Materialien 1973

Wir organisierten auch den ersten Streik mit ...

den die Deutsche Postgewerkschaft (DPG) ausrief, den sogenannten Operettenstreik von 1973.
Ich nenne ihn deshalb so, weil alles möglich war. Das war eine faszinierende Erfahrung. Sie riefen mich vom Bezirk aus an und sagten: „Du, wir streiken, wir brauchen dich.“ Da in dem Amt, in dem ich arbeitete, nicht gestreikt wurde, nahm ich Urlaub. Also gut. Ich marschierte mit und bin in das Paketpostamt. Ich war mit einem Kollegen dort und fragte ihn: „Ja, weißt du, wie das geht, einen Streik ausrufen?“ Und der meinte: „Nein, ich weiß es auch nicht. Das machen wir jetzt irgendwie.“ Wir gingen also zum Amtsvorsteher und verkündeten ihm ganz brav, dass wir jetzt einen Streik ausrufen. Dann kletterten wir hinauf in die Meldestelle der Gleisaufsicht, die in dieser großen Halle liegt in der Nähe vom Bahnhof. Wir krallten uns das Mikro und sagten: „Hier spricht die Deutsche Postgewerkschaft. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir rufen euch zum Streik auf!“ Wir standen gebannt da und warteten, was jetzt wohl passiert. Wie die Ameisen krabbelten alle aus den Wag-
gons. Es war ein tolles Erlebnis, wie das klappte, obwohl wir vorher gar nicht gewusst hatten, wie wir es anstellen sollten.

An dem Tag rief ich in vier Ämtern zum Streik auf. Ich sauste überall herum. Nachdem ich 1968 die Beamtenprüfung abgelegt hatte, war ich zur Zeit des Streiks gerade C-Beamtin geworden, weshalb mir natürlich alle eine gewisse Aufmerksamkeit entgegenbrachten. Nicht immer die, die ich erwartete. Wir sind zum Beispiel in die Kantine rein, und ich sagte mein Verslein auf, dass wir zusammenhalten und gemeinsam für unser Ziel kämpfen müssen, und alle haben „Juchhu!“ und „Bravo!“ und „Hoch!“ geschrieen. Dann rannte ich in die nächste Kantine und sagte dasselbe, und die Reaktion war eisiges Schweigen. Unten waren eben die Arbeiter und oben die feinen Pinkel von der Verwaltung.

Christine Saurer,
die 1964 in der Jugend der Postgewerkschaft aktiv wurde


Ingelore Pilwousek (Hg.), Wir lassen uns nicht alles gefallen. 18 Münchner Gewerkschafterinnen erzählen aus ihrem Leben, München 1998, 247 f.