Materialien 1973

Die Anwendung des Radikalenbeschlusses im Freistaat Bayern

Zwei Lebensläufe:

KARL GÜNTHER STEMPEL

geb. 1.3.1917, Richter am Bayerischen Obersten Landesgericht, 1934 SS-Anwärter, 1937 Mitglied der NSDAP Nr. 5152264, 1937 Mitglied der SS

CHARLOTTE NIEß

Geb. 9.4.1947 Justizassessorin, 1971 Mitglied der SPD, 1972 Mitglied der „Vereinigung Demokratischer Juristen“ (VDJ), 1973 Mitglied der Gewerkschaft ÖTV

Karl Günther Stempel:

„Mein Wunsch zur SS war schon bestimmt seit der Zeit der Machtübernahme durch den regen Kontakt mit SS-Kameraden, durch die ich im Jahre 1933 auch Gelegenheit hatte, mich bei der Besetzung des Gewerkschaftshauses … mit der Waffe zu beteiligen.“

1970 wird das „Deutsche Kulturwerk Europäischen Geistes“ (DKEG) im Verfassungsschutzbericht als die „zahlenmäßig stärkste rechtsradikale Gruppierung nach der NPD“ bezeichnet, und es wird darauf hingewiesen, dass „etwa dreißig Prozent ihrer Funktionäre Mitglieder der NPD sind“.

1972 wird Karl Günther Stempel Präsident des DKEG. In seiner Antrittsrede erklärt er: „Schon einige Generationen hindurch haben wir im industrialisierten Zeitalter der Massenvermehrung das wirkliche Leben misshandelt und das negative Auslesegeschehen der Kriege und Revolutionen verfestigt durch eine … von Staats wegen unterstützte Freigabe aller Verantwortlichkeiten … um den gesunden Gen-Bestand … um eine zuchtvolle Anpassung an die verringerten Lebensräume, um eine Selbstentfaltung der Völker in ihrer Eigenart und um eine lebensdienende Ethik.

Die Verdorbenheit der Lebenssubstanz ist zu einem neuen rassischen Problem … geworden, und das Untermenschentum allenthalben findet seine Verbrüderung zur Befriedigung der Augenblicksbedürfnisse, während höheres Menschentum … es zulässt und fördert, dass ( seine) Durchsetzungsmöglichkeiten durch den Machtgewinn des Pöbels nur weiter verringert werden … nur neuer Aufbruch der Geister von eben diesem Augenblick an kann uns biologisch noch retten.“

1973 sieht sich Karl Günther Stempel auf Grund wiederholter Zeitungsberichte dazu veranlasst, seine Funktion im DKEG vorübergehend niederzulegen.

1974/75: Obertslandesgerichtsrat Karl Günther Stempel ist wieder als Präsident des DKEG tätig.

Charlotte Nieß:

„Nach bestandener zweiter Staatsprüfung war sie als Richterin in Nürnberg vorgesehen. Nur ein Besuch im bayerischen Justizministerium stand noch aus, ‚zur Aushändigung der Ernennungsurkunde’. – Doch kurz vor dem Termin wurde die 28jährige Beamtenanwärterin wieder ausgeladen, und statt der Ernennungsurkunde erhielt die Assessorin, Ende Oktober, einen Ablehnungsbescheid von Justiz-Staatssekretär Seidl. Begründung der Abfuhr: Frau Nieß sei Mitglied einer verfassungsfeindlichen ‚kommunistischen Hilfsorganisation’. Dafür jedenfalls halten bayerische Staatsschützer … die ‚Vereinigung Demokratischer Juristen’ (VDJ). – Münchens SPD-Vorsitzender Rudolf Schöfberger, … selber Jurist, sieht schon eine ‚Ausdehnung der Berufsverbote auf Sozialdemokraten’. Schöfberger: ‚Das geht ja mitten hinein in die Partei’.“ (Der Spiegel, 24.11.1975)

„Zu den jüngsten Opfern amtlicher Gesinnungsschnüffelei zählt die Rechtsreferendarin Charlotte Nieß, Mitglied des Münchner SPD-Ortsvereines Sendling-West. Ihr Fall könnte richtungweisend für eine Zukunft werden, die der Vorsitzende des Ortsvereins, Hans Neuber, so beschreibt: ‚Dann werden bald alle nur noch die Wahl haben zwischen Anpassung und Arschkriecherei oder Widerstand und Verfolgung. Ich hab Angst, weil ich die Geschichte kenne und weil die SPD offensichtlich nichts daraus gelernt hat.’ – Der Fall ‚Charlotte Nieß’ lässt im Zusammenhang mit dem Radikalenerlass eine Dimension erkennen, die auf jeden Sozialdemokraten alarmierend wirken muss. Sollte das Bayerische Justizministerium in dieser Angelegenheit obsiegen, ist die Jagdsaison auf die demokratische Linke auch offiziell eröffnet. Was das bedeutet, wenn in Bonn erst einmal wieder die Reaktion an der Macht ist, bedarf keiner langatmiger Erläuterung. Der Bumerang, an dem auch die SPD geschnitzt hat, wird durch seine konservative Drehbewegung die eigenen Genossen treffen.“ (Vorwärts, 27.11.1975)

Stempel bleibt Richter

Neonazistische Tätigkeit in Bayern „kein Dienstvergehen“

Das zuständige Dienstgericht für Richter in München hat es abgelehnt, ein förmliches Disziplinarverfahren gegen den Richter am Obersten Landgericht, Karl Günther Stempel, wegen dessen offen nazistischer Betätigung einzuleiten. Eine Beschwerde der Generalstaatsanwaltschaft gegen diese Entscheidung blieb unbeachtet. Seit dem 6. Okt. liegen die Akten nun beim Bayerischen Dienstgerichtshof für Richter, der noch keine Entscheidung getroffen hat. Dieser Sachverhalt geht hervor aus einer Antwort des Bayerischen Justizministeriums auf die Anfrage dreier SPD-Landtagsabgeordneter, die bereits am 28. Okt. eingebracht worden war ( siehe „tat“ Nr. 45 und Nr. 46/47)

Stempel war bereits 1932 der damals noch verbotenen SS beigetreten und hatte seine offen nazistische Tätigkeit bis in jüngste Zeit fortgesetzt. Er bekannte sich Anfang der siebziger Jahre zur neonazistischen „Aktion Widerstand“ und deren terroristischer Parole „Brandt an die Wand“. Bis heute zeichnet er als Präsident des rechtsradikalen „Deutschen Kulturwerks“, das in Österreich als neonazistische Organisation verboten ist. Erst unter dem Druck der Öffentlichkeit waren disziplinarische Schritte gegen Stempel angekündigt worden. Schon frühere Anfragen der SPD im bayerischen Landtag hatten lediglich zu „Vorermittlungen wegen des Verdachts eines Dienstvergehens“ gegen den rechtsextremen Oberlandesgerichtsrat geführt, die allerdings ebenso im Sande verlaufen sind wie die jüngsten „Untersuchungen“. Während vor allem in Bayern gegenüber fortschrittlichen Bewerbern für den öffentlichen Dienst scharfe Gesinnungsjustiz betrieben wird, beanstanden die Dienstgerichte für Richter nicht, dass aktive Alt- und Neonazis höchste Richterposten bekleiden. Die fehlenden Reaktionen von CSU-Justizminister Hillermeier können nur als Billigung dieser Verhältnisse gedeutet werden.

„die tat“ , 25. November 1977


Entwicklungen. Künstlergemeinschaft Erich Mühsam, München 1978, 63 ff.

Überraschung

Jahr: 1973
Bereich: Bürgerrechte

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