Düx, Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht Frankfurt. Als Indizien für Verfassungsfeindlichkeit wertet Seidl Erkenntnisse über die DKP-Mitgliedschaft von sechs der 23 Vorständler und die „propagandistische Diktion“ der VDJ-Satzung, aus der zu schließen sei, dass „die verwendeten Begriffe“ den „Wertvorstellungen des Grundgesetzes“ widersprechen. Als Beleg wertete Seidl eine Satzungspassage, nach der die VDJ die „Rechte und Freiheiten der arbeitenden Bevölkerung“ verteidigt; bei Seidl wurde daraus freilich ein Falschzitat: die Verteidigung von Rechten „der Arbeiterklasse und aller Werktätigen“.
Überdies propagiere die VDJ, so Seidl nach Erkenntnissen des Verlassungsschutzes, beispielsweise „Solidarität mit Chile“, wende sich aber nicht gegen die Verletzung der Menschenrechte in kommu-
nistischen Staaten. In Wahrheit protestierte der VDJ-Vorstand erst Anfang November in einer Re-
solution an den DDR-Juristenverband gegen die „Menschenrechtsverletzung“ durch die Berufsver-
bote gegen den Politsänger Wolf Biermann und den Philosophen Robert Havemann.
Als einen „ganz bösartigen Trick“ (Däubler) bezeichnen es die Sozialdemokraten im VDJ schließ-
lich, dass in das Nieß-Verfahren ein Schreiben des Hamburger Baader-Meinhof-Anwalts Kurt Groenewold eingeführt wurde, das im Juli 1973 in der Zelle des BM-Häftlings Jan-Carl Raspe ge-
funden worden war. Groenewold beschrieb darin schon Anfang 1972, aus seiner Sicht, die VDJ-Gründungsvorbereitungen verschiedener Juristengruppen, so auch einer „Fraktion aus Mitglie-
dern, Sympathisanten und Freunden der DKP und von Spartakus“, der er selber freilich gar nicht angehörte.
Unerwähnt blieb auch, dass sich eine Groenewold-Gruppe der VDJ nicht angeschlossen, sondern hämisch von ihr distanziert hatte. Der Verein beschränke sich, so Groenewold in einer von Seidl nicht zitierten Briefpassage, „auf den demokratischen Kampf um das Grundgesetz“ und lehne lei-
der „jede revolutionäre oder „rechtswidrige’ Veränderung in der Praxis ab“.
Doch ohne diesen Zusatz, der eher geeignet wäre, die Verfassungstreue der VDJ zu belegen, hin-
terließ der Groenewald-Brief im Fall Nieß den Eindruck der Kumpanei zwischen Anarchisten und Juristen. Professor Däubler: „Unbefangene denken sich da doch, aha, das ist der gleiche linke Sumpf.“
Genau das ist womöglich amtliche bayrische Absicht: Das Vorgehen im Fall Nieß lässt den Ver-
dacht aufkommen, dass die „politische Stoßrichtung“, wie Anwalt Tersteegen es formuliert, gar nicht gegen Verfassungsfeinde zielt, sondern „auf die SPD“. Und Bayerns Ministerrat, der am Dienstag letzter Woche Seidls Nieß-Bescheid „in vollem Umfang“ billigte, riet zugleich der SPD zu Parteiordnungsverfahren gegen Mitglieder, die „sich in Organisationen … gemeinsam mit der DKP betätigen“ — was beispielsweise in Gewerkschaften geschieht.
Der südbayrische SPD-Bezirksvorsitzende Alfons Bayerl äußerte in einem Brief an Ministerpräsi-
dent Alfons Goppel denn auch die Befürchtung, der Fall Nieß könne „ein Präzedenzfall“ dafür werden, „dass Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei bei Übernahme in den öffentlichen Dienst benachteiligt werden, nur weil sie in überparteilichen Gremien oder in Bürgerinitiativen, in denen auch Mitglieder der DKP mitarbeiten, tätig sind und dort die freiheitliche Grundordnung der Bundesrepublik vertreten“.
Münchens SPD-Vorsitzender Rudolf Schöfberger, wie Bayerl selber Jurist, sieht schon eine „Aus-
dehnung der Berufsverbote auf Sozialdemokraten“. Schöfberger: „Das geht ja mitten hinein in die Partei.“
Der Spiegel 48 vom 24. November 1975, 70 ff.