Materialien 1973

Die Praxis des Radikalenerlasses ...

hat eben nicht nur den Charakter der Unterdrückung, sondern auch den der Demütigung. Wenn z. B. einer Lehrerin fast nicht mehr Zeit gelassen wird, sich den Mantel aus der Garderobe zu holen, als ob Radikalismus eine ansteckende Krankheit sei; wenn Argumente darauf überprüft werden, aus welcher Ecke sie kommen; wenn – verallgemeinert – die Verantwortlichen der Schulen oder Kliniken allen praktischen Eigennutz fallen lassen, um Linke loszuwerden, d. h. zulassen, dass der Verfassungsschutz zur Personalbehörde wird; wenn man anlässlich der Trauer um Schleyer bei Strafe des Untergangs aufstehen muss, kurz: wenn man die politische Unterdrückung hinnehmen muss in Form der Groteske, was geschieht mit uns? Rebellieren wir, geraten wir in Wut, so dass wir die Vorsicht verlieren? Nein, wir sehen uns vor, aber wovor? Bevor wir uns noch empören können, sind wir schon dabei, uns als Exempel zu begreifen. Die Berufsverbotskampagne gipfelte in einer Sammlung absolut einwandfreier Exempel. Was uns geschieht, propagieren wir zum Exemplarischen, und ebenso verschwindet der Staatsapparat als ein auf seine Verwundbarkeit analysierbarer Gegner und erscheint als exemplarisch handelndes Phänomen, mit dem wir keine wirklichen Erfahrungen mehr machen können, weil er sie ohnehin schon bestätigt hat.


Klaus Hartung, Über die langandauernde Jugend im linken Getto. Lebensalter und Politik – Aus der Sicht eines 38jährigen, in: Kursbuch 54, Berlin 1978, 174 ff., hier: 180.

Überraschung

Jahr: 1973
Bereich: Bürgerrechte

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