Materialien 1973

Der „Fall“ Offergeld

Die Kampagne der bayerischen Ministerialbürokratie gegen Koll. Rüdiger Offergeld1 soll nach dem Willen des GEW-Hauptvorstandes dem Internationalen Berufssekretariat der Lehrer (IBSL) über-
geben werden. Dieses wiederum soll die Möglichkeit prüfen, die Angelegenheit der Europäischen Menschenrechtskommission und dem Internationalen Arbeitsamt zu übertragen. Diesen Beschluss fasste der GEW-Hauptvorstand am 18. Mai auf seiner Sitzung in München.

Zugleich stellte der Hauptvorstand fest, dass Koll. Offergeld nach § 4 der Satzung zu den Mitglie-
dern gehört, „die wegen ihres Eintretens für die Gewerkschaft Schaden erleiden“. Diese Feststel-
lung hat zur Folge, dass er nach den Grundsätzen der DGB-Gewerkschaften Anspruch auf eine „Gemaßregeltenunterstützung“ aus dem Solidaritätsfonds der GEW erhält, falls seine Entlassung durch den bayerischen Kultusminister „zum 30. Juni nicht aufgeschoben oder abgewendet werden kann“.

Der Hauptvorstand verurteilte erneut das Verhalten von Kultusminister Maier (CSU) und „aller Beamten, die an der Schikanierung und Existenzbedrohung von Rüdiger Offergeld aktiv mitgear-
beitet haben“. Er stellte fest, dass hier „ein Missbrauch von demokratisch übertragener Macht“ vorliege, da das Vorgehen gegen den jungen Gewerkschaftler „weder dem Buchstaben noch gar dem Geist der Verfassung und der Beamtengesetzgebung in der Bundesrepublik Deutschland“ entspreche.

Die GEW bekräftigte ihre Bereitschaft, jeweils in Übereinstimmung mit dem Betroffenen alle Rechtsmittel einzusetzen. Ziel müsse es bleiben, die Weiterbeschäftigung von Rüdiger Offergeld im bayerischen Schuldienst zu sichern. Zugleich soll ein letzter Versuch gemacht werden, in diesem Konflikt doch noch zu einer gütlichen Regelung zu kommen: Gemeinsam mit dem DGB wird Erich Frister beim bayerischen Ministerpräsidenten Alfons Goppel intervenieren.

Der Hauptvorstand dankte allen Organisationen, Einzelpersonen und Publizisten aus allen Teilen der BRD, die sich mit Briefen, Berichten und öffentlichen Erklärungen mit Offergeld solidarisier-
ten und für die Sicherung der Grundrechte auf Meinungsfreiheit und gewerkschaftliche Betätigung eingesetzt haben. Eine Unterschriftenaktion der bildungspolitischen Zuschrift „betrifft: erziehung“ hat ein bundesweites Echo gefunden und mehr als 3.000 Sympathieerklärungen gesammelt. Wie eine Sonderausgabe des GEW-Pressespiegels ausweist, hat sich eine Vielzahl wichtiger Redaktio-
nen zugunsten unseres Kollegen engagiert.

Es gibt eine reale Chance, die Auseinandersetzung mit der bayerischen Ministerialbürokratie zu gewinnen. Erich Frister: „Zumindest die sofortige Vollziehbarkeit der Entlassung Rüdiger Offer-
gelds muss durch das Verwaltungsgericht aufgehoben werden, da die Entlassungsbegründung rechtlich nicht haltbar ist.“ Über die rechtlichen Maßnahmen hinaus bedarf es jetzt einer breiten Solidarität, damit der massive Angriff Maiers auf gewerkschaftliche Betätigung auch politisch scheitert.

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1 Rüdiger Offergeld, geboren 1941 in Gelsenkirchen, Studium der Philosophie, Theologie und Literatur, nach dem Staats-
examen (1967) für das höhere Lehramt und die sich anschließende Referendarzeit erste Anstellung als Studienrat z.A. am Luitpold-Gymnasium in München (1971) für die Fächer Deutsch, Religion und Sozialkunde, seit 1969 Mitglied der SPD und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), 1973 zum Bundesvorsitzenden des „Ausschusses Junger Lehrer und Erzieher“ in der GEW gewählt (der Anlass für die Bayerische Staatsregierung, ihn unter besondere Aufsicht zu stellen), 1974 aus dem Schuldienst entlassen aufgrund einer Dienstlichen Beurteilung „Entspricht nicht den Anforderungen“. Es folgen jahrelange Prozesse gegen den Freistaat Bayern. Die Behörde: Rechtliche Grundlage für die Entlassung sei nicht der Radi-
kalenerlass, sondern die Dienstliche Beurteilung. Innerhalb von einem Jahr verschlechterte sie sich von „gut“ auf „ent-
spricht nicht den Anforderungen“. Staat und Kirche handeln vereint. Der damalige Kardinal Joseph Ratzinger entzieht ihm obendrein die „Missio Canonica“, die Lehrerlaubnis für den katholischen Religionsunterricht. Das politische Profil eines Sozialdemokraten, Gewerkschafters und katholischen Theologen passen in Bayern nicht zueinander.


Erziehung und Wissenschaft, Frankfurt am Main, 6/1974.

Überraschung

Jahr: 1973
Bereich: Bürgerrechte

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