Materialien 1973

Ein Kapitel vom Kapital

KONKRET-Redakteur Udo Hergenröder ging unter die Kapitalisten:
Er besorgte sich Aktien, um bei der Aktionärsversammlung von Siemens dabei zu sein.

Mit meinen vier Aktien bin ich Miteigentümer des größten privaten Arbeitgebers in der BRD.

Genau gehören mir 200 Mark von 1,2 Milliarden, der sechste Teil eines Millionstels vom Aktienkapital des Elektro-Konzerns Siemens.

Als Miteigentümer habe ich auch Mitbestimmungs-Recht: Auf der alljährlichen Aktionärs-Versammlung der Siemens AG kann ich mit vier von insgesamt 24 Millionen Stimmen den Vorstandsmitgliedern (dem Management) mein Mißtrauen kundtun oder für einen neuen Aufsichtsrat (das Kontrollorgan) votieren.

Dieses Ereignis von Aktionärs-Demokratie genoss ich am Donnerstag letzter Woche im Kongreßsaal des Deutschen Museums zu München über sieben Stunden lang:

Während festlich gekleidete Hausfrauen, Ärzte und Pensionäre durch das Hauptportal strömen und Konzern-Herren wie Abs und Siemens den Nebeneingang nehmen, fahren fünf Mannschaftswagen der Münchner Polizei auf. Die vom Aufsichtsrat-Vorsitzenden und Versammlungsleiter Peter von Siemens (Siemens-intern: PvS) zum Schutz vor den Mitgesellschaftern angeforderten Prügelknaben sammeln sich auf einem Innenhof mit Sonderzugang zum Kongreßsaal.

Auf meinem Weg zum Versammlungssaal muss ich – wie alle anderen Kleinaktionäre – sechs Kontrollen passieren, für die der vorsichtige Konzernchef eine Hundertschaft des Siemens-Werkschutzes aufgeboten hat. An der zweiten Sperre greifen die Werkschützer nach dem Besitz ihrer Arbeitgeber.

Jeder Aktionär muss die Tasche öffnen und wie auf dem Flughafen durchwühlen lassen. „Wir haben unsere Gründe“, sagt der Kontrolleur zum Aktionär, „Sie könnten ja Fahnen, Transparente oder Flugblätter bei sich haben, oder auch eine Bombe. Wir haben nämlich schon Bombendrohungen erhalten.“

Die Angst vor den Miteigentümern sitzt den Herren vom Vorstand und Aufsichtsrat tief in den Knochen. Im Saal, wo die Aktionärs-Demokratie praktiziert werden soll, thronen sie – elf vom Vorstand und elf vom Aufsichtsrat – abgeschirmt hinter hohen Aufbauten in einer Reihe.

Sie nennen das Sicherheitsmaßnahmen gegen aufsässige Kleinaktionäre. Im Vorjahr hatte eine Gruppe Aktionäre, die die Siemens-Beteiligung am Bau des Cabora-Bassa-Staudamms in Mozambique missbilligen wollten und keine Redeerlaubnis erhalten hatten, für kurze Zeit das Podium besetzt. Bis PvS, von 1937 bis 1945 in Brasilien und Argentinien geschult, die Polizei geholt hatte. Und nun will er zeigen, wer Herr im Hause ist.

„Tonbandgeräte zu Aufnahmezwecken dürfen nicht benutzt werden. Und der Aufenthalt auf den Gängen des Saales ist nicht gestattet.“ Spricht der Herr Vorsitzende in seinem Einleitungsreferat an die „lieben Aktionäre“, die ihm ihr Geld zum Herrschen gaben. Er redet von „Aktionärsdemokratie“ und „Aktionärsparlament“ und fordert zu „zurückhaltender Ausübung des Rede- und Fragerechts“ auf.

Wie diese Zurückhaltung auszusehen hat, demonstriert das Oberhaupt des 75köpfigen Familien-Clans Siemens bereits beim dritten Redner. Das Wort hat der Kleinaktionär Sörensen aus Osterode im Harz, der von Siemens seit langem eine Entschädigung für seine einstigen Anteile an der Deutschen Grammophon AG fordert, die 1937 liquidiert wurde und mittlerweile in Siemens-Besitz ist.

Noch bevor er für Sörensen das Mikrophon einschaltet, hebt jedoch PvS zur Vorrede an: „Seine Behauptungen entbehren jeder Grundlage. Seine angeblichen Ansprüche soll er doch gerichtlich geltend machen.“

„Ich entziehe Ihnen das Wort“

Gerade über seinen erfolglosen Versuch, dies zu tun, will Sörensen seine Mitaktionäre informieren: „Den Prozess habe ich beim Gericht in Göttingen längst angestrengt. Aber auf das Gericht wurde Druck ausgeübt. Bei dieser wirtschaftlichen und politischen Macht ist es unmöglich …“

PvS schaltet ihm das Mikrophon ab und seines an: „Das sind Unterstellungen, die einer Beleidigung gleichkommen. Ich entziehe Ihnen hiermit das Wort.“ In mir macht sich physisches Unbehagen breit.

Einige Aktionäre in den vorderen Reihen beklatschen PvS, der im Ton eines Unteroffiziers weitermacht: „Verlassen Sie sofort das Rednerpult, sonst lasse ich Sie aus dem Saale verweisen.“ ’Schon erscheinen zwei vom Werkschutz. Sörensen geht.

Dann kommt ein Aktionär, wie ihn PvS sich wünscht. Im Namen eines Investmentclubs, der Siemens-Aktien im Depot hat, spricht ein Karl Doehring seinen „Glückwunsch zu dem hervorragenden Ergebnis des abgelaufenen Geschäftsjahres“ an Vorstand und Aufsichtsrat aus und bedankt sich devot bei Hermann Josef Abs, der wegen Senilität aus dem Aufsichtsrat scheidet.

Von der Art des Karl Doehring ist die Mehrzahl der anwesenden 2.000 Kleinkapitalisten, weniger als ein Prozent der 300.000 Siemens-Aktionäre. Für sie kann Weihnachten kaum schöner sein als eine Hauptversammlung der Siemens AG. Hier sitzt ihnen die Creme der westdeutschen Wirtschaftsführer als Aufsichtsrat leibhaftig gegenüber – Bayer-Chef Kurt Hansen, Mannesmann-General Egon Overbeck, Arbeitgeber-Präsident Otto O. Friedrich, Abs und Ulrich von der Deutschen Bank, Ernst, Hermann und Peter von Siemens aus dem mächtigen Familien-Trust. Und dazu gibt es Würstchen, Saft, Kaffee und Berliner gratis und zum Sattessen.

Aber so ganz ist die heile Welt der Klein- und Großaktionäre nicht mehr in Ordnung. Wegen der starken Strahlenbelastung und des hohen Sicherheitsrisikos durch Atomkraftwerke von Siemens bezichtigt Kleinaktionär Gerhard Döring den Vorstand der „bewussten Irreführung und ingenieurmäßigen Unverantwortlichkeit“, fordert, den Bau von Atomkraftwerken zu stoppen, und stellt den Antrag, dem Siemens-Vorstand die Entlastung zu verweigern. Mehrere Redner schließen sich dieser Argumentation und Forderung an.

Andere Aktionäre, die das Berufsverbot auch auf ihre kritischen Mitaktionäre anwenden möchten, reagieren mit „Hau ab!“ und „Aufhören!“, als der Freiburger Student Helmuth Flammer vom Siemens-Vorstand wissen will: „Wie hoch ist Ihr Umsatz mit Rüstungslieferungen? Wie sehen die Siemens-Erträge in Indonesien aus, wo in 300 Konzentrationslagern 150.000 Häftlinge einsitzen und für ausländische Konzerne nahezu Steuerfreiheit herrscht?“

Über die Siemens-Atomtechnik kommt Flammer nur bis zu dem Satz: „Ihr Beitrag zur Vernichtung unserer Existenz ist beachtlich.“ PvS unterbricht: „Wir haben genug von Ihnen gehört, machen Sie Schluss“, und lässt Flammer ohne Ton am Mikrophon.

Dann wird PvS blass: Als nächster auf der Rednerliste steht Josef Geue, einer von denen, die im Vorjahr das Podium stürmten und nach Anklage durch die Siemens-AG von einem Münchener Gericht zu einhundert Mark (wegen versuchter Nötigung) verurteilt wurden.

Bevor der PvS diesmal dem Geue das Mikrophon gibt, stimmt er die übrigen Aktionäre ein: Geue sei ein „Anführer der Cabora-Bassa-Opponenten“ und habe einen beleidigenden Gegenantrag zu dieser Hauptversammlung gestellt. Die beleidigende Stelle aus Geues Antrag an die Siemens AG: „Sie sind mitschuldig an der Intensivierung des Krieges in Tete (in Mozambique). Vorstand und Aufsichtsrat leisten Beihilfe zum Mord.“ Ähnliche „Beleidigungen“, so PvS, „werde ich hier nicht dulden.“

Und Siemens-Generaldirektor Bernhard Plettner assistiert: „Wir stellen Sie nur deshalb nicht noch einmal vor Gericht, weil die Publizität nur Ihnen zu Passe kommt.“ Der Cabora-Bassa-Staudamm sei „ein so schönes Objekt“.

Dann wieder PvS zu Aktionär Geue: „Nehmen Sie nun das Wort, aber nur wenn Sie Neues zu sagen haben.“

Geue zitiert eine Resolution der UNO-Vollversammlung gegen den Bau des Cabora-Bassa-Staudamms in Mozambique, der nur der Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung durch die Kolonialmacht Portugal diene. Miteigner Geue möchte von Vorstand und Aufsichtsrat seines Unternehmens wissen, ob „solche UNO-Beschlüsse für sie nichts bedeuten“, und ob es zutreffe, dass in „portugiesischen Siemens-Fabriken Arbeiterinnen für 4,50 Mark Tageslohn arbeiten“ müssten.

Vorsitzender PvS lässt Geue nicht ausreden: „Sie bringen uns hier nicht weiter. Sie haben genug geredet. Jetzt ist Schluss. Verlassen Sie das Rednerpult, sonst lass ich Sie aus dem Saal verweisen.“ Vier Siemens-Werkschützer drängen Geue sachte aus der Bütt.

„Außerdem“, so PvS über den Krieg in der Tete-Provinz, „lässt sich viel dafür und auch dagegen sagen.“

Nach dem ausdrücklichen Hinweis durch PvS, dass es „dem Vorstand gestattet ist, die Auskunft zu verweigern“, halten Plettner und Finanzchef Heribald Närger einschläfernde Referate zu Fragen der Aktionäre. Plettner hält zum Beispiel die Vorwürfe gegen die Verseuchungsgefahr durch Siemens-Atomkraftwerke „für nicht stichhaltig“. Der „Bevölkerungsschutz“ sei „bei keinem anderen Industriezweig sicherer“.

Knapper Sieg mit 99,88 Prozent

Das große Schauspiel Aktionärs-Demokratie beginnt, nachdem noch einige Aktionäre gegen die Überbesetzung des Siemens-Aufsichtsrats durch Vertreter der Deutschen Bank und der Allianz-Versicherung protestiert und Gegenkandidaten genannt hatten. Es wird abgestimmt.

Auf einer Riesen-Anzeigentafel aus der Siemens-Produktion erscheint das Ergebnis: 99,88 Stimmen für den vom alten Aufsichtsrat vorgeschlagenen neuen, 0,11 Prozent dagegen, 0,01 Prozent Enthaltungen. „Damit“, sagt PvS, „ist die Vorschlagsliste genehmigt, Gegenvorschläge erübrigen sich.“

Bei den anderen Abstimmungspunkten schwanken die Ja-Stimmen zwischen 99,99 und 99,84 Prozent. Familie Siemens, Deutsche Bank und Allianz haben eben Macht, Aktien-Pakete und Depots der Kleinaktionäre fest im Griff. Jede Volkskammer würde die Siemens-Herren um solche Ergebnisse beneiden.

Am nächsten Tag lese ich in Springers „Welt“, die Siemens-Hauptversammlung ist ruhig verlaufen. Stimmt. Die Siemens-Bosse haben eben von ihren Geschäftspartnern in Portugal, Brasilien und Indonesien dazugelernt.1


konkret. Monatszeitung für Politik und Kultur 14 vom 29. März 1973, 36 f.

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1 Siehe dazu auch das TAZ-Gespräch vom 4. August 1997 mit dem heutigen Bundesjustizminister Schmidt-Jortzig (FDP).